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Aus: Ausgabe vom 15.08.2025, Seite 16 / Sport
Sportpolitik

Stiefkind Sportwissenschaft

Ein Kongress für Sportorthopädie und das Desinteresse der Bundespolitik
Von Andreas Müller
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Wo drückt der Turnschuh?

Seit Donnerstag findet im thüringischen Zeulenroda ein Fachkongress für Orthopädie und Sportorthopädie statt. Was als nüchterne Nachricht daherkommt, birgt eine erstaunliche Vorgeschichte, genauer: die Geschichte der Bauerfeind AG, die im Kleinen als eine Art seitenverkehrte Variante dessen begriffen werden kann, was nach 1989 im Großen geschah. Hans Bruno Bauerfeind, dessen Großvater Bruno 1929 in Zeulenroda eine Firma zur Herstellung medizinischer Kompressionsstrümpfe gegründet hatte, brachte das Unternehmen nach der »Wende« kurzerhand aus dem Westen wieder »nach Hause« und half so einer ganzen Region auf die Beine. Während im Osten Millionen Menschen entlassen wurden und um ihre Jobs bangten, sorgte der Produzent für medizinische Hilfsmittel von der Bandage bis zur orthopädischen Einlage in Ostthüringen satt für Arbeitsplätze – indem hier schleunigst ein komplett neues Werk entstand, ebenso wurde die Firmenzentrale hierher verlegt.

Ein Glücksfall für die knapp 16.000 Einwohner zählende Kommune, die 2006 das Nachbarstädtchen Triebes eingemeindete und seitdem Zeulenroda-Triebes heißt. Ein Glücksfall um so mehr, als die Bauernfeind AG, inzwischen mit einem jährlichen Umsatz von mehr als 250 Millionen Euro und mehr als 2.200 Mitarbeitern, an der nahegelegenen Talsperre ein Erholungsheim des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) aus DDR-Zeiten in ein hochmodernes Tagungshotel verwandelt hat und damit der Sportwissenschaft ein prominentes Podium erbaute. Bereits zum 16. Mal treffen sich Mitte August hier die Koryphäen unter den Orthopäden, wobei die meisten Experten aus den neuen Bundesländern anreisen und ein »Heimspiel« genießen.

Die Themen: »Wirbelsäule im Sport«, »typische Verletzungen im Ringen und Volleyball«, »Sicherheit und Schutz von Kindern im Sport«. Wie immer sind prominente Athleten zu Gast, etwa Exringerin Aline Rotter-Focken, Olympiasiegerin von Tokio 2021, der frühere Ringer Frank Stäbler, Olympia-Dritter in Tokio und dreimaliger Weltmeister. Hans Bruno Bauerfeind, seinerzeit Ehrenbürger von Zeulenroda, verstarb im Juli 2023. Der von ihm mitinitiierte Kongress indes lebt munter weiter, Bauerfeind hat früh die Weichen gestellt. Der Kongress hat sich als Leuchtturm etabliert – in einem aus der Perspektive der Sportwissenschaft, deren Teil die Sportmedizin bekanntlich ist, ansonsten eher tristen Umfeld.

Die Sportwissenschaft sei »das fünfte Rad am Wagen der Sportpolitik des Bundes«, resümierte André Hahn bei seinem Abschied aus dem Bundestag ernüchtert. Der damalige sportpolitische Sprecher der Linken hatte die alte Bundesregierung unmittelbar vor seinem Rückzug aus dem Parlament mit einer »kleinen Anfrage« zum Stellenwert des Sports in der Wissenschaft und Forschungsförderung konfrontiert. Das Thema drängte sich auf, nachdem der alle zwei Jahre erscheinende Bericht der Bundesregierung zu Forschung und Innovation im Land zuletzt zwar 400 Seiten umfasste, davon aber nur eine einzige Seite dem Sport widmete.

Ein Missverhältnis, krasser noch im Finanziellen. Der prozentuale Anteil der Sportförderung gegenüber der gesamten Forschungsförderung des Bundes sei von 0,145 Prozent im Jahr 2019 auf 0,13 Prozent im Jahr 2024 gesunken, erklärte Hahn, nachdem die »Ampel« – in ihren letzten Zügen liegend – auf die »kleine Anfrage« geantwortet hatte. Ein Achtel von einem Prozent für Forschung und Wissenschaft im Sport – winzig. Nach Auskunft des ehemaligen Staatssekretärs Mahmut Özdemir (SPD) sei außerdem die Förderquote bei Projekten des Bundesinstituts für Sportwissenschaft (BISp) von 71,2 Prozent im Jahr 2019 auf 40,3 Prozent im Jahr 2024 gesunken. Übersetzt: Der Bund hat sich in jenem Zeitraum aus rund einem Drittel aller BISp-Projekte verabschiedet.

Als maßgeblichen Grund nannte Özdemir »fehlendes Bundesinteresse«. Zum Beispiel sei das Bundesministerium für Bildung und Forschung weder für den Hochschulsport zuständig – und damit nicht für die Ausbildung etwa von Sportlehrern und Trainern – noch für Bereiche wie den Schul-, Breiten- und Gesundheitssport. Man kann es so deuten: Warum sollte jemand, der mit Sportwissenschaft nichts am Hut hat, dafür mehr als Kleingeld berappen? Man könnte auch sagen, die Bilanz der Ära von 2019 bis 2024 ist unwürdig für ein Land, das sich international als Sportnation geriert.

Der Bund delegiert Verantwortlichkeiten im Segment Sportwissenschaft an die 16 Länder, die ihrerseits damit machen, was sie für richtig halten. So kann die – ohnehin chronisch unterfinanzierte – Sportwissenschaft niemals zu einem System aus einem Guss werden. Was übrigens genauso für andere Rumpfkörper wie den Leistungssport und den Schulsport gilt, beides unfertige Gebilde statt tragende Säulen. Diesen unschönen Zustand gilt es schnellstmöglich zu überwinden. Oder wie es André Hahn und die Bundestags-Linke als Fazit ihrer »kleinen Anfrage« für die Sportwissenschaft formuliert hatten: Es brauche endlich »ein abgestimmtes Konzept von Bund und Ländern für die Aus- und Weiterbildung von Sportlehrer/innen und Trainer/innen sowie für die Bearbeitung von wichtigen Herausforderungen im Sport wie Digitalisierung, Inklusion, Überalterung, Migration und Klimawandel«.

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  • Leserbrief von Martina Dost aus 15306 Vierlinden (16. August 2025 um 08:50 Uhr)
    Der Artikel zeugt von völliger Unkenntnis der Situation Ostthüringens vor und nach 1989/90. Die Vorgeschichte der Bauerfeind-AG ist weder »erstaunlich« noch »seitenverkehrt«; es gab in Zeulenroda in DDR-Zeiten bereits bedeutende Werke für Miederwaren und Gummistrümpfe, nur teilweise in den 1920ern von Bauerfeind-Vorfahren gegründet. Hat Bauerfeind nach 1990 wirklich ein neues Werk errichtet? Im Internet wird nur ein neues Verwaltungsgebäude erwähnt. 2200 Arbeitskräfte beschäftigt er lt. Wikipedia weltweit. Er half mitnichten einer ganzen Region auf die Beine, schon gar nicht mit »Arbeitsplätzen satt«! Es sollen zudem Millionen Fördermittel geflossen sein. Sind Sie mal durch Zeulenroda gelaufen? Menschenleere Straßen, kaum Läden, keine Gaststätten, keine Kultur … Es gab hier mal eine beachtliche Möbelindustrie, ein Sägewerk, Betriebe für Werkzeugmaschinen, Verbandwatte, Bekleidung, Bleche, Seifen und Ferienobjekte. Eins ist das frühere FDGB-Ferienheim, was Bauerfeind vermutlich für einen Äppel und ein Ei bekam; er hat kein »Podium erbaut«, sondern die Grünanlage vor dem Heim mit einer Veranstaltungshalle verunstaltet, regionale Kunst aus dem Heim entfernt, u.a. Holztrennwände und Wandschmuck der Holzbildhauerin Johanna Eckard (90). Nun schmücken Fotos mit Palmen das Haus am »Thüringer Meer«. Haben Sie mal die Preise für Essen oder Übernachtung gesehen? Kennen Sie Ostthüringer Kleinstädte? Ziegenrück – ehemals begehrter Urlaubsort – vorm Totalzerfall, Lobenstein, Schleiz, Greiz, Auma, Saalburg, Pößneck, Neustadt/Orla, Weida, Eisenberg – alles tote Orte mit »Rückbau« von Wohnungen, Industrie und Kultur, chaotischen Zuständen in den regionalen Museen. »Arbeitsplätze satt« war mal mit Betrieben in diesen Orten: für technische Porzellane, Fliesen, Plaste, Elektronik, Dachpappe, Landmaschinen, Leder, Draht, Stoffe, Süßwaren, Fleischverarbeitung, dazu Landwirtschaft, Die Bewertungen der Bandagen von Bauerfeind sind schlecht, das Betriebsklima wird »toxisch« genannt.

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