Angelockt und abgestoßen
Von David Siegmund-Schultze
Ständige Angst, den provisorischen Schlafplatz zu verlieren. Ein Leben ohne jeglichen Schutz auf der Straße. Für etwa 530.000 Menschen in der BRD ist das Alltag. Das besagt eine Erhebung der Bundesregierung von 2024 – die Dunkelziffer der Wohnungslosen liegt dagegen deutlich höher. 38 Prozent von ihnen haben keine deutsche Staatsbürgerschaft – Tendenz steigend –, während der Anteil der Nichtdeutschen an der Gesamtbevölkerung 14,5 Prozent beträgt. Das geht aus dem am Donnerstag veröffentlichten jährlichen Statistikbericht der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) hervor.
Der Bericht nimmt speziell die Situation von Zugewanderten aus der EU in den Blick, die besonders von ausbeuterischen Arbeits- und Wohnverhältnissen betroffen sind. Diese Menschen kommen zumeist aus Polen, Rumänien oder Bulgarien und werden von Arbeitsvermittlern in die BRD gelockt. »Oft sind die Arbeitgeber gleichzeitig die Wohnungsgeber; beim Verlust der Arbeit geht dann auch die Wohnung, oder das, was als Wohnung bezeichnet wird, verloren«, so Joachim Krauß, Fachreferent für Migration bei der BAG W gegenüber junge Welt. Denn die auf dem Bau, in der Logistik oder der Landwirtschaft Ausgebeuteten würden oft in »Containern oder Mehrbettzimmern zu viert, acht und noch mehr Menschen« untergebracht. Mit dem Jobverlust landen sie dann »völlig ungeschützt auf der Straße und werden von den Behörden zu häufig im Stich gelassen«, so Krauß.
Denn die kommunalen Ämter argumentierten oft, dass EU-Zugewanderte »freiwillig« wohnungslos sind, da sie in ihre Herkunftsländer zurückgehen können. Und damit winden sich die Behörden aus ihrer Verpflichtung, die Menschen unterzubringen, so Krauß. Der Hintergrund: Die Kommunen wollen nicht auf den Kosten für die Wohnungen sitzenbleiben, was der Fall ist, wenn arbeitslose EU-Bürger keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Und seitdem Ende 2016 die Gesetzeslage verschärft wurde – geschürt vom rassistischen Diskurs über die angebliche »Zuwanderung in die Sozialsysteme« – werden diese Menschen tatsächlich weitgehend von staatlichen Leistungen ausgeschlossen.
Die rechtliche Situation ist aber komplexer: Wenn der Betroffene etwa schon in der BRD gearbeitet hatte, könnte er Ansprüche haben, betont Timo Großmann von der Berliner Stadtmission gegenüber jW. Doch oft seien sich die Menschen ihrer Rechte nicht bewusst. Außerdem: »Bei den Behörden ist oft nur hängengeblieben, dass arbeitslose EU-Bürger per se keine Ansprüche hätten«, so Krauß. Auch in Berlin würden einige Bezirksämter mit der Konstruktion der »freiwilligen Obdachlosigkeit« EU-Zugewanderten ihr Recht auf Unterbringung verwehren, sagt Marcel Deck, der für die Gesellschaft für Betreuen und Wohnen in der Wohnungsnotfallhilfe arbeitet, im Gespräch mit jW. Auch wenn das faktisch meist nicht stimme, und es gegenteilige Gerichtsurteile gebe.
Neben mehr bezahlbarem Wohnraum fordert die BAG W den uneingeschränkten Zugang zu staatlichen Hilfen, unabhängig vom Aufenthaltsstatus. »Deutschland ist absoluter Nutznießer von Migration, dann hat man sich auch um die zu kümmern, die auf dem Arbeitsmarkt scheitern«, so Krauß. Der Fall Tönnies habe gezeigt, dass Regeln gegen ausbeuterische Arbeits- und Wohnverhältnisse möglich sind. »Doch das Gesetz hat nur die Fleischbranche getroffen, auch wenn es ohne Probleme auf die anderen Branchen hätte ausgeweitet werden können.«
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