»Wir orientieren uns an der Arbeiterklasse im Land«
Von Thorben Austen, Guatemala-Stadt
Ihre Gewerkschaft Sindicato de Trabajadores de Embotteladora Central S. A. (Gewerkschaft der Arbeiter der Abfüllwerke) des Coca-Cola-Unternehmens in Guatemala feiert im August ihr 50jähriges Bestehen. Die Gründung 1975 fiel in die Zeit von Diktatur und Bürgerkrieg. Wie kam es damals dazu und unter welchen Bedingungen konnten Sie arbeiten?
William Estrada: Mein Vater war damals einer der Gründer der Gewerkschaft. Er zog 1972 mit 16 Jahren von unserem kleinen Dorf im Landkreis San Juan Sacatepéquez auf der Suche nach Arbeit in die Hauptstadt. Nach zwei Jahren als Gehilfe bei einem Lkw-Fahrer begann er bei Coca-Cola. Der Besitzer des Werkes war ein US-Bürger, die Bedingungen waren wirklich inhuman. Ständig stieg die Arbeitszeit, es gab strenge Regeln, kaum Pausen. 1975 beschloss das Unternehmen dann noch, die Gehälter um 25 Prozent zu senken, um noch mehr Gewinn rauszuholen. In kleinen Gruppen begannen die Kollegen zu diskutieren, was zu tun sei. Plötzlich sagte einer, mein Bruder arbeitet in einem Unternehmen, dort gibt es eine Gewerkschaft. Beim CNT (Central Nacional de Trabajadores), die damals noch mehr oder weniger legal arbeiten konnte, holten sich die Kollegen dann Informationen. Der Anwalt Enrique »Quique« Torres und die Anwältin Marta Gloria de la Vega waren die ersten, die die Kollegen damals über Arbeitsrechte informierten. An beide erinnern wir hier in unserem Gewerkschaftssitz, sie waren sehr wichtig für uns. De la Vega musste 1980 ins Exil nach Kanada gehen, wo sie heute noch lebt. Der Tag der Anmeldung der Gewerkschaft war nach unseren Informationen der 11. August 1975, am 8. April 1976 erfolgte die offizielle Anerkennung. Bis dahin verlief alles geheim.
Wie reagierte das Unternehmen?
W. E. Zwischen 1978 und 1980 wurden drei unserer Generalsekretäre und fünf weitere Mitglieder ermordet. Wichtig zu erwähnen ist vor allem der Fall unseres Generalsekretärs Marlon Mendizabal. Er war Vorarbeiter, direkt der Geschäftsführung unterstellt, aber nachdem er die Bedingungen gesehen hatte, unter denen die Kollegen arbeiteten, kam er zur Gewerkschaft und wurde unser Generalsekretär. Am 27. Mai 1980 wurde er beim Verlassen des Werksgeländes mit 27 Schüssen regelrecht hingerichtet. Zwei unserer Mitglieder verschwanden am 1. Mai 1980, nachdem sie auf der Demonstration Flugblätter unserer Gewerkschaft verteilt hatten. Ihre Leichen fand man am nächsten Tag in der Nähe ihrer Wohnorte, sie wiesen deutliche Folterspuren auf. Beide kamen nicht aus der Hauptstadt, man hat sie in ihre Wohnorte gefahren und zur Einschüchterung dort abgelegt. Am 21. Juni 1980 wurde unser Mitglied Edgar René Aldana auf dem Werkgelände ermordet. Wir vermuten, es war ein Irrtum, er hatte sich am Morgen wegen der Kälte die Jacke unseres Generalsekretärs geliehen und wurde erschossen, als er die Werkshalle verließ. Am Abend des Mordes gab es ein Treffen verschiedener Gewerkschaften, um darüber zu beraten, was wegen des Attentats zu tun sei. Alle 21 Anwesenden, darunter zwei weitere unserer Mitglieder, wurden entführt und tauchten nie wieder auf. Danach stellte auch der CNT seine bisher noch legale Arbeit ein und ging in den Untergrund. Damals eskalierten der Bürgerkrieg und die Repression.
Wurden die Morde aufgeklärt?
W. E. Nein. Es gab Hinweise, dass die Unternehmensleitung direkt die Morde in Auftrag gab, aber juristisch beweisen konnten wir das nicht. Damals eskalierte die Repression, es gab Hunderte Morde an Gewerkschaftern und politisch Aktiven.
Wie ging es dann weiter?
W. E. Etwa ab 1985 konnten wir wieder legal arbeiten und seither 29 Tarifverträge aushandeln, die zu den besten des Landes gehören.
Was beinhalten die Verträge und wie sind die Arbeitsbedingungen?
W. E. Die Arbeitszeiten von 44 Wochenstunden werden exakt eingehalten, die Nachtarbeit beläuft sich auf maximal sechs Stunden pro Schicht. Alle Arbeiter haben die staatliche Krankenversicherung und genießen Rentenanspruch, außerdem wird eine Betriebsrente gezahlt, je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit zehn, zwölf oder 15 Jahre lang. Wir konnten 2022 durchsetzen, dass erstmals Frauen eingestellt wurden, heute arbeiten 36 Frauen im Betrieb. Durch formellere Arbeitsabläufe konnten wir 22 weitere Stellen schaffen. Wir haben Mitbestimmungsrecht bei Einstellungen und müssen bei Entlassungen zustimmen. Das tun wir nur bei groben Vergehen wie Diebstahl, unentschuldigtem Fehlen länger als drei Tage und Alkoholkonsum in der Arbeitszeit. Letzteres kommt leider häufiger vor, selbst bei Lkw-Fahrern. In den neun Coca-Cola-Standorten in Guatemala haben wir 1.130 Mitglieder, das ist ein Organisationsgrad von 98 Prozent.
Alles, was Sie schildern, wirkt um so bedeutender, wenn man sich die sonstige Lage in Guatemala anschaut. Im privaten Sektor kaum noch Gewerkschaften, kaum Kündigungsschutz, schlechtes Lohnniveau. Wie konnten Sie so gute Tarifverträge durchsetzen?
Edgar Cruz: Ich denke, vieles liegt an unserer Standhaftigkeit. Wir orientieren uns ausschließlich an den Interessen der Arbeiter in unserem Unternehmen und der Arbeiterklasse im Land. Wir haben Statuten, die unsere Arbeit regeln. Wir haben neun freigestellte Funktionäre im Exekutivkomitee, wir werden alle zwei Jahre gewählt. Eine Wiederwahl ist zwar möglich, aber nicht auf dem gleichen Posten. Ich bin aktuell Generalsekretär, auf diesem Posten kann ich jedoch nicht wiedergewählt werden. Der Regelfall ist auch eher, dass wir nach zwei Jahren wieder normal im Betrieb arbeiten. Unsere Statuten regeln ganz klar: Wer die Arbeiter schlecht vertritt, bei den wöchentlichen Schulungen, Demonstrationen oder gar Streiks fehlt, hat mit Sanktionen innerhalb der Organisation zu rechnen. In anderen Betrieben haben die Kapitalisten ganze Belegschaften entlassen oder sich von den Gewerkschaften regelrecht freigekauft, das war mit uns nicht zu machen. Unsere Statuten regeln im Abschnitt »Ehre und Gerechtigkeit« ganz klar unser Verhalten als Gewerkschafter. Egoistisches, an privatem Interesse orientiertes Verhalten wird nicht geduldet. Das sind wir auch unseren ermordeten Genossen schuldig.
Gerade bei Gewerkschaften im öffentlichen Dienst hat es den Anschein, als sei diese Standfestigkeit abhandengekommen, sie gelten als korrupt und von individuellem Interesse geleitet, teilweise als Verbündete ultrarechter Kräfte. Vor allem in der Kritik steht die Lehrergewerkschaft Stec und deren langjähriger Vorsitzender Joviel Acevedo. Wie beurteilen Sie Aktivitäten der Stec?
E. C. Also zunächst einmal muss man fragen, wer sorgt für dieses Bild? Das sind die Medien. Wem gehören die Medien? Wir werden die Statuten der Stec respektieren und uns nicht einmischen, das gilt auch in bezug auf den Kollegen Acevedo, der ist gewählt. Sicher, es gibt die Fälle, in denen Gewerkschafter im öffentlichen Dienst ihr Klassenbewusstsein verloren haben. Im Falle der Stec ist es auch ein Problem, dass der Staat der Boss ist, es also auch um Steuergelder geht. Da fällt es leicht, die Forderungen als nicht gerechtfertigt und überzogen darzustellen. Dazu kommt, dass die Tarifverhandlungen der Stec nicht öffentlich sind, keiner weiß, was da wirklich drinsteht. Acevedo verhandelt hinter verschlossenen Türen mit dem Bildungsministerium oder gleich mit Präsident Bernardo Arévalo. Ich sehe aber die Gefahr, dass über eine im Volk unbeliebte Gewerkschaft der Angriff auf die Gewerkschaften generell geführt wird, dazu zählt auch der Polizeieinsatz gegen das Protestcamp der Stec vor dem Kongress vor ein paar Wochen. Gewerkschaftliche Freiheit ist für uns nicht verhandelbar.
Nun ist es aber so, dass im privaten Sektor bis auf wenige Ausnahmen die gewerkschaftliche Freiheit nicht mehr existiert. Wie wollen Sie hier wieder Gewerkschaften aufbauen?
E. C. In erster Linie durch die Schaffung von Klassenbewusstsein, wie wir es zum Beispiel bei unseren Schulungen machen, gerade bei jungen Leuten. Da muss klar werden, hier sind wir, die Arbeiter, und da sind die anderen, die Kapitalisten. Die Kapitalisten sind keine Wohltäter, die Arbeitsplätze schaffen, sondern eben Kapitalisten, die von unserer Arbeit reich werden. Das Problem ist: Sind Gewerkschaften aus einem Unternehmen erst einmal verschwunden, ist die Neugründung schwer. Die Kapitalisten vermitteln den Eindruck, als wäre es verboten, Gewerkschaften zu gründen, auch wenn dies nach guatemaltekischem Recht nicht zutrifft. Sie drohen den Arbeitern – bist du mit bekannten Gewerkschaftern verwandt, wirst du nicht eingestellt, im Personalbogen musst du angeben, ob du oder auch Verwandte Mitglied in einer Gewerkschaft sind. Wichtig wären aber zum Beispiel Gewerkschaften in den Maquilas, den Fabriken für Bekleidungsproduktion für den Weltmarkt. Dass mehr als 70 Prozent der Guatemalteken ohne jegliche soziale Absicherung im informellen Sektor arbeiten, macht es für Gewerkschaften auch nicht leichter.
Die aktuelle Regierung des Sozialdemokraten Bernardo Arévalo wird im Januar die Hälfte ihrer Amtszeit beendet haben. Wie ist Ihre Bilanz aus gewerkschaftlicher Sicht?
E. C. Als Arévalo Präsident wurde, waren wir erst einmal optimistisch. Wir haben die Situation der Massenproteste für seine Amtseinführung genau beobachtet und waren auch präsent, als er von denen angegriffen wurde, die einen Regierungswechsel verhindern wollten. Heute aber sehen wir keine signifikanten Veränderungen, und wenn wir ehrlich sind, erwarten wir die auch nicht mehr. Wir denken, Arévalo ist es nicht gelungen, die systemische Korruption im Staatsapparat wirklich zu bekämpfen, da hätte er früher ansetzen müssen. Jetzt geht es nur noch darum, seine Amtszeit ohne einen vorherigen Sturz heil zu überstehen. Manches in den Tarifverhandlungen ist aber sogar schwerer geworden. Demnächst trifft sich die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) mit Regierungskreisen hier in Guatemala, da sind wir auch eingeladen. Wir beobachten die Situation genau, wir werden aber nicht zulassen, dass wieder eine Regierung an die Macht kommt, die fundamental gegen die Interessen der Arbeiterklasse arbeitet.
Wie begehen Sie Ihr Jubiläum zum 50. Jahrestag der Gründung?
W. E. Mit zahlreichen kulturellen und sportlichen Aktivitäten hier in der Hauptstand und in den Standorten, letztes Wochenende war ein großes Familienfest in Escuintla an der Costa Sur. Ende und Höhepunkt wird die Einweihung eines Platzes der Märtyrer am 29. August hier an unserem Sitz am Rande des zentralen Coca-Cola-Werkes in der Hauptstadt sein. Dort werden dann acht Büsten im Gedenken an unsere ermordeten Genossen enthüllt.
William Arnulfo Estrada Paredez (links) ist Mitglied des Beirats des Sindicato de Trabajadores de Embotteladora Central S. A. (Stecsa) und seit 25 Jahren Mitglied der Gewerkschaft, Edgar Giovanni Cruz Berttrám ist Generalsekretär der Stecsa und seit 28 Jahren Mitglied der Gewerkschaft.
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