Manöver der Entspannung
Von Martin Weiser
Am 15. August feierte man auf beiden Seiten der koreanischen Halbinsel achtzig Jahre Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft. Im Süden hat es Tradition, dass der Präsident eine Rede hält, und Lee Jae Myung machte bereits mit seinem ersten Satz klar, wie er die Beziehungen zur Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK) wieder verbessern will. Ein Jahr zuvor hatte sein nun im Gefängnis sitzender Vorgänger Yoon Suk Yol sich explizit auch an die 26 Millionen Koreaner im Norden gerichtet, die laut Verfassung ebenfalls Teil der Republik Korea im Süden sind. Lee erwähnte sie nicht und schob dann Minuten später hinterher, man werde das politische System des Nordens respektieren und habe keinerlei Intentionen, sich gegenüber dem Norden feindlich zu verhalten.
Doch breits drei Tage später startete gemeinsam mit den USA das elftägige Militärmanöver »Ulchi Freedom Shield«, und die Demokratische Volksrepublik zeigte sich wie auch in der Vergangenheit keineswegs überzeugt, dass die Übung rein defensive Ziele verfolge. Dabei wurde die Hälfte der Manöver dieses Mal weit in den September verschoben, und man munkelte, Lee wollte damit den Norden beschwichtigen. Der offizielle Grund war das heiße Sommerwetter und die Notwendigkeit, die Verteidigungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Es gebe nicht genügend Soldaten, um gleichzeitig große Manöver abzuhalten und alles andere am Laufen zu halten.
Die Demokratische Volksrepublik goutierte diese Halbherzigkeit kaum, sie fordert seit Jahren grundsätzlich einen vollständigen Stopp der Übungen, keine Verkleinerung. Staatschef Kim Jong Un begutachtete wohl nicht aus Zufall am ersten Tag der Kriegsspiele einen Zerstörer und verurteilte die Manöver als Beweis der feindlichen Haltung von Lees neuer Regierung. Am nächsten Tag traf sich seine Schwester Kim Yo Jong dann mit Abteilungsleitern des Außenministeriums und legte nach. Lee Jae Myung werde den Lauf der Geschichte nicht verändern, sagte sie und verwies auf den Verteidigungs- und den Außenminister Südkoreas, die beide bei der obligatorischen Befragung durch das Parlament vor ihrer Vereidigung der Haltung zugestimmt hatten, dass der Norden offiziell der Feind Südkoreas sei. Was das für die Regierungspraxis bedeutet, ist noch unklar. Lees Wiedervereinigungsminister, der vor zwanzig Jahren bereits den Posten inne hatte und also bessere Zeiten kennt, wollte Lee hingegen nahelegen, die Militärübungen mit den USA auszusetzen oder wenigstens zu verkleinern.
Aber selbst wenn Lee Jae Myung gewollt hätte: dass er im Alleingang das diesjährige Militärmanöver aussetzt, wäre sehr unwahrscheinlich gewesen. Er ist erst seit Anfang Juni im Amt, sein Verteidigungsminister wurde am 25. Juli vereidigt. Und bisher gab es nur einen Präzedenzfall. 1992 hatten sich US-Präsident Georg Bush und sein südkoreanischer Amtskollege Roh Tae Woo auf den Stopp der »Team Spirit« Manöver verständigt, um Verhandlungen mit der DVRK über deren Atomprogramm voranzubringen. Stolz verkündete das südkoreanische Verteidigungsministerium damals, Seoul habe entschieden, die Kriegsspiele auszusetzen, die USA hätten zugestimmt. Ein souveräne Entscheidung klingt anders.
Am 25. August wird Südkoreas Präsident im Weißen Haus empfangen. Es bleibt zu hoffen, dass sich Trump nun mit erneuter Ermutigung aus dem Süden an sein Versprechen von 2018 halten wird und den Stopp der Militärübungen durchsetzt. Schließlich sei all das eine große Geldverschwendung, befand er damals.
Die Töne aus Pjöngjang legen nahe, dass man den möglichen Stopp der Manöver nicht auf das Konto von Lee verbuchen wird und sich ganz auf das Verhältnis mit den USA konzentrieren will. Die Bedingungen hierfür hatte Kim Yo Jong ebenfalls bereits per öffentlichem Statement klargestellt.
Am Ende könnte ganz einfach die geringe Geburtenrate in Südkorea dafür sorgen, dass sich die Armee in ein paar Jahren diese Eskapaden nicht mehr leisten kann. Binnen fünf Jahren fiel die jährliche Zahl der Neugeborenen um mehr als 100.000. Irgendwann wird dann jeder verfügbare Soldat gebraucht, um die Grenze zu sichern und zu verhindern, dass etwaige kommunistische Sympathisanten oder anderweitig am Norden Interessierte einfach ungehindert über die Grenze spazieren. Als Ahn Hak Sop (95) diese Woche den Übertrittversuchte, konnte man das noch verhindern.
Hintergrund:
Verspieltes Vertrauen
Seit 50 Jahren nun proben die USA und Südkorea gemeinsam den Kriegsfall auf der Halbinsel. Das erste »Team Spirit«-Manöver wurde 1976 abgehalten. 1992 fiel das jährliche Manöver überraschend aus. Die Demokratische Volksrepublik hatte während all der hochkarätigen Treffen der beiden koreanischen Staaten in den zwei Jahren zuvor dickköpfig darauf hingewiesen, wie zuträglich ein Ende der Kriegsspiele doch für Frieden und Verhandlungen sei. Man wollte sich sogar explizit mit nur zwei, drei Jahren Ruhe zufriedengeben. Was Roh Tae Woo, politischer Ziehsohn von Diktator Chun Doo Hwan, in seinen letzten Monaten als Präsident zu der Einsicht veranlasste, das Spektakel von Hunderttausenden Truppen plötzlich abzusagen, kann man nur vermuten. Es mag die Angst gewesen sein, dass ein Scheitern in den Verhandlungen dem linken Herausforderer Kim Dae Jung ins Amt hätte verhelfen können, der jahrzehntelang für eine Aussöhnung mit dem Norden eintrat. Im Dezember 1992 gewann dann der aus dem Lager von Roh ernannte Nachfolger mit acht Prozentpunkten Vorsprung.
Offenbar hatte sich die Regierung in Seoul mehr Konzessionen zum Atomprogramm erhofft. Bald schon verfiel sie wieder in das alte Muster der Abschreckungslogik. 1993 lief Team Spirit also wieder an, und Nordkorea verschärfte seine Rhetorik. Wenige Wochen später machte sich deswegen ein US-Kongressabgeordneter auf den Weg nach Pjöngjang, um Präsident Kim Il Sung die US-Sicht der Dinge nahezubringen, musste aber feststellen, dass Kim über diesen Verrat sichtlich und hörbar aufgebracht war. Um die Verhandlungen also nicht zu gefährden, stellte man »Team Spirit« kurzerhand ein. Es gab ja noch genügend andere Kriegsmanöver mit schönen Namen. Der Norden wiederum ließ sich im Gegenzug für die Aufgabe des eigenen Atomprogramms auf das Versprechen ein, sichere Leichtwasserreaktoren geliefert zu bekommen und normale Beziehungen zu den USA zu unterhalten. Beides passierte nicht, die Kriegsspiele liefen einfach unter anderem Namen weiter. Nach mehr als 25 Jahren ohne Lösung bestand die Schwester von Kim Jong Un im März 2021 darauf, dass jetzt endlich Schluss sein müsse mit all den Kriegsübungen. Wie schon damals nahm das aber leider keiner ernst. (mw)
Siehe auch
75 für 75
Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- picture alliance / SZ Photo04.07.2025
»Asien steht an der Elbe«
- World History Archive/United Archives/imago25.06.2025
Am Anfang war der Kolonialismus
- Alina Smutko/REUTERS10.04.2025
Jetzt sind es Chinesen
Mehr aus: Schwerpunkt
-
Der Sache treu geblieben
vom 23.08.2025