Statistisches Bundesamt: Armutsforscher erheben Manipulationsvorwurf
Wie der Redaktion am Donnerstag bekannt wurde, hat eine Reihe von Armutsforschern, darunter die Hochschullehrer Christoph Butterwegge, Michael Klundt, Frank Deppe, Klaus Dörre und Stephan Lessenich, der Präsidentin des Statistischen Bundesamts Ruth Brand am Montag einen Brief geschrieben, in dem die Verfasser kritisieren, dass die Bundesbehörde in Wiesbaden die Armutsgefährdung in der Bundesrepublik nur noch nach einer, anstatt wie bisher nach zwei Methoden ermittelt und die bisherigen Ergebnisse auf der Grundlage der einen Methode gelöscht hat. Sie sehen darin eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit:
Sehr geehrte Frau Präsidentin,
mit großer Verwunderung mussten wir feststellen, dass das Statistische Bundesamt Armutsgefährdungsquoten, berechnet nach dem Bundesmedianeinkommen auf Basis des MZ-Kern, nicht mehr veröffentlicht und auch rückwirkend für die Jahre 2020 bis 2023 von der Homepage gelöscht hat. Begründet wird dies damit, dass EU-SILC die amtliche Hauptdatenquelle für die Messung von Einkommen und die daraus abgeleitete Armutsgefährdung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union sei. Mit der Nichtveröffentlichung und der Löschung der MZ-Kern-Armutsquoten, berechnet nach dem Bundesmedian, solle die Veröffentlichung unterschiedlicher Armutsquoten vermieden werden. Zudem sei die Einkommenserfassung bei EU-SILC zuverlässiger als im MZ-Kern.
Wir, die unterzeichnenden Armutsforscherinnen und Armutsforscher, betrachten dies als einen nicht akzeptablen Eingriff in die wissenschaftliche Freiheit. Selbstverständlich kann man, so wie die Fachleute Ihres Hauses, der Ansicht sein, dass die Einkommenserfassung bei EU-SILC der beim MZ-Kern methodisch überlegen ist, doch ist diese Meinung speziell unter dem Aspekt der Berechnung von Einkommensarmut in der Fachwelt nicht ungeteilt. Es gibt gute Gründe dafür, mit den Daten von EU-SILC zu rechnen, bekanntermaßen aber auch ebenso gute Gründe, auf die Quoten von MZ-Kern zurückzugreifen, vor allem wegen der höheren Fallzahlen und der möglichen Veröffentlichung nach soziodemographischen Merkmalen und Bundesländern.
Der Hinweis, man wolle künftig »die Veröffentlichung unterschiedlicher Ergebnisse zu ein und demselben vermeintlichen Sachverhalt« vermeiden, ist denkbar unwissenschaftlich. Vielmehr grenzt es bereits an behördliche Willkür, wenn ein Bundesamt Ergebnisse von allgemeinem wissenschaftlichen und öffentlichen Interesse zurückhält und damit die gesamte Fachdiskussion und öffentliche Rezeption beschnitten werden. Oder in eine bestimmte Richtung gelenkt werden sollen?
Wir möchten Sie daher dringend ersuchen, bei der bisherigen transparenten Veröffentlichungspraxis zu bleiben und die Einkommens- und Armutsgefährdungsberechnungen nach dem Bundesmedian, differenziert nach Bundesländern und soziodemographischen Kriterien, auf der Basis des MZ-Kern zeitnah wieder zur Verfügung zu stellen und fortzuschreiben.
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