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Aus: Ausgabe vom 22.08.2025, Seite 10 / Feuilleton
Rolf Dieter Brinkmann

Tod in der Westbourne Grove

Das Ende. Brinkmanns Brandflecken
Von Frank Schäfer
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Rolf Dieter Brinkmann und Ehefrau Maleen im März 1969

Im Sommer 1974 bekommt Brinkmann die Einladung, im April des nächsten Jahres beim 1. International Cambridge Poetry Festival zu lesen. Es ist die größte Auszeichnung seiner jungen Karriere und er freut sich darauf. Die Veranstalter bitten Brinkmann, ihnen einen Kollegen zu empfehlen, den sie überdies einladen sollen. Er nennt Jürgen Theobaldy, den er zuvor ein paar Mal in Köln getroffen hatte.

In den nächsten Tagen sind die beiden ständig zusammen. Brinkmann wohnt bei John James, der ihm Kontakt zu anderen englischen Dichtern wie Peter Riley und Andrew Crozier vermittelt. Theobaldy hat man zunächst in einem Studentenwohnheim untergebracht, aber schließlich zieht er auch zu James.

Brinkmann liest am Abend des 19. April neben John Ashbery, Lee Harwood und John James und am folgenden Nachmittag im Rahmen der Veranstaltung »Contemporary German Poetry« zusammen mit Erich Fried, Michael Hamburger, Reiner Kunze und Jürgen Theobaldy.

Brinkmann liest auf Deutsch und Englisch, und zwar vor allem Gedichte aus seinem bald erscheinenden Band »Westwärts 1 & 2«. Die englischen Fassungen hat ihm die Austin-Fraktion, also Hartmut Schnell, A. Leslie Willson und Christopher Middleton, übersetzt. Er stellt sich kurz vor. »I am coming from Cologne and Cologne is a dark industrial city with very little poetry in it every day. That perhaps makes my poetry very simple, the beauti­ful simplicity is a dream, this dream can’t happen. I’m glad to have the opportunity to read some of my poems here in Cambridge, although the environment around me – if I’m looking around with the throne behind me – is just not my style.« Damit erntet er seinen ersten Lacher.

Es folgen weitere bei der Ouvertüre – den Lyrics des Songs »Plane, Too« von Loudon Wainwright III. Erst danach kommt er zu den eigenen Gedichten. Er spricht ein teutonisches Englisch, hat das Publikum aber durchaus im Griff, liest mit Verve, manchmal vielleicht ein bisschen zu schnell, aber für seine Fast-Forward-Version von »Schlesingers Movie« bekommt er sogar Szenenapplaus. Die Lesung wird ein voller Erfolg, und die tags darauf nicht minder. In der anschließenden Diskussion geht er einmal mehr forsch zur Sache. Brinkmann ist so überwältigt von der Zugewandtheit des Auditoriums, dass er sich gleich im Anschluss aufgeregt mit Michael Hamburger bespricht und den Kollegen bittet, ihm eine Anstellung in England zu besorgen.

Theobaldy beschreibt Brinkmanns Gemütszustand in den letzten Stunden und Tagen als aufgewühlt. Die Ehe kriselt mal wieder, Honorar und Spesen sind längst aufgebraucht, aber er schmiedet auch Pläne, bittet etwa die Botschafterin, mit der die beiden zu Mittag essen, um Unterstützung bei einer Lesereise durch England. »Gemessen an seiner Lage erschien er mir eher stark, er wirkte weder verbittert noch trübsinnig«, konstatiert Theobaldy in seinem großartigen Erinnerungsstück »Bevor die Musik vorbei ist«. »Vielleicht gab ihm das Poetry Festival Kraft, das Treffen mit englischen Freunden, der Gedanke an die Lesereise, an das neue Buch.«

Es herrscht Aufbruchstimmung, das bestätigen seine Ansichtskarten an Kollegen und Freunde. Auf der Rückreise, in London, kommt er im Rhine Hotel unter. Theobaldy holt ihn am Abend des 23. Aprils dort ab. Sie teilen sich eine Flasche Bier und brechen schließlich auf, um italienisch essen zu gehen. Gegen zehn Uhr abends wollen sie die Westbourne Grove überqueren, eine der Hauptverkehrsstraßen des Stadtteils Bayswater, um kurz in den Pub »The Shakespeare« auf der anderen Straßenseite einzukehren. »Der stetig fließende Verkehr war durch eine Ampel irgendwo hinter uns unterbrochen worden, die Westbourne ­Grove schien frei zu sein. Ein paar Meter hinter Brinkmann trat ich ähnlich zügig wie er auf die Straße und erschrak über einen schwarzen Personenwagen: Er tauchte so plötzlich auf und glitt so nahe an mir vorbei, daß ich ihm unwillkürlich hinterhersah. In einem hellen Mantel, der fahl aus dem Halbdunkel leuchtete, das Gesicht zur anderen Straßenseite gerichtet, prallte Brinkmann gegen das Auto, dessen Fahrer weder zu bremsen noch auszuweichen versuchte. Es gibt wohl keine Wörter dafür, die Wucht zu schildern, mit der Brinkmann in die Höhe gerissen und auf den Asphalt zurückgeschmettert wurde … ›I think, he is dead‹, sagte eine Frau, die zusammen mit ihrem Begleiter hinter uns dahergeschlendert war und schon Sekunden nach dem Unfall neben Brinkmann niederkniete. Sein Gesicht sah friedlich aus, noch friedlicher als das eines Schlafenden.«

Wo warst du, als Brinkmann vors Auto lief?

*

Auch ich komme aus dem Moor, dem Viehmoor

die Stadt des KdF-Wagens hinter mir gelassen

die schwarzgrauen Spargelbeete morgens um 5

*

Hinter den Bahnschienen der Waldbrand 1975

in der Tagesschau, Wasserbomber aus Kanada

für ein paar Feuerwehrmänner trotzdem zu spät

*

Ganz früher Heavy Metal drüber und drüber gewalzt

und trotzdem auf Popper-Partys die letzte Viererreihe

Tanzschule Giebel, Damenwahl, die große Schmach

*

das Maislabyrinth, Kings »Children of the Corn«,

aber das Aufbegehren gegen die Eltern, das hatten

die großen Brüder und Schwestern längst erledigt.

*

Die Fahndungsfotos in der Postfiliale, dicke Backen

machen gegen das Establishment, Angst hatten wir

trotzdem … »Baader kommt ganz groß in Mode«.

*

Und dann diese 10jährige, die allen so tief erschien

wie eine Heilige oder wenigstens Zen-Buddhistin

in der wievielten Inkarnation, einfach nur weil sie

*

ein Mädchen war … Die zehn Mark fürs Schützenfest

ergaben zwanzig Fahrten Autoscooter, roundabout

und inflationsbereinigt. Und eine Runde Schießbude.

*

Für den Großen Bären reichte es nie, die Rose schon

eher, die Schaustellerjungs hatten uns tags zuvor noch

Schläge angedroht. »Lasst euch nicht mit denen ein!«

*

Als Brinkmann in London vors Auto lief, ging ich mit

Carmen vom Schützenfest nach Hause, Hand in Hand,

und hielt Udo Lindenberg für einen großen Dichter.

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