»Ich hatte eine regelrechte Allergie gegen die deutsche Sprache«
Interview: Matthias ReicheltSie sprechen vom Leiden an Deutschland und haben die Bundesrepublik früh verlassen. Warum?
Anfangs waren es nicht politische Gründe, sondern meine Sehnsucht nach Licht und Sonne, die mir vor allem schon auf Kreta gefallen hatte. Ich hatte ein Sprachproblem, verstand damals kein Griechisch, aber ich konnte Französisch. Ich war sehr motiviert und hatte wie gewünscht eine Stelle als Assistent in Marseille bekommen. Dort empfand ich sowohl die Atmosphäre als auch die Menschen als viel angenehmer.
Haben Sie denn die Studentenbewegung von 1967/68 mitbekommen?
Ja, ich war mal bei einem Vortrag eines kommunistischen Studentenverbands in Erlangen, da ging es darum, wie Sex in der Werbung genutzt wird, um den Konsum zu steigern. Ich musste aber während des Studiums immer arbeiten und hatte kaum Zeit und wollte auch so schnell wie möglich unabhängig werden.
Wann wurde Ihnen das ganze Ausmaß des deutschen Faschismus, seiner Verbrechen und die Kontinuität des Feindbildes klar?
Da meine Eltern früh geschieden wurden, wuchs ich bei den Großeltern auf, die vor der »gelben Gefahr« warnten und erzählten, dass die Russen die schlimmsten und gefährlichsten Menschen seien. Sie hatten ja in Königsberg (heute Kaliningrad, jW) gelebt und sind vor der Roten Armee in den Westen geflohen. Da entstand in mir der Wunsch zu reisen und die UdSSR kennenzulernen, und eigentlich wollte ich auch unbedingt Königsberg sehen. Letztlich habe ich 1967 von Wien aus, wo ich damals studiert habe, versucht, mit dem Motorroller in die Sowjetunion zu fahren. Aber das ging damals nicht, die Abstände zwischen den Tankstellen auf den vorgesehenen Routen wären für den Roller zu groß gewesen. 1969 habe ich das dann mit dem Auto gemacht und bin durch nahezu alle Länder des Ostblocks gefahren. Von Polen aus bin ich nach Brest und dann über Minsk und Smolensk nach Moskau. Von dort runter nach Tula und Charkow in der Ukraine und weiter nach Georgien, Armenien und dann in den Iran. Ich wusste aus dem Geschichtsunterricht schon, dass die Deutschen sich in der UdSSR nicht gut aufgeführt hatten, aber das ganze Ausmaß, die Millionen an Opfern, die systematische Verfolgung der Juden und dass zum Beispiel 25 Prozent der weißrussischen Bevölkerung von den Deutschen ermordet wurden, habe ich erst viel später erfahren. Hätte ich das alles vorher gewusst, hätte ich mich nicht getraut, dort hinzufahren. Die Menschen, vor allem die jungen, waren aber alle sehr freundlich zu mir. Der zuständige Mann vom Campingplatz in Sotschi an der Schwarzmeerküste sprach fließend Deutsch und erzählte mir, dass er nicht gut auf die Deutschen zu sprechen sei. Er berichtet mir von den Verbrechen. Ich war völlig erschüttert! Aber alles richtig verstanden habe ich erst nach Jahren.
Wann sind Sie dann weggegangen?
Seit Oktober 1978 lebte ich in Marseille. Mein Gehalt an der Uni war zwar sehr gering, aber ich war glücklich, dort zu leben, und verfasste gleichzeitig, finanziert von der Deutschen Forschungsgesellschaft, eine Studie über die außerklinische Betreuung von psychiatrischen Patienten in Frankreich, wo es wesentlich mehr Erfahrung gab als in Deutschland. Dort unterbreitete mir dann ein Kollege, der seine Praxis aufgeben wollte, das Angebot, diese zu übernehmen.
Ihre Bücher, die ja Grundlage für den Dokumentarfilm »Return to Homeland« waren, heißen »Tatort Deutschland. Meine unheimliche Heimat« und »Tatort Familie«, beide 2017 bzw. 2022 erschienen im Konstanzer Hartung-Gorre-Verlag. Wann haben Sie begonnen, sich verstärkt mit der Nazizeit auseinanderzusetzen?
In Marseille habe ich mich in eine Frau verliebt, die mir eines Tages erzählte, dass sie Jüdin ist; sie war säkular, wir haben geheiratet. Sie war auch mal in einer zionistischen Studentengruppe gewesen, trat dann aber wieder aus, weil die so fanatisch waren. Wir haben dann kurz nach der Geburt unserer Tochter »Shoah« von Claude Lanzmann gesehen. Die US-amerikanische Serie »Holocaust« hatte ich dagegen gar nicht mitbekommen, aber ich habe dann gehört, dass dadurch viele Deutsche anfingen, über die Verbrechen nachzudenken. Bei mir geschah das erst etwas später. Nach »Shoah« war für mich auch Christopher Brownings »Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ›Endlösung‹ in Polen« enorm wichtig. Er wies ja nach, wie viele einfache Polizisten bei der Erschießung jüdischer Menschen mitgemacht haben, obwohl ihnen freigestellt worden war, nicht teilnehmen zu müssen. Hinzu kam noch ein weiteres persönliches Erlebnis. Bei einem Besuch mit Frau und Tochter an Weihnachten Ende der 1980er Jahre in Tübingen gab mir meine Schwester die Tagebücher unseres Großvaters. Darin berichtete er, wie er nach der Bombardierung durch britische Flugzeuge versuchte, das Haus wieder aufzubauen. Daraus habe ich meiner Frau vorgelesen, die zwar verstehen konnte, dass meine Großeltern über den Verlust der alten Heimat trauerten, aber fassungslos war, dass sie kein Wort darüber verloren, was die Deutschen in den besetzten Ländern angerichtet hatten. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Meine ganze Kindheit war getränkt gewesen von den Berichten ihres eigenen Leidens, aber nie hatten meine Großeltern Empathie für die Opfer des Naziregimes gezeigt. Das war für mich der Punkt, an dem ich entschied: Jetzt liest du nur noch die Berichte von und über die Opfer der Deutschen. Langsam bin ich wach geworden und war richtig entsetzt, wozu diese so motivierten und gut erzogenen Menschen fähig geworden waren und was sie zugelassen hatten. 15 Jahre lang las ich alle möglichen Bücher zur Schoah und zum Vernichtungskrieg und nahm danach wieder das Tagebuch des Großvaters in die Hand, weil ich die Idee hatte, Familienzeugnisse zu lesen, um zu verstehen, wie und mit welcher Haltung meine Familie dazu beigetragen hat, dass der Nazismus und dessen Verbrechen entstehen konnten. 2000 reiste ich nach Deutschland, um alle Orte aufzusuchen, wo ich mal gewohnt hatte. 2001 reiste ich erneut dorthin, um KZ-Gedenkstätten wie Osthofen, Sachsenhausen, Ravensbrück, Flossenbürg, Oberer Kuhberg bei Ulm aufzusuchen. Zu jener Zeit machte ich gerade eine zweite Psychoanalyse. Ich hatte das Gefühl: Das bist du den Millionen Opfern schuldig. Während der Reise schrieb ich ein Tagebuch.
Ist auf der Basis dieses Tagebuchs Ihre französische Publikation »Le lieu du crime. L’Allemagne, l’inquiétante étrange patrie« (L’Harmattan, Paris 2010, jW) entstanden?
Ja. Und 2017 ist die neu überarbeitete Fassung unter dem Titel »Tatort Deutschland. Meine unheimliche Heimat« auf deutsch erschienen. Zu Beginn meines Tagebuchs habe ich immer intuitiv die Sprache gewechselt, manchmal kam es auf französisch und manchmal auf deutsch, und das war Ausdruck der Konfrontation. Mir wurde vieles klar, auch durch die zweite Analyse, die ich machte. Das war eine sehr intensive Auseinandersetzung damit, wozu der Mensch fähig ist. Ich habe jeden Abend geweint, vier Jahre lang. Es war eine völlige Erschütterung. Ich spürte die Schwierigkeit, Deutsch zu sprechen, die ich auch vorher schon hatte, die sich aber dadurch nochmals verstärkte. Schon als 19jähriger erlebte ich auf einem Campingplatz in den Niederlanden Deutsche als grölende Masse. Hätte ich damals schon gewusst, was die Deutschen in den Niederlanden alles angerichtet hatten, hätte ich diese Geschmacklosigkeit noch ganz anders beurteilt. Es hat mich aber damals schon angeekelt.
Franz Josef Degenhardt sang in seinem Lied »Feierabend«, dass er mit dem MG auf der Lauer liegt, bereit zu entsichern, »wenn man im Chor und Marschtakt lacht«.
Ja, wirklich! Einige Freunde meinten ja, ich müsse mit meiner Tochter Deutsch sprechen, damit sie zweisprachig aufwächst. Aber die hat sich dagegen bereits mit vier Jahren gewehrt. Während meine jüdische Frau Deutsch sogar in der Schule gelernt hat. Sie hatte keine Probleme, vielleicht auch aus einer Gegenwehr gegen das Verteufeln alles Deutschen in Frankreich damals und insbesondere bei Juden.
Interessant. Aber viele im Exil überlebende Juden litten ja gerade unter dem Verlust der deutschen Sprache. Außerdem haben viele jüdische Wissenschaftler, Dichter und Romanciers – Karl Marx, Heinrich Heine, Sigmund Freud, Rosa Luxemburg, Stefan Zweig, um nur ein paar Beispiele zu nennen – wunderbare und wichtige Bücher in der deutschen Sprache verfasst.
Natürlich, aber ich hatte eine regelrechte Allergie gegen die Sprache, und es war mir unmöglich, in Frankreich Deutsch zu sprechen. Ich war immer erleichtert, wenn mir jemand sagte, mein Französisch habe einen amerikanischen Akzent. Die deutsche Sprache war für mich schon in der Kindheit immer mit Repression und Vorwürfen verbunden.
Diese Abneigung gegen den deutschen Ton haben Sie erst später mit dem Russenhass der Großeltern, deren übersteigerten Nationalismus und der entsprechenden Erziehung, die von Alice Miller als »Schwarze Pädagogik« bezeichnet wurde, in einen Kontext gestellt, nämlich als Sie über das Terrorregime der Nazis und deren Verbrechen Bescheid wussten?
Ja, das wurde mir erst alles viel später bewusst. Aber ich hatte früh eine intuitive Aversion gegen den deutschen Ton. Ich bin ein Instinktmensch. Einerseits gab es das Autoritäre, die Strafe, die Kränkung, dann gab es auch wieder Zärtlichkeit und dann wieder Prügelstrafe, das war gang und gäbe damals. Ich habe beides mitbekommen.
Aber war die repressive und autoritäre Erziehung nicht genauso verbreitet in anderen Ländern und kein Alleinstellungsmerkmal der Deutschen?
Ich bin aufgewachsen mit der Vorstellung, dass die Deutschen das Mustervolk sind, Weltmeister in allem, und daraus entstand eine gewisse Liebe, eine Bewunderung für Deutschland. Wenn du dann erfährst, dass deine Mutter und deren Eltern eigentlich auch die Nazis unterstützt hatten und kriminell waren, wird der Kontrast um so größer. Deutschland ist nun mal mein Herkunftsland, und es gehört fast physisch zu meiner Identität. Das stört mich zwar, aber ich kann es nicht ändern. Deshalb aber berührt es mich viel stärker, was dieses Land getan hat als das, was andere Länder getan haben. Und auch in den deutschen Verbrechen zeigte sich eine »Qualität«, eine deutsche Musterleistung. Perfekt durchdacht und ebenso systematisch organisiert. Und Sie dürfen nicht vergessen, dass ich siebeneinhalb Jahre eine Psychoanalyse in Deutschland auf deutsch gemacht habe und nach zehn Jahren noch eine Analyse gleicher Länge in Frankreich auf französisch sowie eine fünf Jahre lange Supervision. Insgesamt habe ich 20 Jahre psychoanalytische Arbeit geleistet. Ohne diese Arbeit hätte ich diese Bücher nicht schreiben können. Die Basis für mein Buch »Tatort Deutschland« waren meine 2000 und 2001 unternommenen Reisen nach Deutschland auf den Spuren meiner Biographie und das Aufsuchen vieler KZ-Gedenkstätten sowie meine währenddessen gemachten Tagebucheinträge. Nach Lektüre der auch in Griechenland erschienenen Publikation hatten die beiden griechischen Filmemacher Chryssa Tzelepi und Akis Kersanidis die Idee, mit mir zusammen, begleitet von einem Filmteam, die Reise zu wiederholen. Deshalb der Titel »Return to Homeland«.
Was hat die beiden Filmemacher an Ihnen und Ihrer Geschichte interessiert?
In dem Buch versuche ich, mich, ich könnte sagen ehrlich oder authentisch, mit meinen Gefühlen und Gedanken während dieser Reise auseinanderzusetzen. Ich habe nichts geschönt. Manchmal ist mein Ton vielleicht sogar zu schamlos. Als ich das Gekritzel in meinem Tagebuch dechiffriert und ins Reine geschrieben habe, fielen mir wieder viele andere Erlebnisse ein, die ich aber als erkennbar separat mit Datums- und Ortsangabe eingefügt habe, um diese beiden unterschiedlichen Zeitebenen getrennt zu halten und auch eine Entwicklung der Erinnerung wie auch der Erkenntnisse sichtbar zu machen. Die griechischen Leser waren beeindruckt und berührt von dieser Authentizität. In Frankreich hat mir eine Armenierin gesagt, sie würde sich wünschen, dass solch ein Buch von einer türkischen Person mal über den Genozid an den Armeniern verfasst würde. Ich habe aber mit solchen Reaktionen überhaupt nicht gerechnet. Ich musste es aus innerer Notwendigkeit schreiben. Ein wichtiger Punkt für das Interesse der beiden griechischen Regisseure ist natürlich die Tatsache, dass die Griechen sehr unter der deutschen Okkupation gelitten haben. Annähernd 15 Prozent der Griechen sind unter der deutschen Besatzung verhungert, wurden deportiert und ermordet. Nahezu die gesamte jüdische Bevölkerung Thessalonikis wurde ermordet, und die Nazis haben vieles geraubt und ganze Ernten nach Deutschland gebracht, während die Griechen hungerten. 80 Prozent der Infrastruktur wurden von den Deutschen zerstört. Dafür ist Griechenland bis heute nicht entschädigt worden. Und dann kommen die Touristen, lassen es sich gut gehen, während in der Krise 2008 die Deutschen federführend in der Troika dem Land einen brutalen neoliberalen Kurs mit weitgehender Privatisierung staatlichen Eigentums verordneten, der Bevölkerung mit Arroganz begegneten und sie in auflagenstarken Zeitungen als faul verunglimpften. Das deutsche Konsulat in Thessaloniki ist in einem neu erbauten riesigen Prunkbau am Ufer untergebracht, und manche linke Griechen nennen es sarkastisch die »Kommandantur«. Meine deutlich andere Haltung zu den NS-Verbrechen und zu »meinem« Land hat die Regisseurin und den Regisseur natürlich sehr interessiert. Akis Kersanidis hat meine Bücher bei der Buchmesse in Thessaloniki im Mai 2023 vorgestellt. Beeindruckt habe ihn die Ehrlichkeit und der Mut, der Versuch, die ganze Schuld der Deutschen auf meinen Schultern zu tragen. Argyris Sfountouris war vier Jahre alt, als am 10. Juni 1944 seine Eltern und 30 weitere Familienangehörige, insgesamt 200 Einwohner des Dorfes, beim Massaker von Distomo, in der Nähe von Delphi, bei der Racheaktion einer SS-Spezialdivision ermordet wurden. Sein Versuch, Deutschland zu verklagen und die Zahlung von Entschädigung zu erlangen, wurde 2006 endgültig vom Europäischen Gerichtshof in Strasbourg abgelehnt. Ein Buch von Patric Seibel über Sfountouris trägt den Titel: »›Ich bleibe immer der vierjährige Junge von damals‹. Das SS-Massaker von Distomo und der Kampf eines Überlebenden um Gerechtigkeit«. Soviel zu den Traumata, die nicht vergehen. Von Argyris Sfountouris ist auch noch ein Buch erschienen mit dem Titel »Trauer um Deutschland. Reden und Aufsätze eines Überlebenden«. Als ich mich mit ihm in Athen traf, attestierte er den Deutschen ethische Unreife und eine Unfähigkeit zur Empathie.
Titus Milech wurde 1947 in Tübingen geboren und zog während seiner Facharztausbildung Ende der 1970er Jahre nach Marseille, wo er bis zum Ende seines Berufslebens eine psychiatrische Praxis betrieb. Seit 2010 lebt Milech in Thessaloniki und schreibt autobiographische Bücher zu seiner deutschen Familie und zur deutschen Nazivergangenheit, die in Frankreich, Deutschland und in Griechenland erschienen sind. Beim Dokumentarfilmfestival im März 2025 feierte der Film »Return to Homeland« von Chryssa Tzelepi und Akis Kersanidis über den deutschen Psychiater Titus Milech Premiere und erhielt den Preis der Filmkritik
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