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Aus: Ausgabe vom 22.08.2025, Seite 11 / Feuilleton
Comic

Unsichtbare Zeugen

Die Graphic Novel »Der Abgrund des Vergessens« über ein Massengrab in Spanien erinnert an die von den Franquisten ermordeten Republikaner
Von Carmela Negrete
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Kultur der Verdrängung

Im Fokus ein Massengrab. Paterna in der Provinz Valencia: Hier wurde 1940 der republikanische Zivilist José Celda hingerichtet und verscharrt. Jahrzehnte später kämpft seine Tochter Pepica dafür, dass die sterblichen Überreste ihres Vaters würdig bestattet werden. Das ist die Geschichte der Graphic Novel »Der Abgrund des Vergessens« von Paco Roca, in Spanien einer der bekanntesten Comiczeichner, und dem Journalisten Rodrigo Terrasa.

Die Geschichte von Paterna ist erschütternd: Dort befinden sich 180 Gräber mit mehr als 2.000 Menschen, aus den umliegenden Gefängnissen und Lagern herangekarrt und hingerichtet. Eine zentrale Figur der Erzählung ist Leoncio Badía, ein Totengräber, der auf der Seite der Republikaner stand. Er machte es zu seiner Lebensaufgabe, die Ermordeten würdevoll zu begraben, und übergab den Hinterbliebenen kleine persönliche Gegenstände der Toten.

Visuell überzeugt Roca durch seine zurückhaltende, aber eindringliche Bildsprache. Die klar abgegrenzten Farbtöne dienen als symbolische Übergänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Terrasas Rechercheergebnisse hingegen lassen stellenweise zu wünschen übrig, insbesondere, wenn er versucht, das intime Familienschicksal in den größeren Rahmen der spanischen Erinnerungskultur einzubetten. Denn soviel steht fest: Pepicas Suche nach den Überresten ihres Vaters steht stellvertretend für die Geschichten zahlloser Familien, die bis heute keine Gerechtigkeit erfahren haben.

Die Graphic Novel ruft ein für die spanische Gesellschaft zentrales historisches Verbrechen ins Bewusstsein: Viele Opfer des Franco-Regimes, ihre Zahl wird auf 100.000 bis 150.000 geschätzt, verschwanden in Massengräbern. Dieses Trauma wurde gesellschaftlich lange verdrängt. Wesentliches bleibt in der Erzählung jedoch unerwähnt, etwa die deutsche Intervention im Bürgerkrieg, vor allem durch die Legion Condor, oder auch institutionelle Versäumnisse wie die bis heute wirksame Amnestiegesetzgebung oder die bürokratischen Hürden für Exhumierungen.

Im Comic ist von einem Putsch die Rede, ohne dass gesagt würde, wie entscheidend die ausländische Intervention für den Verlauf des Spanienkrieges war. Nazideutschland lieferte Waffen, Munition und Soldaten, vor allem aber sind die Flugzeuge der Legion Condor zu nennen, von denen aus deutsche Soldaten zahlreiche Städte bombardierten; ein Aspekt, der im Comic gar nicht erwähnt wird. An einigen Stellen ist von der Gewalt beider Seiten die Rede, von Opfern sowohl der republikanischen als auch der faschistischen Seite, ohne dabei herauszustellen, dass es die Republikaner waren, die die demokratisch legitimierte Regierung stellten. Andererseits wird erwähnt, dass die sterblichen Überreste der Soldaten der Blauen Division, die als Teil der Wehrmacht am Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion beteiligt war, zurückgeführt und ordentlich bestattet wurden.

Zu Beginn der Erzählung, es ist die Zeit unmittelbar nach dem Bürgerkrieg, wirkt es wenig glaubwürdig, dass Soldaten eines Erschießungskommandos nicht gewusst haben sollen, wie ihr Befehl lautete: die Häftlinge hinzurichten. Ebenso fragwürdig erscheint, dass im Falle des Massengrabes von Paterna angeblich ein lokaler Historiker durch die auffällige Diskrepanz von 26 Todesmeldungen gegenüber nur drei Geburtsmeldungen im Jahr 1940 auf dessen Existenz schloss. In den meisten Orten jedenfalls gab es damals keine detaillierte Dokumentation solcher Verbrechen.

Für Leserinnen und Leser mit forensischen Kenntnissen oder genaueren Wissen über die jüngere spanische Geschichte können solche Details störend wirken. Zahlreiche Kleinigkeiten, stimmen nicht mit den Bedingungen der tatsächlichen Ausgrabungen überein, etwa, dass Archäologen und Grabungshelfer sich im Comic über die schlechte Bezahlung beschweren. In Wirklichkeit haben sich viele von ihnen an solchen Projekten freiwillig und ehrenamtlich beteiligt. Gearbeitet wurde auch nicht wie am Tatort eines Verbrechens, sondern eher wie bei einer gewöhnlichen archäologischen Ausgrabung.

Diese Schwächen mindern jedoch nicht die emotionale Wucht der Erzählung. Sie richtet schonungslos den Blick auf den Zustand des postfranquistischen Spaniens, dessen zentrales Moment das Schweigen über die Verbrechen der Franco-Zeit war. In einer besonders eindrucksvollen Bildsequenz wird das als Metapher visualisiert: Das demokratische Spanien wurde »auf dem Vergessen aufgebaut«, die Massengräber, unsichtbare Zeugen einer verdrängten Vergangenheit, liegen unter den Spaniern.

Die Rezeption des Comics in Spanien fiel positiv aus: »El abismo del olvido« (so der Originaltitel) wurde mehrfach ausgezeichnet – als Werk, das einen verdrängten Teil der Geschichte ins Bewusstsein zurückruft und den Opfern ein Stück ihrer Würde zurückgibt.

Paco Roca, Rodrigo Terrasa: Der Abgrund des Vergessens. Aus dem Spanischen von André Höchemer, Reprodukt-Verlag, Berlin 2025, 304 Seiten, 34 Euro

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