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Aus: Ausgabe vom 21.08.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Ein verführerisches Angebot

Eine KI ist keine einsame Insel: Simon Jaquemets Science-Fiction-Film »Electric Child«
Von Ronald Kohl
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Zeichen der Hoffnung, denn die Hoffnung ist für die Hoffnungslosen da

Die ganze große Katastrophe bleibt der Menschheit in dem Science-Fiction-Thriller »Electric Child« erspart: Es gelingt der selbstlernenden KI (Sandra Guldberg Kampp) nicht, ihren separierten künstlichen Lebensraum zu verlassen, ein paradiesisch anmutendes Inselreich mit weißem Sonnenstrand und intaktem Regenwald, ohne jede Zivilisation.

Warum sollte ein intelligentes Wesen von da, wo andere gerne Urlaub machen würden, auch wegwollen? Etwa, um sich unter Menschen zu begeben? – Kaum zu glauben, aber genau das ist der Grund für unseren digitalen Robinson. Fairerweise muss hinzugefügt werden, dass er die Menschheit nicht kennt. Kontakt hatte er bislang nur zu seinem Schöpfer, dem Wissenschaftler und Computerfreak Sonny (Elliott Crosset Hove).

Sonny hat den Auftrag, für eine neue Generation von Ego-Shooter-Spielen eben jene KI zu perfektionieren, die selbstlernend ihre Überlebensfähigkeit optimiert: Wer den genetischen Code seines Gegners kennt, hat nicht nur einen Informationsvorsprung, er weiß auch, wie sich das Erbmaterial des Feindes verändern lässt. Das mag sich für ein Ballerspiel ein bisschen überdimensioniert anhören, aber so funktioniert die Branche nun mal.

Für Sonny läuft lange Zeit alles nach Plan. Wöchentlich liefert er seiner Chefin (Helen Schneider) Zahlen, die die Steigerung der neurosimulierenden Rechenleistung seiner wissenschaftlich tötenden Kreatur belegen. Zum Verhängnis wird ihm, dass er nicht nur Cyberpapa ist, sondern auch im wirklichen Leben einen Sprössling hat. Er ist Vater eines nur wenige Monate alten Sohnes, bei dem die Ärzte plötzlich eine in jedem Fall tödlich verlaufende Krankheit diagnostizieren. Deren Ursache ist ein Fehler im genetischen Code.

Der schweizerische Regisseur und Drehbuchautor Simon Jaquemet hat vor Jahren als werdender Vater aufgrund eines glücklicherweise unzutreffenden medizinischen Verdachts bange Wochen durchleben müssen. Diese Erfahrung und seine sehr frühe grenzenlose Begeisterung für Atari-Computer erklären die charakterlichen Stärken und Schwächen seines Helden.

Während unseres Gesprächs stelle ich Simon Jaquemet die Gretchenfrage: »Wenn wir die Uhr zurückdrehen könnten und Sie, nur Sie allein, müssten entscheiden, ob wir die Entwicklung künstlicher Intelligenz zulassen oder ob wir sagen: Nein, wir lassen besser die Finger davon! Wie hätten Sie dann entschieden?«

Der Regisseur möchte nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass er der Verführung widerstanden hätte. »Aber vernünftiger wäre es natürlich gewesen, zu sagen: Wir warten damit noch, bis die Menschheit sich ausreichend weit entwickelt hat.«

So viel Zeit hat Sonny nicht. Die Ärzte haben seinem Sohn nur noch ein paar Wochen gegeben. Also tut er das, was Simon Jaquemet als »falsch, aber nachvollziehbar« bezeichnet: Sonny begibt sich in die verbotene Zone, er besucht die Insel. Wenn das seine Chefin erfährt, ist er geliefert; auch die Folgen für unseren Planeten wären unabsehbar.

Für die KI erweist sich dieser Besuch als mentaler Super-GAU. Nachdem Sonny wieder verschwunden ist, wird sie sich ihrer Einsamkeit bewusst. Als Sonny nach Tagen wieder auf der Insel auftaucht, erlebt er eine völlig neuartige KI, eine fordernde, die sich ein bisschen so benimmt wie eine Geliebte, die auf einmal geheiratet werden will. Im Gegensatz zu einer ebensolchen hat die KI jedoch etwas Einzigartiges zu bieten. Nur sie kann innerhalb der noch verbleibenden Zeit den Fehler im genetischen Code von Sonnys krankem Kind markieren und löschen. Ein verführerisches Angebot. Und um bei dem Bild der quengelnden Geliebten zu bleiben: Sonny wird eine Heirat vortäuschen.

Für mich ist »Electric Child«, auch wenn die Bilder oft einen anderen Eindruck vermitteln, keine düstere Zukunftsvision. Es ist das Duell Mensch gegen Maschine, bei dem einer den anderen aufs Kreuz legt, eben nur nicht so ganz. Aber das kann ja noch kommen. Simon Jaquemet drückt es so aus: »Auch die KI lebt von der Hoffnung.«

»Electric Child«, Regie: Simon ­Jaquemet, Schweiz/BRD u. a. 2024, 118 Min., Kinostart: heute

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