Zeitreise
Von Marco Bertram
Nach dem Fall der Mauer war 1995 das vielleicht spannendste Jahr in Berlin. Alles war noch im Umbruch, die Stadt blühte auf. Die erste große Love Parade auf dem Tauentzien, der verhüllte Reichstag und dazu das bunte kulturelle Leben in sämtlichen Nischen von Mitte bis Friedrichshain. Was den Fußball betrifft, wollte auch Union Berlin den großen Umbruch schaffen. Hertha dümpelte (noch) in der zweiten Bundesliga, und der 1. FC Union schnupperte seit 1992 immer wieder am Tor zur Zweitklassigkeit. Der sportliche Wille war da, doch haperte es an den Finanzen. Erst machte eine gefälschte Bankbürgschaft im Sommer 1993 den Strich durch die Rechnung, dann folgte die Lizenzverweigerung im Frühjahr 1994. In der ersten Regionalligasaison 1994/95 musste man sportlich dem FC Carl Zeiss Jena den Vortritt lassen.
Damals besuchte ich nach meiner Rückkehr von der Ausbildung in Leverkusen im Fußballosten so gut wie alles. FC Berlin, Union, Energie Cottbus, Hansa Rostock – alles querbeet. Ich schaffte 1995 den einmaligen Hattrick, Wohnungen in Mitte, Friedrichshain und Prenzlauer Berg zu haben. Heute wäre das unvorstellbar! Auf den sandigen Traversen der Alten Försterei betrachtete ich am 16. August 1995 mit 1.795 anderen Zuschauern das Geschehen gegen Lok Altmark Stendal und staunte über die Eleganz des blonden Sergej Barbarez. Holla die Waldfee! Was wuselte er locker durch die Abwehrreihen der Altmarker. Union siegte mit 3:0 und war gemeinsam mit TeBe an der Tabellenspitze zu finden. Ja, dieses Jahr würde es gelingen. Der Osten rollt! Dachte ich. Hoffte ich. Ich wollte den gesamten Fußballosten ein, zwei Etagen höher sehen. Hansa allein in Liga eins als Leuchtturm des Ostens war zuwenig. Mit Grauen dachte ich an die 0:1-Niederlage der Unioner gegen Hertha Zehlendorf fast exakt ein Jahr zuvor. Unter der Woche verloren sich 986 verwegene Union-Fans im Stadion. Es herrschte Weltuntergangsstimmung, und nach dem Spiel wurden die alten DDR-Baracken belagert. Spieler und Manager versuchten zu beschwichtigen.
Auch wenn ich nie Union-Fan war, so bedrückte mich das Ganze sehr. Der Fußballosten als Dauerloser? Es sollte noch bis 2001 dauern, bis den Eisernen der Sprung in Liga zwei gelang. Verrückt, wie sich die Schere zwischen Union Berlin und Lok Stendal auftat. Immerhin spielte Stendal von 1949 bis 1968 einige Jahre in der DDR-Oberliga. Während zu Beginn des neuen Jahrtausends Union den Weg nach oben schaffte, rutschte Stendal in die Verbandsliga ab. Immerhin gelang nun der Aufstieg in die NOFV-Oberliga Süd – so trennen Union und Stendal nur noch fünf Ligen. Und Sergej Barbarez? Sein Vereinsherz gehört dem HSV, und Trainer ist er bei der bosnisch-herzegowinischen Nationalmannschaft. Sretno i uspjeh, Sergej!
Tageszeitung junge Welt am Kiosk
Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (18. August 2025 um 21:54 Uhr)Es mag ja sein, dass sich der Autor eine größere Anzahl von Spielen verschiedener ehemaliger DDR-Fußballmannschaften angesehen hat, aber sein Interesse an diesem »Fußball-Osten« scheint dennoch sehr selektiv gewesen zu sein. Anders ist es wohl nicht zu erklären, dass ihm entgangen ist, dass der 1. FC Energie Cottbus bereits im Jahr 1997 den Aufstieg in die 2. Bundesliga und im Jahr 2000 den in die Erste Liga vollzog.
Mehr aus: Sport
-
Nah dran
vom 19.08.2025