Einlass mit Hürde
Von Oliver Rast
Es ist eine Art Paywall für den Arztbesuch. Eine Zwangsabgabe, die der Kapitalboss Steffen Kampeter für gesetzlich versicherte Patienten lieber »Kontaktgebühr« nennt. Der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) will damit »eine stärkere Patientensteuerung herbeiführen«, erklärte er am Mittwoch im »Berlin Playbook«-Podcast von Politico – und das »Ärztehopping« begrenzen. Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK, konterte am Freitag via Pressemitteilung. Für viele kranke Menschen wäre eine solche Gebühr »eine untragbare finanzielle Belastung«, so Bentele.
Kampeters Vorstoß erinnert an eine Neuauflage der Praxisgebühr, bei der von 2004 bis Ende 2012 gesetzlich Versicherte zehn Euro pro Quartal zahlen mussten. Ein Eintrittsgeld für Haus- und Facharztpraxen, mit dem gleichfalls »unnütze« medizinische Konsultationen verringert werden sollten. Der Effekt? Gleich null – deshalb auch die Rücknahme der Gebühr.
Die Vorsitzende des Hausärzteverbands, Nicola Buhlinger-Göpfarth, warnte am Donnerstag gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: »Dieser Vorschlag der Arbeitgeber ist nicht nur unsozial, sondern auch komplett undurchdacht«. Ferner würde eine solche Gebühr zwingend notwendige Arztbesuche verhindern – mit schweren gesundheitlichen Folgen für die Patienten. Etwa weil Erkrankungen zu spät behandelt würden oder Vorsorgemaßnahmen nicht stattfänden. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz sprach gleichentags von einer »alten Leier« und erinnerte daran, dass die frühere Praxisgebühr keine Steuerwirkung hatte, dafür aber Menschen davon abhielt, rechtzeitig medizinische Hilfe zu suchen. Und nicht zuletzt sei der Verwaltungsaufwand für die Praxen als »Gebühreneintreiber« hoch gewesen.
Auch Verdi sieht in Kontaktgebühren keinen Beitrag zur besseren Steuerung von Patienten. Schlimmer noch: »Sie würden die soziale Schieflage in der medizinischen Versorgung weiter verschärfen«, sagte Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler am Donnerstag ZDF »Heute«. Besonders Menschen mit geringem Einkommen würden durch eine solche Gebühr systematisch benachteiligt – ein Befund, der durch Studien zur Inanspruchnahme medizinischer Leistungen bei Zuzahlungen gestützt wird. Und die Vorsitzende des Sozialverbands Deutschland (SoVD), Michaela Engelmeier, verwies darauf, dass beispielsweise Dialysepatienten und chronisch Kranke die Abgabe Dutzende Male im Jahr entrichten müssten – ein Umstand, der nicht nur gesundheitlich riskant, sondern auch ökonomisch irrational sei.
Offener für die Offerte des BDA zeigte sich Andreas Gassen. Grundsätzlich sei es notwendig, sich mit dem Thema Patientensteuerung zu beschäftigen, wurde der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) am Mittwoch im Ärzteblatt online zitiert. »Aber in dem Sinne, die Menschen dorthin zu bringen, wo sie richtigerweise mit ihrem gesundheitlichen Anliegen hingehören.« Und: »Selbstbeteiligungsmodelle« sollten kein Tabu sein.
Wie reagieren Parlamentarier auf die Extraabgabe? CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann verwies am Rande einer Klausurtagung in Mainz auf eine »Kommission«, die sich mit Themen der Krankenversicherung befassen würde. Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen beklagte vor allem aus dem Ruder laufende Ausgaben für Krankenhausversorgung und Arzneimittel – Bereiche, die strukturell reformiert werden müssten, statt die Versicherten mit Gebühren zu belasten.
Zwischendiagnose: Die Idee einer »Thekenabgabe« beim Arztbesuch ist zurück – als vermeintliches Steuerungsinstrument. Jetzt droht Patienten erneut: Hürde statt Hilfe.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in H.-J. Reiß aus Berlin (24. August 2025 um 18:27 Uhr)Das ist ein Krankengesundheitsunwesen – auch analog dem Staat ein Fall für die Notaufnahme, aber die SPD als Arzt hat sich selber angesteckt, von der CDU/CSU ganz zu schweigen. Überhaupt empfinde ich es bereits als Entmündigung – wie jüngst wieder erlebt – mit krankheits- oder Schmerzsymptomen, die fachärztlicher Natur sind, ob aus dem HNO- oder erst recht im Orthopädie-Bereich, erst eine Überweisung vom Hausarzt vorlegen zu müssen bzw. nur mit Termin behandelt zu werden. So erging es mir, dass ich mit Schmerz an einem künstlichen Hüftgelenk und Verdacht auf eine bakterielle Ursache infolge Sinusitis in der Orthopädiepraxis deshalb abgewiesen wurde, obwohl – vermutlich auch durch den Regentag bedingt – drei Stunden vor Sprechstundenschluss zu dem Zeitpunkt gerade mal zwei Patienten im Wartezimmer saßen. Mit dem Überweisungsschein wäre ich angenommen worden. Welch eine Entmündigung mit Bürokratie liegt hier vor. Mir wurde mal vor einiger Zeit gesagt, dass der bewusste Schein extra abgerechnet werden kann. Es scheint also auch ums Geschäft zu gehen. Als ich nun nach einer kurzen Debatte die Praxis, auch erregt, verließ, öffnete ich etwas schwungvoll die Tür, wobei die die Gipswand von der Klinke, die sich im rechten Winkel zur Tür befindet, ein Löchlein von drei cm Durchmesser bekam. Ein Türstopper hätte das verhindert. Nun soll ich die Reparatur bezahlen oder die Haftpflichtversicherung in Anspruch nehmen, was ich nicht einsehe. Was für ein Unrechtsstaat, wo die Opfer zu Tätern erklärt werden. Dazu Kurz und bündig, als auch fündig. So inhaltlich prägt dies Gesundheitswesen, Bizarr, wie wahr, ein Kasperletheater. Nur dank Humor selbst dran genesen. Die Pathologen als Berater.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich Hopfmüller aus Stadum (22. August 2025 um 20:30 Uhr)»Die Einführung der Praxisgebühr hat vermutlich zwar keinen direkten Effekt auf den Anteil der Personen mit mindestens einem Arztkontakt, doch kann davon ausgegangen werden, dass die Kontakthäufigkeit durch dieses Instrument beeinflusst wird. Dieses erste Ergebnis spricht dafür, dass vermutlich eine bisher unsystematische Mehrfachinanspruchnahme (Ärztehopping) durch die Notwendigkeit von Überweisungen eingedämmt werden konnte, gesundheitlich notwendige Arztbesuche aber weiterhin getätigt werden.« (Working Paper: Die Einführung der Praxisgebühr und ihre Wirkung auf die Zahl der Arztkontakte und die Kontaktfrequenz: eine empirische Analyse; https://www.econstor.eu/bitstream/10419/18357/1/dp506.pdf, Seite 5). Was spricht dagegen, eine Überweisung zu einem Facharzt zur Voraussetzung eines Kontaktes mit diesem zu machen, Stichwort: Weiter- oder Mitbehandlung? Eine Gebühr wie für den Brillenkontakt im Raststätten-WC wäre nicht erforderlich.
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