Evos gespaltenes Erbe
Von José Pfluger
Am Sonntag finden in Bolivien Präsidentschaftswahlen statt. Die langjährige Regierungspartei Boliviens, die Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo, MAS), tritt dabei nicht mehr als geschlossene Kraft an. Der offizielle MAS-Kandidat Eduardo del Castillo, ein 36jähriger Jurist aus Santa Cruz und gegenwärtig Innenminister, steht für eine klar protektionistische Agenda: Stärkung der nationalen Produktion, Priorisierung der Agrarwirtschaft zur Ernährungssicherung vor Privatinteressen der Lebensmittelexporteure. Er gilt als loyaler Vertreter der Linie des scheidenden Präsidenten Luis Arce. Zentraler Konkurrent aus den eigenen Reihen ist der Indigene Andrónico Rodríguez, ein ebenfalls 36jähriger Politologe und Senatspräsident. Er kandidiert für die Alianza Popular und scheint wirtschaftspolitisch liberaler zu sein als del Castillo. Rodríguez ist der Liebling der MAS-Basis und hatte bis zuletzt bessere Umfragewerte als del Castillo. Allerdings überraschte letzterer mit erfolgreichen TV-Auftritten. Rodríguez blieb eher zurückhaltend und ließ sich sogar zu einem freundlichen Kompliment an seinen Rivalen hinreißen.
Jahrelanger Machtkampf
Der tiefe Riss innerhalb des MAS verläuft zwischen dem Lager Luis Arces und dem seines Vorgängers Evo Morales. Nachdem der Putsch gegen Morales 2019 zu einem Generalstreik geführt hatte, konnte die MAS-Führung mit Arces Wahlerfolg 2020 die Demokratie wiederherstellen. Im Oktober 2020 kehrte Morales dann aus dem argentinischen Exil zurück. Doch das Verhältnis der beiden kippte. Arce und Morales lieferten sich jahrelange Machtkämpfe um die Kontrolle des MAS, begleitet von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen ihren Anhängern sowie juristischen Scharmützeln. Faire Vorwahlen zur aktuellen MAS-Präsidentschaftskandidatur fanden nicht statt. Statt dessen riefen beide Lager zu separaten Parteitagen auf. Am Ende entschied das Oberste Wahlgericht zugunsten des Arce-Lagers. Aufgrund seiner niedrigen Umfragewerte tritt Präsident Arce allerdings nicht mehr selbst an.
Morales wurde eine Kandidatur durch das Oberste Wahlgericht untersagt, woraufhin er zur ungültigen Stimmabgabe aufrief – in Bolivien herrscht Wahlpflicht, die mit empfindlichen Geldstrafen durchgesetzt wird. Mit seinem Aufruf zum Wahlboykott unterstützt Morales aber im Grunde die Rechte. Der wohl populärste Präsident der bolivianischen Geschichte hätte, so Kritiker, die Rolle des »Königsmachers« für einen MAS-Kandidaten übernehmen können, etwa für Rodríguez. Der gilt als charismatischer Nachwuchspolitiker der Cocabauern im Chapare. Er hatte 2019 den Widerstand gegen den Putsch organisiert und trug 2020 entscheidend zu Arces Wahlsieg bei. Auch Arces Exinnenminister del Castillo hatte Morales 2019 verteidigt, ging später jedoch zur offenen Konfrontation über, nachdem Ermittlungen gegen Morales wegen angeblicher sexueller Straftaten eingeleitet worden waren.
Präsident Arce konnte sein zentrales Wahlversprechen – wirtschaftliche Stabilität und Wachstum – nicht einlösen. Externe Faktoren wie der Verfall des internationalen Gas- und Ölpreise verschärften die Lage. Die verhältnismäßig niedrigen Lebenshaltungskosten in Bolivien werden auch durch staatliche Gewinne aus Gasexporten finanziert. Auch das Wirtschaftswachstum basierte maßgeblich auf den Einnahmen aus Erdgasexporten. Alles, was sich die MAS-Regierung auf die Fahnen schreiben konnte, wurde durch die von ihr betriebene Verstaatlichung des Erdgases ermöglicht. Doch heute sind die Devisenreserven der Zentralbank nahezu erschöpft, der US-Dollar wird teurer und der Boliviano abgewertet. Aus Furcht vor Inflation tauscht die Mittelschicht massenhaft Bolivianos gegen US-Dollar, was den Wechselkurs steigen lässt. Die US-Ratingagentur Standard and Poor’s stufte die Kreditwürdigkeit bolivianischer Staatsanleihen herunter, wodurch Investoren nur noch zu erheblich erhöhten Zinssätzen Kapital anlegen können. Die Inflation steigt, und das Vertrauen in die Währung, einst eine der stabilsten Südamerikas, erodiert.
Armut erfolgreich bekämpft
Laut Internationalem Währungsfonds (IWF) wurde die relative Armut von 66 Prozent im Jahr 2000 auf 39 Prozent 2014 reduziert. Im gleichen Zeitraum wurde die absolute Armut von 45 auf 17 Prozent reduziert. Die erfolgreichen Sozialreformen, die zur drastischen Reduzierung von Armut führten, könnten sich aber im kapitalistischen Weltmarkt als nicht mehr finanzierbar entpuppen. Ältere Bolivianer kennen Krisen wie die gegenwärtige, doch für die junge Generation, die den größten Wählerblock stellt, ist es die erste ihres Lebens. Der Mythos vom durch die Politik der MAS bewirkten Wirtschaftswunder scheitert nun an der Realität.
Das Erbe des MAS bleibt immens. Die Regierungen Morales von 2005 bis 2019 gründeten Bolivien neu als plurinationalen Vielvölkerstaat, der Indigene als gleichwertige Bürger mit Rechten und Pflichten sowie eigener Sprache und Kultur anerkennt. Aus Ureinwohnern wurden Bürger. Eine Generation von indigenen Jugendlichen besucht erstmals eine Universität. Sie sollten frei von Diskriminierung als gleichwertiger Bolivianer behandelt werden.
Doch obwohl die Linke geschwächt dasteht, ist ein rechter Wahlsieg in der ersten Runde der Wahlen am Sonntag unwahrscheinlicher, als es manche Medien erscheinen lassen wollen. Denn auch die Opposition ist gespalten, so dass vieles auf eine Stichwahl hindeutet. Morales’ Aufruf zum Boykott ist allerdings ein wichtiger Faktor, der es erschweren könnte, dass es ein linker Kandidat es in die Stichwahl schafft.
Hintergrund:: Morales gegen Arce
Die Bewegung zum Sozialismus (MAS), die seit fast zwei Jahrzehnten die dominierende Kraft in Bolivien ist, tritt zu den Präsidentschaftswahlen 2025 tief zerstritten an. Bei den Präsidentschaftswahlen 2019 war dem langjährigen Präsidenten und MAS-Chef Evo Morales vorgeworfen worden, undemokratisch zu handeln, als er das für ihn negative Ergebnis des Referendums über eine Verfassungsänderung zugunsten einer erneuten Amtszeit nicht akzeptierte. Am 21. Februar 2016 hatte eine knappe Mehrheit gegen seine erneute Kandidatur gestimmt. Das Oberste Wahlgericht (TSE) genehmigte dennoch eine Verfassungsänderung unter Berufung auf das passive Wahlrecht von Morales, was dem Ergebnis des Referendums widersprach.
Trotz landesweiter Proteste gewann Morales die nachfolgende Wahl. Die rechte Bewegung Bolivia dijo No (»Bolivien sagte Nein«) verbreitete jedoch Vorwürfe von einem angeblichen Wahlbetrug so überzeugend, dass Morales schließlich angeblich im Namen der Demokratie von der Armeeführung und einer streikenden Polizei zum Rücktritt gezwungen wurde. So kamen der Putsch 2019 und die De-facto-Präsidentschaft einer Vizepräsidentin des Senates, Jeanine Áñez Chávez, zustande. Darauf führten ein Generalstreik und eine erfolgreiche Wahlkampagne zum Sturz von Áñez und zum Sieg Luis Arces, weshalb Morales aus dem argentinischen Exil zurückkehrte.
Als Arce die Wahlen 2020 gewann, gab es eine Abmachung zwischen Morales und Arce: Morales sollte Arce regieren lassen, und Arce sollte Morales’ Kandidatur 2025 ermöglichen. Das Bündnis, das einst die Rückkehr zur Demokratie nach dem Putsch von 2019 möglich gemacht hatte, wurde schon 2021 schwach, als Morales am Kabinettstisch Forderungen an Arce stellte, die von diesem abgewiesen wurden. Ein Jahr später diskutierte Morales bereits mögliche Regierungsprogramme mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen, die nun am Sonntag stattfinden, was Arces Politik erschwerte. Es kam zum Bruch zwischen Morales und Arce. (jpf)
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