Gegründet 1947 Mittwoch, 20. August 2025, Nr. 192
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 20.08.2025, Seite 10 / Feuilleton
Neue Musik

Zur zinnoberroten Stunde

»Vermilion Hours« – Das gemeinsame neue Album von Melaine Dalibert und David Sylvian
Von Alexander Kasbohm
10onl.jpg
Es geht doch nichts über einen schönen Hintergrund: Paul Klee, »Katze und Vogel« (1928)

Der französische Komponist Melaine Dalibert ist auf dem Gebiet der minimalistischen modernen Klassik ein relativ bekannter Künstler, unterrichtet am Konservatorium in Rennes und ist ein gern gesehener Gast auf Festivals für Neue Musik. Außerhalb dieses Kontexts hat man von ihm eher wenig gehört.

David Sylvian hingegen hat nach seiner Zeit bei der richtungsweisenden Synthpopband Japan (die dauerte von 1977 bis 1983) eine der interessanteren Karrieren der Popmusik hingelegt. Ohne Rücksicht auf Verluste (Plattenfirma, Publikum) hat er konsequent die Musik gemacht, die er gerade machen wollte. Wie bei seinem Vorbild Scott Walker (der zufällig 1984, dem Erscheinungsjahr von Sylvians erstem Solalabum »Brilliant Trees«, sein Comeback feierte) führte ihn der Weg immer weiter weg vom Pop, an die Grenzen der Tonalität, hin zum Improvisierten. So hat er es geschafft, über Jahrzehnte interessant zu bleiben, während viele seiner Kollegen sich irgendwann darauf verlegten, in gepflegter Langeweile routiniert Variationen des Altbekannten aufzunehmen. Sylvians Veröffentlichungen der letzten 15 Jahre waren oft Collagen aus Field-Recordings, die er mit einem Hintergrund musikalischer Texturen verwob.

Und an dieser Stelle treffen sich Dalibert und Sylvian. »Vermilion Hours« besteht aus Daliberts Kompositionen »Musique pour le lever du jour« (»Musik zum Sonnenaufgang«) und »Arabesque« von jeweils der Länge einer LP-Seite, also gut 20 Minuten. Ich erwähne diese veraltete Maßeinheit, weil sie tatsächlich ursächlich für die Tracklänge ist. Die Vinylveröffentlichung war von Anfang an Teil des Plans. Die »Zinnoberstunden« lassen sich gut auf die frühen Morgen- und späten Abendstunden beziehen, auch wenn Dalibert darauf besteht, dass die Musik – trotz der Titel – keinesfalls deskriptiv gedacht ist. Dalibert kommt aus der logisch-mathematischen Ecke und schreibt Algorithmen, auf deren Grundlage er komponiert. Das ist einerseits für den Hörer ohne Mathematik- oder Kompositionsstudium vollkommen uninteressant, andererseits aber doch nicht ganz: Wenn man die Regelmäßigkeit, die Iterationen, die Art, wie Mathematik und Natur einander spiegeln und die darin liegende formale Schönheit der Mathematik in Betracht zieht, gewinnt dieser Aspekt an Bedeutung. Die Kompositionen selbst leben von den Zwischenräumen so sehr wie von den wenigen Tönen. Verlängert man eine gedachte Linie von Erik Satie zu Morton Feldman, kommt man ungefähr bei Dalibert an. »Musique pour le lever du jour« ist eine ältere, ursprünglich etwa 60minütige (potentiell aber endlose) Komposition, die von Dalibert mehrfach bei Veranstaltungen in den frühen Morgenstunden aufgeführt worden ist. Der Gedanke hinter »Vermilion Hours« war, in den Leerstellen einen Hintergrund anzudeuten, wie er bei den Aufführungen von der Umgebung geschaffen wurde. Dalibert selbst macht in diesem Zusammenhang eine Analogie zur Funktion der Hintergründe in den Gemälden von Paul Klee auf. Diese Hintergrundgestaltung war die Aufgabe von David Sylvian. Sein Beitrag ist subtil, oft an der Wahrnehmbarkeitsgrenze, elektronische Treatments, die eher einen emotionalen Raum schaffen, Nuancierungen geben, als selbst etwas sagen zu wollen. Anders als bei den auf gewisse Weise vergleichbaren Alben von Sylvians Wegbegleiter Ryuichi Sakamoto mit Alva Noto (auch denen von Brian Eno mit seinem Bruder Roger oder mit Harold Budd), übernimmt hier die Elektronik den eher lyrischen Part und das Klavier den rationalen.

Die einzelnen Töne vereinigen sich in ihrem Nachhall zu einer Fläche, die von Sylvians Hintergrund aufgenommen und verändert wird. »Ver­milion Hours« ist ein Meisterstück der Zurückhaltung, der diffuse Nebel des Hintergrundes betont die Klarheit des Vordergrundes, der ganz für sich steht, der nichts bedeuten will, außer sich selbst. Der letzte Teil jeder Kunstwahrnehmung, die Vollendung des Werkes im Kopf des Rezipienten, ist hier ein integraler Bestandteil des Prozesses.

Melaine Dalibert & David Sylvian: »Vermilion Hours« (Ici d’ailleurs)

75 für 75

Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.

 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Mehr aus: Feuilleton

                                                                 Aktionsabo: 75 Ausgaben für 75 Euro