Alles muss durch den Kopf
Von Leo Kofler
In diesen Tagen erscheint im Mangroven-Verlag die »Soziologie des Ideologischen« des marxistischen Philosophen Leo Kofler (1907–1995) in einer erweiterten Neuausgabe und mit einem Nachwort von Christoph Jünke. Wir veröffentlichen daraus mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Herausgeber das einleitende Kapitel »Was heißt überhaupt Ideologie?«. Das Buch kann bestellt werden unter: www.mangroven-verlag.de (jW)
Das Verhalten des Menschen zur Objektwelt wird durch das Denken hindurch, d. h. mittels der aktiven, zielgerichteten (teleologischen) und wählenden Stellungnahme vollzogen. In Hinsicht auf die Gesellschaft, der jeder Mensch als ein integrierender Bestandteil zugehört, bedeutet das aber, dass sie ihm nicht als etwas bloß Äußerliches begegnet, sich in seinem Denken nicht bloß »widerspiegelt«, sondern mit ihm identisch wird: zum Denken dieses Gedachten. Die gesellschaftliche Welt, der der Mensch einerseits als einzelner als einer äußeren begegnet, ist andererseits dieses Denken selbst insofern, als es sich in den Bestimmungen reflektierter Objekte geradezu verwirklicht. In diesem wohlverstandenen Sinne sind Denken und gesellschaftliche Wirklichkeit identisch.
Dies ist zu verstehen aus dem Charakter des gesellschaftlichen Seins, das sich aus denkenden und ihre Beziehung zueinander durch ihr Denken verwirklichenden Individuen zusammensetzt. In dieser Weise reflektiert sich die Gesellschaft selbst, ist das Denken der Individuen in seiner komplexen Vernetzung zugleich das Denken der Gesellschaft.
Daraus resultiert, dass alles gesellschaftliche Denken, sofern es sich unvermeidlich das gesellschaftliche Sein zu eigen macht und dieses den individuellen wie sozialen Bindungen, Bedürfnissen und Zielen entsprechend reflektiert und formt, schon in dieser anthropologischen Bestimmung allen menschlichen Verhaltens zu seiner eigenen Welt sich als das erweist, was man ideologisch zu nennen pflegt. »Ideologisch« heißt hier so viel wie: nicht unmittelbar durch das dem Denken Entgegenstehende (den Gegen-Stand) bestimmt, sondern durch das Denken dieses Gegenstandes, durch den denkenden Gegenstand, durch die in seinem Denken – sich richtig oder falsch – erkennende Gesellschaft selbst, woraus sich die oben behauptete Identität von Denken und Sein ergibt.
Dieser Sachverhalt kann auch folgendermaßen formuliert werden: Weil in anthropologischer Sicht Denken und Sein dialektisch identisch sind, deshalb bestimmt im praktischen Prozess das Sein das Denken. Das anthropologisch eingesehene Verhältnis von Denken und Sein schlägt im praktischen Bereich seiner historischen Realisierung um in das dem »empirischen« Schein nach entgegengesetzte Verhältnis von Sein und Denken.
Soziologische Zuordnung
Der Widerspruch zwischen den beiden aufgewiesenen Formen von Sein und Denken stellt als theoretisch aufgehobener und somit in seiner Identität eingesehener das dar, was das Ideologieproblem – in seiner formalen und nicht inhaltlichen Seite betrachtet – insgesamt ausmacht. Nichts, was den historischen Prozess menschlicher Existenz betrifft, existiert außerhalb der Identität dieses Widerspruchs; nichts kann es geben, auch sogenannte »philosophische Wahrheit« nicht, das sich hier heraushält. Alles spielt sich innerhalb dieser doppelten Identität ab, ist somit unweigerlich ideologisch.
Auch die sogenannte »philosophische«, d. h. für alles Sein gültige Wahrheit ist »standortgebunden« insofern, als sie ermöglicht und »erzeugt« wird innerhalb einer gesellschaftlichen konkreten Subjekt-Objekt-Beziehung. Auch sie ist das Ergebnis der gedanklichen Assimilation eines bestimmten gesellschaftlichen Prozesses und seiner Probleme. Das Spezifische dieses bestimmten Ausschnitts in der gesellschaftlichen Entwicklung liegt eben darin, dass er, aus welchen Gründen immer, der Wahrheitsfindung günstig ist. Eine für eine solche Wahrheitsfindung günstige gesellschaftliche Situation bedeutet zugleich, dass sie die Tendenz ihrer Überdauerung gebiert. Einmal als Wahrheit erkannt und formuliert, pflegt sie lange Epochen zu überdauern. Die soziologische Zuordnung im ideologischen Prozess des Entstehens dieser Wahrheit schließt ihre inhaltliche Objektivität und ihre Objektivierung gegenüber diesem Prozess nicht aus. Dabei behält die Zuordnung ihren Wert, nicht etwa, weil sie über den Wahrheitsgehalt selbst etwas aussagen würde, sondern umgekehrt, weil durch sie ein Licht geworfen wird auf den historischen Stellenwert und den Charakter der gesellschaftlichen Kräfte und Tendenzen, die seine Findung ermöglicht haben.
Mit dieser Form der Verselbständigung der objektiven Wahrheit dem Sein gegenüber ist nicht zu verwechseln jener ideologische Verselbständigungsprozess, der für das falsche, den Träger täuschende Bewusstsein bezeichnend ist. Der Unterschied liegt in Folgendem. Die zur selbständigen Geltung gelangte objektive Wahrheit bleibt eine solche, auch wenn sie zu einem gegebenen Zeitpunkt von der Öffentlichkeit nicht akzeptiert ist. Dagegen beruht die Verselbständigung des falschen Bewusstseins darauf, dass es sich nur zum Schein zu einer eigenen Kraft verdichtet und seinen sozialen Träger beherrscht, jedoch von diesem in allen seinen Bestimmungen abhängig ist. Mit dem Verschwinden dieser Schicht verschwindet auch dieses Bewusstsein. Auch die objektive ideologische Wahrheit, vor allem jene, die in einem gemeingültigen »philosophischen« und daher überhistorischen Sinne wahr ist, kann zu einer die Massen beherrschenden Macht werden; aber sie wird nicht bedeutungslos und verschwindet nicht mit dem Verschwinden dieser Massen von der geschichtlichen Bühne oder mit der Abschwächung ihrer Fähigkeit, sie zu akzeptieren.
Daher ist die Behauptung Herbert Marcuses, dass die »philosophische Wahrheit« niemals soziologisch zugeordnet werden kann,¹ dem wirklichen ideologietheoretischen Gehalt nicht angemessen, zu allgemein und in der Formulierung bereits so gehalten, dass sie der definitionsmäßig vereinseitigten Apriori-Gleichsetzung von Ideologie und falschem Bewusstsein entgegenkommt. Es entsteht hier der Schein einer totalen Unabhängigkeit der im geistesgeschichtlichen Verlaufe entstandenen Wahrheitserkenntnis und einer sie tragenden genialisch »freischwebenden« intellektuellen Elite. Als ob beispielsweise die Grundsätze der Hegelschen Dialektik, die Marcuse zum Bereich der objektiven philosophischen Wahrheit zählen würde, nicht ihre historischen Wurzeln in der scharfsinnigen Beobachtung der französischen Revolution und der englischen Ökonomie nebst den in ihnen wirkenden Herr-Knecht-Verhältnissen gehabt hätten.
Drei Formen der Wahrheit
Der Sinn der Erforschung des Ideologieproblems liegt darin, zu erfahren, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen falsches Bewusstsein und unter welchen Wahrheit, also richtiges Bewusstsein, möglich geworden sind und artikuliert wurden. Womit gleichzeitig die Wesenheit dieser Bedingungen selbst zur Erhellung gelangt. Sprachen wir bisher von der ideologischen Wahrheit schlechthin, so kompliziert sich das Problem dahingehend, dass es im Bereich des Ideologischen verschiedene, darunter auch historisch relativierte Formen solcher Wahrheit gibt. Es sind drei Formen der ideologischen Wahrheit zu unterscheiden.
Erstens: Eine ideologische Aussage kann sich im Lichte einer späteren theoretischen Analyse als ein Gebilde zu erkennen geben, das mit verfehlten Vorstellungen über den Menschen und über die Geschichte arbeitet, jedoch gleichzeitig wahr sein in dem Sinne, dass sie sich in den Dienst des Vollzugs des notwendigen nächsten historischen Schritts stellt. Wir sprechen hier von der relativen ideologischen Wahrheit.
Zweitens: Sie kann wahr sein, weil sie konkrete Teilbereiche des gesellschaftlichen und historischen Geschehens, bestimmte Epochen oder einzelne ihrer Phänomene zur gleichen Zeit ihrer Existenz richtig deutet. Wir wählen hierfür die Bezeichnung der konkreten ideologischen Wahrheit.
Drittens: Eine durch besonders günstige Umstände veranlasste ideologische Aussage kann wahr sein, wenn sie gemeingültige Erkenntnisse anthropologischer, philosophischer, sozialtheoretischer usw. Natur enthält, Wahrheiten, die in ihrer Entstehung, jedoch nicht in ihrem Gehalt an bestimmte gesellschaftliche Konstellationen gebunden sind und die, einmal formuliert, ihre Entstehungszeit überdauern. Wir bezeichnen sie als die objektiven ideologischen Wahrheiten. (Die Überwindung des Ständestaates in der französischen Revolution hat z. B. – zunächst für Marat – die Klassenstruktur der Gesellschaft sichtbar hervortreten lassen und erst zu diesem Zeitpunkt theoretisch formulierbar gemacht.) Dass sie stets ideologische Gebilde bleiben, ist auch daran zu ermessen, dass sie vielfach noch mit wechselndem Schicksal der Anerkennung seitens solcher geistigen Mächte unterworfen bleiben, die ihrerseits ideologischer Herkunft sind. Selbst als feststehenden Wahrheiten bleibt ihnen nicht das Schicksal erspart, im Raume der späteren, d. h. ihrer ideologischen Entstehungszeit folgenden Auseinandersetzungen noch immer eine ideologische Rolle spielen zu müssen. (Wiederum ein Beispiel: Hat die Überwindung des Vorrangs der ständestaatlichen Organisation der Gesellschaft das reine Heraustreten der Dialektik des Umschlagens von subjektivem Handeln in den objektiven Prozess und umgekehrt zur Folge gehabt, so bedurfte es nur der genialen Köpfe, die diesen Prozess analysierten und die Grundlage für den Historischen Materialismus schufen; nichtsdestoweniger ist er aus ideologischen Gründen noch immer umstritten.)
Der begriffliche Unterschied zwischen dem richtigen und falschen Bewusstsein ist nicht aus dem Begriff der Ideologie selbst abzuleiten, sondern begründet sich ideologietheoretisch in der Form ihrer ideologischen Verselbständigung gegenüber der Gesellschaft.
Das falsche Bewusstsein verselbständigt sich gegenüber seinem gesellschaftlichen Träger, indem es ihm wie eine ideelle Gewalt von fremder Herkunft, aber versehen mit der Kraft, als »Wahrheit« Anerkennung zu erzwingen, erscheint. (Denken wir beispielsweise an den chauvinistischen Nationalismus.) Sowohl die Meinungs- und Bekenntnisideologien, die eine subjektive Stellungnahme erfordern, als auch die spontan-unbewusst das Denken besetzenden fetischistischen Ideologien, die sich um die Vorstellung der »zweiten Natur« bewegen und das Handeln »kategorial« bestimmen (wir kommen darauf ausführlich zurück), erscheinen unter der Bedingung der strukturellen Verdinglichung in der doppelten Gestalt: das eine Mal als ideelle und das andere Mal als »praktische« Mächte, denen sich zu entziehen soviel bedeutet wie den Verlust der Fähigkeit, im öffentlichen wie privaten Leben zulänglich zu funktionieren. Zwar ist der Weg des Entstehens beider ideologischer Formen ein irrationaler, denn die eigentlichen Entstehungsgründe bleiben dem Individuum vollkommen unbewusst. Aber das eine Mal pflegt es seine Ansichten in eine rationale Form zu kleiden, während es die unmittelbaren Reflexionen des verdinglichten Daseins wie Naturgewalten, die man als unbegreifliche über sich ergehen lässt, hinnimmt. Nur in der abgeleiteten theoretischen Sphäre wird der Versuch unternommen, sie rational zu begreifen. In beiden Fällen vollzieht sich die Verselbständigung des »ideologischen Himmels« gegenüber dem Individuum mittels seines Verhaltens selbst, d. h. mittels seiner gesellschaftlichen Tätigkeit unter der Bedingung der arbeitsteiligen und anarchischen Warenstruktur.
Genau umgekehrt verhält es sich mit jener Form der ideologischen Verselbständigung, die wir der objektiven Wahrheit zurechnen. Sie entspringt nicht unmittelbar dem verdinglichten Prozess, sondern der Anstrengung seines Durchschauens, wenn auch nicht in »intellektueller Freiheit«, wie oft behauptet, sondern unter bestimmten günstigen Konstellationen für eine soziale Gruppe innerhalb einer ebenso für diese Erkenntnis günstigen Konstellation der ganzen Gesellschaft. Im Durchschauen enthüllt sich dem Denken die Sicht auf solche Zusammenhänge wie Freiheit und Notwendigkeit, Kausalität und Norm, Tätigkeit und Telos, Prozess und Moment usw. Es entsteht richtiges Bewusstsein in der Bedeutung einer gleichzeitig ideologischen und »philosophischen« Wahrheit.
Konkrete Totalität
Von diesen »philosophischen«, auf die allgemeinsten Bestimmungen gesellschaftlicher Existenz ausgerichteten Wahrheiten unterscheiden sich die konkreten Wahrheiten. Sofern sie ein besonders theoretisches Interesse erwecken im Zusammenhang mit dem das gesamte Bewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft durchsetzenden Tatsachenfetischismus – der darin besteht, dass die infolge der arbeitsteiligen gesellschaftlichen Anarchie für das falsche Bewusstsein zerstörte Totalität durch ein System von ideologischen Täuschungen ersetzt wird, die sich als »Tatsachen« geben –‚ insofern bestimmt sich das Wesen dieser konkreten Wahrheiten durch die Fähigkeit, die »Tatsachen« auf ihren wirklichen Gehalt zu reduzieren und von ihren ideologischen Hüllen zu befreien. Aber diese Fähigkeit ist selbst wiederum und gerade wegen ihres antiideologischen Affekts zum realen gesellschaftlichen Geschehen vermittelt und deshalb in der oben definierten Bedeutung des richtigen Bewusstseins ideologisch gebunden.
Die Erkenntnis eines jeglichen Denkens, auch des richtigen, als eines, das sich anthropologisch und erkenntnistheoretisch bestimmen lässt als nach allen Seiten hin an die gesellschaftliche Subjekt-Objekt-Beziehung gebunden und als die Form der konkreten »Selbsterkenntnis« wie auch Bedingung der darauf beruhenden Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, lässt keinen Begriff von Denken zu, das sich außerhalb des Prozesses der allseitigen gesellschaftlichen Bestimmtheit des Bewusstseins durch das Sein hält.
Damit stellt sich aber ein spezifisches Problem, ein Problem, das an die Frage gebunden ist: Wie ist diese Bestimmtheit des ideologischen Bewusstseins durch das gesellschaftliche Sein des genaueren vorzustellen? Erkenntnistheoretisch ausgedrückt: Wie ist sie überhaupt möglich? Es geht hierbei um den Aufweis der konkreten Dialektik von Sein und Bewusstsein. Vorausgesetzt, dass unsere oben entwickelte These von der Bestimmtheit eines jeglichen Denkens durch die gesellschaftlichen Verhältnisse richtig ist, bedeutet die These implizit auch soviel, dass die Gesamtheit des Bewusstseins und die Gesamtheit des gesellschaftlichen Seins in einer dialektischen Vermittlung zueinanderstehen, somit das ausmachen, was unter den Begriff der Totalität fällt.
Alle konkrete Dialektik ist identisch mit der Vermittlung in der Totalität. Als Realdialektik ist sie schon im Hegelschen System zur Entwicklung gelangt, denn für Hegel war jede Vermittlung ein Gesetz der Wirklichkeit. Jedoch fehlte der Hegelschen Dialektik der konkrete, in den realen Bedingungen des Geschichtsprozesses selbst auffindbare Totalitätsbegriff. Die bloß spekulative Behauptung der Totalität macht noch nicht ihre Konkretheit aus. Um konkrete Totalität zu sein, muss sie erst ein Gesetz »erzeugen«, und das Begreifen dieses Gesetzes macht erst die Geschichte als Objekt der dialektischen Totalität begreiflich.
Die konkrete Totalität realisiert sich durch die im Historischen Materialismus zur zentralen Kategorie erhobenen Produktionsverhältnisse. Im Zusammenhang mit der so verstandenen Totalität geben sich die vielfältigen gesellschaftlichen und ideologischen Erscheinungen immer als im Rahmen eines durch die Produktionsverhältnisse bestimmten Beziehungsganzen vermittelt. Hier erscheinen auch die abseitigsten Phänomene der Geschichte als in einer funktionalen Beziehung innerhalb der die Gesamtheit der Phänomene zueinander vermittelnden Produktionsverhältnisse stehend. Das bedeutet die Einsicht in ein Beziehungssystem, dessen ideologische Ausdrucksform die in ihrer Gesamtheit sich deutlich als ideeller Ausdruck innerhalb der durch bestimmte Produktionsverhältnisse strukturell durchwirkten Totalität ist.
Mit anderen Worten: Produktionsverhältnisse und Gesellschaft einer bestimmten Epoche sind Wechselbegriffe und umschreiben diese Epoche als Totalität. Das bedeutet, dass die Beziehungen, die die Individuen und Klassen »in der Produktion ihres Lebens« (Marx) eingehen, auch schon alle übrigen Erscheinungen der Gesellschaft mitbedingen, wenn auch zumeist in einer sehr vermittelten Weise; somit kann nichts außerhalb und neben den Produktionsverhältnissen bestehen, und deshalb ist die Totalität der gesellschaftlichen Erscheinungen bereits mit den Produktionsverhältnissen funktional gegeben. Einer solchen Betrachtungsweise kommt es nicht mehr darauf an, zu jedem ideologischen einen eigenen ökonomischen Bezugspunkt zu finden, wie ein weitverbreitetes Missverständnis seit Eduard Bernsteins Kritik am Historischen Materialismus (1896) vermeint. Im Gegenteil, da Ökonomie und Ideologie aufgrund der Tatsache, dass es auch kein ökonomisches Handeln ohne den »Durchgang durch den menschlichen Kopf« (Engels) gibt, ihrerseits Struktureinheiten darstellen, die in einer funktionalen Abhängigkeit innerhalb der gesellschaftlichen Totalität zueinander stehen, die Ideologie als Ganzes daher immer nur als Funktion der Ökonomie erscheint, genügt es, wenn einzelne ideologische Momente einem größeren ideologischen Zusammenhang zugeordnet werden und dieser dann seinerseits ökonomisch zugeordnet wird.
Verzerrendes Schema
Dieses Begreifen der Gesellschaft einer bestimmten Epoche als funktionales Beziehungsganzes oder als Totalität macht der Hauptsache nach die Materialistische Geschichtsauffassung aus; und das in der populären Vorstellung so beliebte Schema von der direkten Bedingtheit eines jeglichen Teiles des Überbaus von einer bestimmten Sphäre des Unterbaus ist nur ein verzerrter Ausdruck davon. Für das Verständnis der Geschichte ist viel mehr damit gewonnen, wenn einem ideellen Faktor innerhalb der Totalität der gesellschaftlichen Beziehungen ein angemessener Platz zugewiesen wird, als wenn man für jede, sei es noch so abseitige, ideologische Erscheinung einen genau zu ihr passenden ökonomischen Faktor ausfindig zu machen versucht.² Aber abgesehen von der Richtigstellung, die hier mit Hilfe der Totalitätsvorstellung am vulgärmarxistischen Denken vorzunehmen war, zeigt sich die theoretische Fruchtbarkeit des Denkens in der Totalität der Produktionsverhältnisse besonders dort, wo man auf die vergeblichen Bemühungen bürgerlicher Denker stößt, alle gesellschaftlichen Strukturelemente, Gegensätze und Widersprüche ihres antagonistischen Charakters zu entkleiden und einem mehr oder weniger willkürlich herausgegriffenen Einzelmerkmal zumeist ideeller Art als einem die ganze Epoche formenden Merkmal zu subsumieren.³
Der konkrete Totalitätsbegriff muss aber selbst genau analysiert werden, bevor er zur theoretischen Anwendung gelangt. Die Produktionsverhältnisse sind, wie der Ausdruck sagt, Verhältnisse, und zwar solche von Menschen, die diese in der Produktion ihres Lebens eingehen müssen. Mit dieser Einsicht erschließt sich für die dialektische Theorie eine neue Seite: Ausnahmslos wird jeder der sozialen Welt zugehörige Begriff als gesellschaftliches Verhältnis oder als vermittelter Ausdruck eines solchen Verhältnisses bestimmt. Hier macht die Dialektik einen Sprung über ihre ursprüngliche Begrenztheit, sich in der Neubestimmung der Begriffe zu erschöpfen, hinaus. Das Begriffsbild jener sozialen Erscheinungen wird völlig verändert, die sich im ideologischen Bewusstsein der Gesellschaft hartnäckig als nichtmenschliche und große gesellschaftliche Macht ausübende »Gegenstände« darstellen. Es handelt sich dabei um die theoretische Leistung, den Verdinglichungs- und Fetischcharakter – über diese Begriffe sprechen wir später ausführlich – jener Kategorien, die scheinbar als dinghafte Mächte den Gang des gesellschaftlichen Prozesses beeinflussen, aufzulösen und ihr wahres Wesen zu erhellen. Eine ganze Reihe vorwiegend ökonomischer Begriffe wie Kapital, Ware, Wert, Profit und Technik werden als Ausdruck zwischenmenschlichen Geschehens verstanden; sie werden zu sozialen Verhältnisbegriffen und als Ausdruck von Verhältnissen zwischen denkenden, d. h. ideologisch gebundenen Individuen entlarvt.
Damit ist in einer auf die letzte Wurzel, nämlich auf das Bewusstseinsmäßige menschlicher Existenz zurückgehenden Weise geklärt, dass dasjenige, was wir als die gedankliche Welt des ideologischen Überbaus ansehen, vermittelt ist zu einer Gedankenwelt, die sich bloß auf einer niedrigeren Stufe des gesellschaftlichen Prozesses vollzieht, der praktisch-ökonomischen. Das in der ideologisch täuschenden Begriffswelt des bürgerlichen Individuums erscheinende Verhältnis der Kontemplation (der Fremdheit) zwischen »Sein« und »Bewusstsein« erweist sich als faktisch aufgehoben: Es ist auf diese Weise die Frage beantwortet, wie die Bestimmtheit des ideologischen Bewusstseins durch das gesellschaftliche Sein überhaupt möglich ist. Verkürzt ausgedrückt: Sie ist möglich, weil Sein und Bewusstsein nur verschiedene Ausdrucksformen ein und derselben Qualität sind, nämlich des zwischenindividuellen und durch den Kopf hindurchgehenden, d. h. gedanklichen Reflektierens. Als verschiedene Ausdrucksformen erscheinen sie das eine Mal als rein ökonomische, das andere Mal als rein ideologische dadurch, dass sich der denkende Mensch das eine Mal auf den Mitmenschen auf der Ebene der Auseinandersetzung mit der Natur, das andere Mal auf der Ebene des reflektiv-ideologischen Austausches bezieht.
Anmerkungen
1 Herbert Marcuse: Kultur und Gesellschaft 1 (1965). Frankfurt am Main 1973, S. 115 f.
2 Vgl. Leo Kofler: Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Versuch einer verstehenden Deutung der Neuzeit (1948/1966). 8. vollständige Ausgabe in zwei Bänden, Berlin 1992
3 Zum Beispiel Karl Joël: Wandlung der Weltanschauung. Eine Philosophiegeschichte als Geschichtsphilosophie. Tübingen 1928
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (18. August 2025 um 09:56 Uhr)Der Gedanke Leo Koflers, dass jedes menschliche Verhalten durch den Kopf hindurchgeht, ist für mich sehr einleuchtend. Man tanzt eben nicht nur mit den Beinen – genauso wie Fußball zwar körperlich ist, aber im Kern eine »Kopfsache« bleibt: ohne Antizipation, Spielidee und innere Orientierung bliebe das bloße Laufen. So verhält es sich auch mit gesellschaftlichem Handeln. Es ist nie reiner Vollzug, sondern stets durch Denken, Deuten und Bewerten vermittelt. Praxis und Bewusstsein lassen sich nicht voneinander trennen. Gerade deshalb ist alles Handeln auch ideologisch geprägt – nicht im Sinn bloßer Täuschung, sondern als Ausdruck der unauflöslichen Verbindung von Sein und Denken.
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