Ausbeutung toppt Bürgergeld
Von Ralf Wurzbacher
Die Bild will es einfach nicht wahrhaben: »Lohnt es sich doch, arbeiten zu gehen?«, titelte das Springer-Blatt am Mittwoch in seiner Onlineausgabe. Gleichentags hatte das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in einer Studie vorgerechnet, dass das »Einkommen bei Mindestlohnbeschäftigung deutlich höher als mit Grundsicherung« ist. Das gelte »überall in Deutschland und unabhängig von der Haushaltskonstellation«, teilten die Forscher in einer Bekanntmachung mit. Im Schnitt liege der Vorteil bei 557 Euro monatlich im Falle von Singles, bei Alleinerzieherinnen und Familien ist es etwas mehr. Zuletzt hatten Rekordausgaben des Bundes für sozial Bedürftige erneut eine Debatte darüber befeuert, das Bürgergeld verleite zu Faulheit und Leistungsmissbrauch.
»Die Behauptung, sie wollten nicht erwerbstätig sein, weil sich mit dem Bürgergeld gut leben lasse, ist sachlich falsch und stigmatisierend«, äußerte sich Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI. »Das ist das letzte«, was die Betroffenen brauchten, »und es hilft auch nicht bei der gesellschaftlichen Problemlösung, weil es von wirksamen Lösungsansätzen ablenkt«. Im Rahmen der Analyse hat WSI-Forscher Eric Seils für drei typische Haushaltskonstellationen Modellrechnungen unter Berücksichtigung aller relevanten Sozialleistungen und regionaler Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) zu den gewährten Unterkunftskosten. Dabei wurden Arbeitsverhältnisse in Vollzeit auf Mindestlohnniveau mit den Bezügen eines Bürgergeldempfängers in Beziehung gesetzt.
Für einen erwerbstätigen Alleinstehenden ergibt sich der Analyse zufolge ein Nettolohn von 1.572 Euro pro Monat, während man mit Bürgergeld zuzüglich Wohnkostenübernahme auf Einnahmen von höchstens 1.015 Euro kommt. Bei einer Mutter mit Kind beläuft sich der Vorteil auf 749 Euro. Bei einem Ehepaar mit einem Alleinverdiener und zwei Kindern im Alter von fünf und 14 Jahren sind es 660 Euro, die der Familie mehr zur Verfügung stehen als einem vergleichbaren Haushalt mit Grundsicherung. »Wir wollen die Diskussion versachlichen«, befand Kohlrausch am Donnerstag gegenüber junge Welt. »Es darf nicht sein, dass Menschen mit Niedriglohn und sozial Hilfsbedürftige weiter gegeneinander ausgespielt werden, und es ist höchste Zeit, die fälligen arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen anzupacken.« Dazu gehörten mehr und bessere Qualifizierungsangebote und »in vielen Fällen Entlastung von sehr zeit- und kraftintensiver Sorgearbeit wie der Pflege von Angehörigen oder der Betreuung von Kindern«.
Tatsächlich stellt die Studie auf den »Idealzustand« ab, dass auch Geringverdiener alle ihnen zustehenden Sozialleistungen beanspruchen, zum Beispiel Wohngeld, Kindergeld und Kinderzuschlag. In der Realität sieht das häufig anders aus, weil entsprechende Angebote gar nicht bekannt sind oder ihre Wahrnehmung zu schambehaftet ist. Das könnte man der WSI-Arbeit als Schwäche ankreiden. »Umgekehrt gibt es aber auch unter den sozial Bedürftigen nicht wenige, die nicht das erhalten, was ihnen laut Gesetz zusteht«, bemerkte die WSI-Direktorin. Zudem war es einmal das Ziel der abgewählten Ampelregierung, sämtliche Leistungen für Haushalte mit Heranwachsenden im Rahmen einer »Kindergrundsicherung« automatisiert, also antragslos auszuzahlen. Das würde viel Leid mindern, wäre aber teuer, weshalb das Projekt komplett abgeräumt wurde.
Hier zeigt sich die Heuchelei derer, die gegen unten Stimmung machen. Sie wollen nicht, dass es Niedriglöhnern besser geht, sondern sie sollen sich nur »besser« fühlen, wenn es anderen noch schlechter geht. Exemplarisch dafür steht Holger Schäfer vom kapitalnahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW), den die Bild-Zeitung als Kronzeugen gegen die WSI-Botschaft vorschickte. Es lohne sich für einen Bürgergeldbezieher »nur sehr wenig – oder in einigen Konstellationen sogar überhaupt nicht –, seine Arbeitszeit auf Vollzeit auszudehnen«, erklärte er. Woraus für ihn aber nicht folgt, die Löhne zu erhöhen, sondern beim Sozialen zu kürzen. So geht »Gerechtigkeit« nach Machart der Neoliberalen.
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