Historikerin im Fadenkreuz
Von Alicja Flisak
Die ukrainische Historikerin Marta Gawrischko ist seit Monaten Ziel einer koordinierten Diffamierungskampagne. Zwar verurteilt sie Russland klar wegen des Einmarschs in die Ukraine. Aber sie weigert sich, den offiziellen nationalistischen Erzählungen Kiews bedingungslos zu folgen. Gawrischko steht für akademische Freiheit, historische Aufarbeitung und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Den Krieg sieht sie als Ausdruck eines Machtkampfes zwischen oligarchischen Lagern, ausgetragen auf dem Rücken der einfachen Bevölkerung.
Am 13. Juli wurde Gawrischko aus dem Kripjakewitsch-Institut für Ukraine-Studien entlassen. Ihre Forschung zu sexualisierter Gewalt durch historische Formationen wie die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) oder die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA), ihre Kritik an der Glorifizierung der Waffen-SS-Division »Galizien« und ihre Ablehnung ethnonationalistischer Geschichtspolitik machten sie zur Zielscheibe nationalistischer Medien, Politiker und Akademiker. Sie steht inzwischen auf der Todesliste der Plattform Mirotworez (übersetzt »Friedensstifter«), einer von Nationalisten betriebenen und vom Sicherheitsapparat geduldeten Website, die Daten vermeintlicher »Volksverräter« veröffentlicht – mehrere Personen wurden danach ermordet.
Gawrischko erhält Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, rechte Medien diffamieren sie als »prorussisch«. Jaroslaw Kulik, Priester und Mitarbeiter der asownahen Webseite Polititschna Teologija (Politische Theologie), wünschte öffentlich, sie möge »Oles Busina hinterherjagen« – einem Journalisten, der 2015 kurz nach seiner Listung einem Attentat zum Opfer fiel. Kuliks Vater Wolodimir forscht in Harvard, Stanford und an der London School of Economics und vertritt die Ukraine in der »Europäischen Kommission gegen Rassismus« – ein Beispiel für Verflechtungen zwischen westlicher Wissenschaft und ukrainischem Ultranationalismus.
Gawrischko warnt vor einer zunehmenden Repression unter Kriegsrecht, bei der Kritik an Korruption, Kriegführung oder Mobilisierung rasch als Illoyalität ausgelegt wird. Sie sieht die Ukraine nicht als demokratischen Raum, da viele Menschen aus Angst vor Konsequenzen ihre Meinung nicht frei äußern. Nicht zuletzt betrachtet sie den Krieg als »Krieg der Armen«. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen und müssen kämpfen oder arbeiten, während Angehörige der Elite vielfältige Schlupflöcher nutzen. Beispiele reichen vom Expräsidentensohn im Vereinigten Königreich über Abgeordnetenfamilien im Ausland bis zu systematisch organisierten Umgehungen – etwa durch fingierte Jobs, gefälschte Atteste oder korrupte Grenzbeamte. Gleichzeitig appelliert die Regierung an Patriotismus und droht mit Sanktionen. Das führt zu einer tiefen sozialen Spaltung: Wer arm ist, kämpft; Wohlhabende schützen ihre Angehörigen.
Für Gawrischko ist das Recht auf Desertion zentral für Menschenrechte – besonders in einem Krieg mit ungleichen Kräfteverhältnissen. Es zu verteidigen bedeutet, Gewissensfreiheit zu wahren und die Militarisierung des öffentlichen Lebens nicht als alternativlos zu akzeptieren. Am 22. Juli veröffentlichten Dutzende renommierte Akademiker einen offenen Brief zu Gawrischkos Unterstützung. Sie warnten vor der Gleichsetzung der Kritik an der extremen Rechten mit einer »prorussischen« Haltung und forderten, akademische Freiheit nicht geopolitischer Loyalität zu opfern. Die Reaktion nationalistischer Medien: erneute Diffamierung – ein Zeichen, dass der Kampf um die Deutungshoheit längst auch einer um demokratische Grundrechte ist.
Der anhaltende Krieg hat die Ukraine tief gespalten und den gesellschaftlichen Druck enorm erhöht. Nationalistische Diskurse dominieren die öffentliche Debatte, während kritische Stimmen immer häufiger zum Schweigen gebracht werden. Wissenschaft und Meinungsfreiheit geraten so zunehmend unter Beschuss. Gawrischkos Fall ist symptomatisch für diese Entwicklung und zeigt, wie schwierig es ist, unabhängige Forschung und kritische Reflexion in Kriegszeiten zu bewahren.
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Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (14. August 2025 um 20:36 Uhr)»Gawrischkos Fall ist symptomatisch für diese Entwicklung und zeigt, wie schwierig es ist, unabhängige Forschung und kritische Reflexion in Kriegszeiten zu bewahren.« Und das keineswegs nur in »Kriegszeiten« (s. USA). Auch die hiesige Diffamierung und Kriminalisierung jeglicher Israel-Kritik ist nicht mehr weit von dem ukrainischen Faschismus entfernt.
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