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Aus: Ausgabe vom 21.08.2025, Seite 8 / Inland
»System Change Camp«

»Ihr Problem ist, dass wir den Kapitalismus hinterfragen«

»System Change Camp« in Frankfurt am Main: FDP sieht Antisemitismus. Ein Gespräch mit Paula Fuchs und Sebastian Blessing
Interview: Ben Francke, Frankfurt am Main
System Change Camp FFM 2025 (c) Ben Francke (1) Kopie.jpg
Debatten unter freiem Himmel und Zeltdächern

Im Frankfurter Grüneburgpark findet derzeit das »System Change Camp« statt. Frank Maiwald von der FDP wirft Ihnen auf der Onlineplattform Instagram »Antisemitismus« vor und behauptet, von Ihnen würde eine Gefahr für die nahe gelegene Synagoge ausgehen. Wie reagieren Sie auf solche Vorwürfe?

Paula Fuchs: Die FDP hat nicht wirklich ein Problem mit uns, weil sie glaubt, dass wir eine Gefahr darstellen. Ihr Problem ist, dass hier Tausende Menschen im Zentrum Frankfurts zusammenkommen und kapitalistische Ideen in Frage stellen. Dagegen richtet sich ihre Diffamierung. Wir finden diese Vorwürfe fürchterlich. Israel und Palästina ist ein komplexes Thema, und in einem Camp dieser Größe kann es zu Spannungen kommen. Klar ist aber: Wir dulden keinen Antisemitismus. Niemand hier verfolgt die Absicht, jüdischen Menschen oder Einrichtungen zu schaden. Zugleich sehen wir, dass solche Vorwürfe zunehmend genutzt werden, um palästinasolidarische Bewegungen zu diskreditieren. Deshalb muss man genau hinschauen: Geht es um Antisemitismus oder darum, Kritiker des Völkermords mundtot zu machen?

Das ist allerdings nicht das Hauptthema auf dem Camp. Welches System wollen Sie überwinden?

Sebastian Blessing: Die Klimakrise verschärft sich, während der Kapitalismus immer mehr Leid und Ausschluss produziert. Unser Ziel ist es, eine solidarische Gesellschaft aufzubauen, in der die Bedürfnisse aller Menschen berücksichtigt werden. Wir wollen genau das ausprobieren – in einem utopischen Zusammenleben, in dem wir lernen und neue Formen des Zusammenhalts erproben.

P. F.: Oft wird uns vorgeworfen, wir würden damit den Boden der Verfassung verlassen. Tatsächlich kämpfen wir aber gerade für die Werte, die dort festgeschrieben sind – für Menschenwürde, für Schutz vor Diskriminierung und für Gleichheit. Wir verstehen uns klar als demokratische Kräfte.

Wie erleben Sie die Tage vor Ort?

S. B.: Das Camp hat einen vielfältigen Tagesablauf. Wir teilen uns die Verantwortung für Infrastruktur und Alltagsaufgaben, damit das Zusammenleben funktioniert. Jeden Tag fallen ungefähr 300 Aufgaben für die Camporganisation an, die gemeinsam gestemmt werden müssen. Daneben gibt es ein breites Programm mit insgesamt mehr als 300 Workshops und Vorträgen. Dabei geht es nicht nur um Klima, sondern auch um Themen wie Antimilitarismus. Gruppen können Debatten führen und sich vernetzen. Wir erwarten rund 1.500 Teilnehmende im Laufe der Tage.

Sie haben nach Konflikten im vorigen Jahr »rote Linien« für den Umgang im Camp formuliert. Was ist passiert?

S. B.: Das hängt mit dem Camp in Erfurt im vergangenen Jahr zusammen. Kurz nach den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 war uns klar, dass es Konflikte geben würde. Allerdings haben wir es nicht geschafft, genügend Räume für produktive Diskussionen bereitzustellen. In diesem Jahr gibt es eigens für diese Debatten geschaffene Zelte, in denen ein angemessener Austausch sichergestellt wird. Außerdem stehen Konfliktmediatoren zur Verfügung. Respekt ist oberstes Gebot, auch wenn Diskussionen schmerzhaft sein können.

Warum sind Bereiche des Parks abgesperrt?

P. F.: Das wurde nicht von uns, sondern vom Grünflächenamt veranlasst. In den Vorgesprächen war davon nie die Rede. Am ersten Abend stellten sie plötzlich Bauzäune auf – sehr zum Ärger der Anwohner. Ein Teil betrifft ein Biotop, dessen Schutz wir nachvollziehen können. Unverständlich ist jedoch die Sperrung der Spielplätze, die wir für die Kinderbetreuung nutzen wollen. Wir sehen darin eine politische Strategie, uns zu stigmatisieren, indem suggeriert wird, wir würden Biotope zerstören oder Spielplätze vermüllen, was völlig absurd ist.

S. B.: Ironischerweise spielen die Kinder der Anwohner jetzt oft bei uns im Camp, weil wir Spielsachen und Betreuung haben – während die Stadt die Spielplätze für sie gesperrt hat.

Paula Fuchs und Sebastian Blessing sind im Presseteam des »System Change Camps«, das noch bis 26. August in Frankfurt am Main stattfindet

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