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Aus: Ausgabe vom 19.08.2025, Seite 7 / Ausland
Haiti

Mehrfache Krise

Haiti leidet nicht allein unter eskalierender Gewalt. Hinzu kommt auch eine dramatische Versorgungslage
Von Volker Hermsdorf
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In Haiti werden wegen fortwährender Auseinandersetzungen die Lebensmittel knapp (Port-au-Prince, 25.7.2025)

Auch der jüngste Wechsel an seiner Spitze kann nicht darüber hinwegtäuschen: Haitis Übergangsrat hat seit seiner Einrichtung im vergangenen Jahr »wenig Fortschritte erzielen können. Ganze Stadtviertel befinden sich unter der Kontrolle von Banden, und es gibt keinerlei ›nationalen Dialog‹. Als ob das noch nicht genug wäre, leidet die Glaubwürdigkeit des Rats aufgrund von Korruptionsvorwürfen.« So beschrieb es am Montag die britische Zeitschrift Peace News, nachdem der Übergangspräsidialrat (CPT) vor knapp zehn Tagen den Ausnahmezustand in drei Départements des Inselstaats verlängert hatte. Die Anordnung war eine der ersten Maßnahmen, seit Laurent Saint-Cyr am 7. August den rotierenden Vorsitz des durch keinerlei Wahlen legitimierten CPT übernahm. Mit dem Geschäftsmann hat die Exekutive ein neues politisches Gesicht – an der Spitze des Staates stehen nun zwei Vertreter des Privatsektors.

Der Ausnahmezustand soll den Behörden nach CPT-Angaben »die nötige Zeit und die Mittel verschaffen, um Sicherheit und Frieden wiederherzustellen«. Dass sich durch die Verlängerung etwas ändert, ist allerdings zu bezweifeln. So fiel denn auch die Entscheidung dazu in einem Kontext zunehmender Unsicherheit. Die Situation ist dramatisch: Gangs kontrollieren mittlerweile bis zu 90 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince und dehnen ihren Einfluss auf ländliche Gebiete aus. Laut UN-Angaben wurden zwischen Oktober 2024 und Juni 2025 in den betroffenen Regionen mehr als 1.000 Menschen getötet, 200 verletzt und 620 entführt. Allein im zweiten Quartal 2025 gab es mindestens 1.520 Morde und 609 Verletzte. Seit Jahresbeginn sind mehr als 3.000 Menschen der Gewalt zum Opfer gefallen, 239.000 wurden vertrieben.

Als Begründung für die Verlängerung des Ausnahmezustands wird neben der Sicherheitslage auch eine schwere landwirtschaftliche Krise angeführt. Die zunehmende Gewalt hat Tausende Bauern zur Flucht gezwungen, was zu einem drastischen Rückgang der Nahrungsmittelproduktion führte. Der CPT verspricht zwar eine »umfassende Mobilisierung staatlicher Ressourcen« – doch Vertrauen in seine Handlungsfähigkeit gibt es kaum. Saint-Cyr rief in seiner Antrittsrede die internationale Gemeinschaft dazu auf, weiteres Militärpersonal nach Haiti zu entsenden. Seit 2023 sind bereits Soldaten aus Kenia, Jamaika, St. Lucia und weiteren Ländern im Rahmen der UN-mandatierten Multinationalen Sicherheitsunterstützungsmission im Land – doch die Gewalt eskaliert weiter. Zugleich leidet die Bevölkerung bereits seit dem 17. Juni unter einem nahezu totalen Blackout, nachdem Saboteure Hochspannungsmasten zerstört haben.

Die Zusammensetzung des CPT wurde maßgeblich von der karibischen Gemeinschaft, kurz: Caricom, und den USA beeinflusst. Kritiker werfen dem Gremium vor, politisch rechts zu stehen und auf die Interessen Washingtons ausgerichtet zu sein, während progressive Kräfte ausgeschlossen bleiben. Hinzu kommen Anschuldigungen gegen drei Mitglieder wegen Veruntreuung und Verbindungen zu Banden. Nach Angaben der Agentur Alter Press verlief die Nacht vor Saint-Cyrs Amtseinführung besonders unruhig: In mehreren Vierteln kam es zu Schusswechseln. Die linke Wochenzeitung Haïti Liberté kommentierte den Wechsel kritisch und warnte, dass der Privatsektor das Land erneut in die Misere führe. »Wie seine Vorgänger« bekämpfe Saint-Cyr »die Symptome, nicht die Ursachen der Krise«, so der Vorwurf. Statt strukturelle Reformen anzugehen, setze der Rat auf Militäreinsätze und Ausnahmezustand – während die wirtschaftliche Ausbeutung durch Eliten und ausländische Interessen unvermindert weitergehe. »Es sind die herrschenden Klassen, die das Land zerstören«, schreibt die Zeitung. »Solange die Armut wächst, wird sich die Sicherheitslage nicht verbessern.«

Zeitgleich mit der Verlängerung des Ausnahmezustands erhöhte das US-Außenministerium am 12. August die Belohnung für Hinweise zur Ergreifung von Jimmy »Barbecue« Chérizier auf fünf Millionen Dollar. Der Anführer der Gruppierung »Viv Ansanm« hatte zuletzt mit dem Sturz des CPT gedroht. Washington begründet die Maßnahme mit einer »Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA« durch Cherizier – doch Kritiker sehen darin eher ein Signal Washingtons, dass es die Kontrolle über Haitis innere Angelegenheiten aufrechterhalten und seinen Einfluss auf die Politik des CPT wahren will.

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