Rotlicht: Etatismus
Von Marc Püschel
Als Ernst Ferdinand Klein, einer der bedeutendsten Juristen der Aufklärung und hauptsächlicher Verfasser des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten, 1810 auf dem Sterbebett lag, soll er auf die Frage, woran er denke, geantwortet haben: »An den Staat!«
Diese Anekdote ist später oft herangezogen worden, um damit die Herausbildung eines »preußischen Etatismus« zu veranschaulichen. Doch mit dem Militarismus der wilhelminischen Epoche, in der auch in den Köpfen ziviler Beamter Stechschritt herrschte, hat Klein, der es mit einem aufgeklärten Universalismus hielt, nur bedingt zu tun.
Die Diskrepanz verweist auf die Unbestimmtheit des Begriffs Etatismus. Der aus dem Französischen (l’état, der Staat) abgeleitete Ausdruck meint etwas wie Staatsgesinnung oder Staatsfokussierung, also eine Weltanschauung, in der der Staat eine zentrale Rolle einnimmt. Unter dieser vagen Definition lässt sich allerdings fast alles subsumieren: Absolutismus, französischer Revolutionsstaat, Bonapartismus, deutsches Kaiserreich, Sozialismus, Faschismus und selbst sozialdemokratische bzw. keynesianische Wohlfahrtsstaaten. Im Kemalismus, der Ideologie des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, wird Etatismus sogar explizit als einer von sechs Grundpfeilern verstanden. Als etatistisch lassen sich zahlreiche junge Nationalstaaten des 20. Jahrhunderts verstehen, und ebenso auch alte in neuer Verfassung, etwa Frankreich unter Charles de Gaulle.
Das Problem des Begriffs liegt also darin, dass er eine rein formale Bestimmung gibt, ohne festzuhalten, auf welchen konkreten Inhalt er bezogen ist. Dabei ist ein Staat, in dem das Militär alle Bereiche des Lebens dominiert, ein anderer als einer, der sich vor allem über seine Kontrolle der ökonomischen Sphäre definiert. Etatismus kann die Stärkung einer Zentralgewalt gegenüber föderalen Strukturen ebenso bedeuten wie Eingriffe in die Wirtschaft oder Überwachung und Zensur von Meinungsäußerungen.
Von der objektiven Bestimmung, ob ein bestimmter Staat etatistisch ist oder nicht und in welcher Hinsicht, lässt sich die subjektive Haltung unterscheiden. In der Arbeiterbewegung wurde etwa Ferdinand Lassalle des Etatismus geziehen, da aufgrund seiner Theorie des »ehernen Lohngesetzes« – demzufolge der Lohn im Kapitalismus immer nur zum notwendigen Lebensunterhalt hinreicht – die Arbeiter und die Gewerkschaften nicht imstande sind, mittels Arbeitskämpfen ihren Lebensstandard zu heben. Lassalle schreibt allein dem Staat die Fähigkeit zu, dies zu gewährleisten. Die Marxisten lehnten das daraus resultierende naive Vertrauen in den Bismarckschen Staat ab, wurden aber ihrerseits von Michail Bakunin und den Anarchisten als »Etatisten« beschimpft, da ein durch Arbeiterparteien geführter politischer Klassenkampf bereits ein Anerkennen des bürgerlichen Staates und daher zu verwerfen sei.
Das Pejorative hat sich erhalten: »Etatistisch« wird heute in einem ähnlich abwertenden wie schwammigen Sinne verwendet wie »autoritär«. Dieses Verständnis prägt auch die gegenwärtige politische Linke, die den schmalen Grad oft verfehlt: Im Kapitalismus kommt zwar der Fortschritt nicht vom Staat, aber von Arbeitern oder Minderheiten erkämpfte Rechte wie etwa der Achtstundentag finden ihren Ausdruck in den Gesetzen des Staates und können infolgedessen durch seine Exekutive und Judikative durchgesetzt werden (was je nach Kräfteverhältnis der Klassen mal nachlässiger, mal konsequenter erfolgt). So kämpft, wer undifferenziert gegen jeden Eingriff des Staates ist, mitunter auch gegen die Errungenschaften der Arbeiterbewegung.
Die Ablehnung jeglichen Etatismus kann auch zu Missverständnissen darüber führen, wofür man kämpft. Wer sich Sozialismus und Kommunismus als Modus vorstellt, in dem jeder tun kann, was er will, geht fehl. Marxisten wollen nicht weniger Vergesellschaftung, sondern mehr. Nicht nur die politische Sphäre, auch die ökonomische soll zur »res publica«, zur öffentlichen Sache, werden, über die alle gemeinsam befinden.
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