Putins Pyrrhussieg
Von Reinhard Lauterbach
Zum Zeitpunkt, an dem diese Zeilen geschrieben werden, ist nicht klar, was aus dem Gipfel in Alaska zwischen US-Präsident Donald Trump und seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin in Sachen Beendigung des Ukraine-Konflikts tatsächlich folgt. Aber selbst für den Fall, dass die USA die russischen Friedensbedingungen im Kern annehmen sollten und die »Europäer« verstehen, dass sie dem nichts Ernsthaftes entgegenzusetzen haben, wäre die Lage Russlands im Anschluss bei weitem nicht so triumphal, wie es westeuropäische Kommentatoren als Schreckensszenario an die Wand malen.
Denn was hätte Russland in diesem Fall gewonnen? Etwa 120.000 Qua-dratkilometer schwer zerstörtes Land mit einer Bevölkerung, deren Loyalität vor allem in den besetzten Teilen der Bezirke Cherson und Saporischschja mit einigen Fragezeichen zu versehen ist. Von der »Demilitarisierung« und »Denazifizierung« der Ukraine hat Wladimir Putin zuletzt nicht mehr gesprochen – er scheint sich also damit abgefunden zu haben, dass Russland einen feindseligen und angesichts der hypothetischen Gebietsverluste zum Revanchismus angestifteten südwestlichen Nachbarn behält. Russland versucht allerdings, diese erwartbare Gegnerschaft der Ukraine auf einem für Moskau militärisch handhabbaren niedrigen Niveau zu halten. Ob das gelingt, ist mehr als fraglich; die ukrainische Armee ist heute kriegserfahren und nach ziemlich einhelligem Urteil militärischer Fachleute die kampfstärkste in Europa westlich von Russland. Darauf, dass die Ukraine ihre Armee freiwillig reduziert – auch schon aus finanziellen Gründen –, braucht Russland nicht zu hoffen, und dies schon deshalb, weil Horden enttäuschter demobilisierter Soldaten ein ähnlicher innenpolitischer Unruhefaktor wären wie die Freikorps in der frühen Weimarer Republik.
Auf irgendwelche Bündnispartner in der politischen Klasse der heutigen Ukraine kann Russland nicht setzen. Kräfte, die vor 2022 als »prorussisch« galten, sind aus dem politischen Feld eliminiert; ihre führenden Vertreter leben im Moskauer Exil oder haben ihre politische Aktivität eingestellt. Ihre Chancen auf eine Massenbasis dürften angesichts der Zerstörungen, die der Krieg gerade in den östlichen – und früher tendenziell russlandfreundlichen – Teilen der Ukraine angerichtet hat, aller Wahrscheinlichkeit nach als bestenfalls gering einzustufen sein.
Wie Russland seine sicherheitspolitischen Interessen – im Kern, sich die NATO vom Hals zu halten – vertraglich garantieren will, also ohne permanenten militärischen Druck ausüben zu müssen, ist nicht minder unklar. Die »Europäer« werden einige Kreativität entwickeln, alle Demilitarisierungs- und Neutralisierungspläne zu unterlaufen. Und auf die Treue der USA gegenüber einem eventuellen Friedensvertrag zu vertrauen wäre einigermaßen leichtfertig.
Nicht nur, weil alles, was der US-amerikanische dem russischen Präsidenten vielleicht zusagen mag, nur für ihn selbst und in geringerem Maße für seine Partei – die auch ihren »Falkenflügel« hat – gilt. Im Fall, dass die nächste US-Präsidentenwahl wieder die Demokraten gewinnen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch eine auf Ausgleich mit Russland zielende US-Politik wieder revidiert würde. Ganz abgesehen von Trumps notorisch sprunghafter Natur und der Tatsache, dass er Russland gerade erst im Südkaukasus einen heftigen Tritt vors Schienbein verpasst hat: durch den Anspruch, unter US-Regie eine direkte Straßenverbindung von Aserbaidschan durch armenisches Territorium in dessen Exklave Nachitschewan bis in die Türkei – und natürlich auch umgekehrt von der Türkei zum Kaspischen Meer – zu bauen und von US-amerikanischen Söldnerfirmen »sichern« zu lassen. Ein solcher Zugriff der USA auf die zentralasiatischen Rohstoffvorkommen – die bisher über das russische Leitungsnetz exportiert werden, womit Moskau die Hand am Regler behält – wäre ein empfindlicher Rückschlag für Russlands Bemühungen, einen Handels- und Nachschubkorridor über das Kaspische Meer in den Iran zu bauen. Zumal sich das russisch-aserbaidschanische Verhältnis gerade rapide verschlechtert und die Regierung in Baku sich im Ukraine-Krieg offen auf die ukrainische Seite gestellt hat und das Land mit Treibstoffen beliefert.
Zusammengefasst: Russland hat den Ukraine-Krieg begonnen wie nach dem Lehrbuch von Clausewitz: als »bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«. Wie es von diesen »anderen Mitteln« jetzt wieder herunterkommen will, ohne an seinen politischen Zielen Abstriche zu machen, ist derzeit kaum absehbar.
Hintergrund: Gegenangriff teilweise erfolgreich
In der Ostukraine haben ukrainische Truppen nach eigenen Angaben den jüngsten russischen Vorstoß nördlich von Pokrowsk teilweise zurückgedrängt. Wie die Armeeführung in Kiew mitteilte, seien mehrere Dörfer zurückerobert worden. Auf russischer Seite wurden heftige Kämpfe in diesem Abschnitt eingeräumt, wobei die ukrainischen Soldaten »kolossale Verluste« erlitten hätten. Russische Einheiten waren in der vergangenen Woche in einer Tiefe von bis zu 15 Kilometern durch die ukrainische Front gebrochen.
Russland setzte unterdessen seinen Drohnen- und Raketenbeschuss ukrainischer Ziele im Hinterland fort. In Odessa wurde ein Treibstofflager der aserbaidschanischen staatlichen Ölfirma SOCAR getroffen und brannte offenbar komplett aus. In Charkiw schlug eine russische Rakete in einen Wohnblock ein und tötete sieben Bewohner, darunter eine komplette Familie; weitere Opfer werden noch unter den Trümmern des einsturzgefährdeten Hochhauses vermutet. Raketeneinschläge gab es auch in Saporischschja. Nach ukrainischen Angaben starben drei Menschen, 18 weitere wurden verletzt. In Sumi wurde ein Gebäude der Universität bei einem russischen Angriff zerstört. In Ungarn beschwerte sich Außenminister Péter Szijjártó über einen ukrainischen Beschuss einer Ölpipeline, die das Nachbarland versorgt.
Unterdessen hat der russische Geheimdienst FSB nach eigenen Angaben einen ukrainischen Selbstmordanschlag auf die Krimbrücke vereitelt. Wie die Behörde am Montag mitteilte, hatten die Organisatoren ein mit Sprengstoff beladenes Auto aus Georgien eingeführt und einen Mann angeheuert, der das Auto über die Brücke in Richtung Krim steuern sollte. Dass er bei der Explosion sterben würde, war dem Mann, wie er nach seiner Festnahme aussagte, nicht bewusst. (rl)
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vom 19.08.2025
Das Folgende nur zur Klarstellung: Zwischen einer neuen Grenze entlang der aktuellen Frontlinie, entlang der aktuellen Frontlinie bei Räumung der letzten ukrainischen Positionen in den Oblasti Donezk und Lugansk (wie Pokrowsk/Krasnoarmejsk, Slowjansk/Slawjansk, Kramatorsk und Druschkiwka/Druschkowka) bzw. gemäß der Verwaltungsgrenzen auch der Oblasti Cherson und Saporischschja/Saporoschje besteht kein so fundamentaler Unterschied. Darum geht es also nicht. Letztlich werden – so oder so – auch weitere vorwiegend russischsprachige Gebiete (Odessa, Nikolajew, Dnjepropetrowsk und Charkow) berücksichtigt werden müssen. Eine »belgische Lösung« mit zwei gleichrangigen Communauté’s – einer ukrainischsprachigen und einer russischsprachigen – wäre denkbar, aber auch eine »ostrumelische« (die übrigens hier in Berlin 1878 für Südbulgarien ausgedacht wurde!).
Die Kernfrage für Russland ist ja richtig formuliert: »sich die NATO vom Hals zu halten«, die zunehmend militarisierte EU noch dazu, ist und bleibt das Hauptanliegen Moskaus. Mit fast allen Mitteln – einen dritten Weltkrieg ausgenommen! Mit dem droht nun die »NATO minus« unter deutscher, britischer und französischer Führung!
Interessant, dass von Moskau nicht auf die doppelte Zusage der USA von 1962 zurückgegriffen wird: a) Kuba nicht militärisch anzugreifen, wenn Moskau seine Kernwaffen von der Insel abzieht, b) US-Raketen, die Kernbereiche der UdSSR erreichen können, zurückzuziehen! (Das betraf damals Raketen in der Türkei und in Italien.) Mit der Stationierung von angeblichen »Raketenabwehr-Raketensystemen« in Polen und Rumänien haben die USA unter Obama diese Vereinbarung gebrochen. Über eine Zusage Trumps, sie abzuziehen und auch keine Hyperschall-Erstschlagsraketen in Deutschland zu stationieren, wie von Biden und Scholz für 2026 vereinbart, ist zwar nichts bekannt geworden, aber was besagt das schon? Ein Pyrrhussieg sähe unbedingt anders aus. Wie wär’s übrigens, um mich zu wiederholen, mit dem häufigeren Gebrauch von Fragezeichen?
Da wird ja immer das Argument angeführt, die DDR sei zu hoch verschuldet gewesen und sei wirtschaftlich unabhängig nicht lebensfähig gewesen, was eine Angliederung der »neuen Bundesländer« unumgänglich gemacht habe. Aha, aber 1949 war es »unumgänglich«, dass unter Adenauer Deutschland in zwei Teile und Einflusssphären gespalten wurde. Aber schon klar, bei der Ukraine ist das ja alles vollkommen undenkbar, was unter westlicher Führung in Deutschland, Vietnam oder Korea jahrzehntelang die Norm war. Und wenn es den dritten Weltkrieg kostet. Verglichen mit der Ukraine war die DDR 1989 ein Musterbild wirtschaftlicher Kraft und geringer Verschuldung. Und wo ist sie nun geblieben? »Die ukrainische Armee ist heute kriegserfahren und nach ziemlich einhelligem Urteil militärischer Fachleute die kampfstärkste in Europa westlich von Russland«. Der ukrainische Geheimdienstchef Budanov meinte jedenfalls, ohne westliche Unterstützung stände sie in wenigen Monaten vor dem Zusammenbruch. Gut, der ist halt nicht informiert.» Kräfte, die vor 2022 als «prorussisch» galten, sind aus dem politischen Feld eliminiert; ihre führenden Vertreter leben im Moskauer Exil oder haben ihre politische Aktivität eingestellt. Ihre Chancen auf eine Massenbasis dürften angesichts der Zerstörungen, die der Krieg gerade in den östlichen – und früher tendenziell russlandfreundlichen – Teilen der Ukraine angerichtet hat, aller Wahrscheinlichkeit nach als bestenfalls gering einzustufen sein. «Die Sympathien für Russland waren 1945 in Deutschland ja noch viel geringer. Vier Jahre später war die DDR der engste Verbündete der UdSSR und Massen jubelten auf Demos unter Stalin-Bildern. So doppelt wendehalsig, wie wir Deutschen 1949 und 1989 waren, sind Ukrainer auch. »Russland hat den Ukraine-Krieg begonnen wie nach dem Lehrbuch von Clausewitz«. Der Ukraine-Krieg begann, vom US-Außenminister anerkannt, 2014 als Bürgerkrieg im Donbass, als Kiew eigene Landsleute bombardierte.
Für die Entscheidung der Bevölkerung entweder für Russland oder einen Reststaat Ukraine sind nicht nur Gründe ökonomischer Natur ausschlaggebend (Löhne, Renten, Gesundheitssystem) oder die Zukunftsaussichten für die Nachkommen. Es bestehen vielleicht historische Bindungen an einen Wohnort, den man selbst als Heimat betrachtet, unabhängig davon, zu welchem Staat er gehört. Außerdem spielt die Unterdrückung der russischen Sprache und kultureller russischer Traditionen eine Rolle. Die Ukrainer können außerdem die Art der Kriegsführung beider Seiten vergleichen. Sie wissen auch, welchen Anteil die Ukraine selbst am Entstehen dieses Krieges hat. Kriegsverbrechen werden nach dem Krieg offener bekannt werden. Sie werden Vergleiche ziehen, wie sie in der UdSSR lebten – gemeinsam mit Russland – wie anschließend vor 2022 – wie voraussichtlich ohne Russland oder als Dauergegner Russlands in Zukunft.