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Aus: Ausgabe vom 13.08.2025, Seite 1 / Titel
Zur Lage der Bundesregierung

100 Tage Murz

Nach fortwährenden Störmanövern schon jetzt angezählt. Die neue Bundesregierung macht keine gute Figur
Von Daniel Bratanovic
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Schon jetzt zerknautscht: Deutschlands berühmteste Haarinsel

Das immerhin lief einigermaßen reibungslos und geschah schließlich, so wurde behauptet, zum Wohle der Nation und damit einfach aller. Als der Bundestag am 18. März dieses Jahres mit Zweidrittelmehrheit beschloss, aus dem Land mit historischer Neuverschuldung und monströsem Rüstungspaket wieder ein waffenstarrendes zu machen, schien auch die Grundlage für geräuschloses Regieren gegeben. Denn per Ausgabe von Staatsanleihen sollte Geld keine Rolle mehr spielen, der Streit um den Haushalt wirkte damit wie ein abgelegtes Problem, an dem die Versager der alten Regierung gescheitert waren, und auch von den Gewerkschaften, von den Kapitalverbänden sowieso nicht, kamen keine Einwände.

Nicht ganz zwei Monate später war im gleichen Haus Kanzlerwahl, die zwar nicht zur Dämmerung geriet, aber doch mit einem erheblichem Dämpfer endete. Am 6. Mai verfehlte Friedrich Merz im ersten Wahlgang die notwendige Mehrheit um sechs Stimmen; mindestens 18 Abgeordnete aus den Reihen der beiden Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD müssen dem CDU-Vorsitzenden die Zustimmung verweigert haben. Ein bisher einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik. Erst der zweite Wahlgang brachte Merz ans Ziel, ein Fehlstart nach Maß.

Wirkliche Ruhe ist seither nicht mehr eingekehrt. Anfang Juli konnte sich der Koalitionsausschuss von Union und SPD nicht auf eine Stromsteuersenkung für alle Verbraucher einigen, entlastet wurden lediglich die Industriekonzerne. Dem sozialdemokratischen Vizekanzler und Kassenwart der Republik fiel die Aufgabe zu, die einseitige Begünstigung des großen Kapitals zu begründen. Es sei – so, so – schlicht kein Geld für mehr da. Flankiert von Bild (»Steuersauerei«) hinterfragten prominente Vertreter von CDU und CSU den Beschluss, düpierten Klingbeil und ließen die SPD alt und asozial aussehen.

Zu diesem Zeitpunkt schwelte längst ein Streit um die Wahl neuer Richter für das Bundesverfassungsgericht. Bei vollständiger Abwesenheit einer originären linken Position in der Debatte entpuppte sich der Konflikt um die Personalie der von der SPD für das Amt nominierten Juristin Frauke Brosius Gersdorf als Kulturkampf zwischen einem beschädigten progressiven Liberalismus und einem nach Merkels Tagen wiederauferstandenen muffigen Konservatismus, bei dem Teile der Unionsfraktion eine inoffizielle Koalition mit der AfD eingegangen waren.

Zu keinem Zeitpunkt machte der Kanzler dabei ­bella ­figura – und wird weiter demontiert. Zuletzt wegen seiner angeblich einsamen Entscheidung, den Export von Waffen an Israel, die von der dortigen Armee in Gaza eingesetzt werden könnten, einstweilen auszusetzen.

Somit wirkt die neue Bundesregierung bereits nach 100 Tagen im Amt wie eine Mannschaft auf Abruf, wozu am Dienstag die Demoskopen die Zahlen und die Springer-Blätter, an der Zermürbung der Koalition offensichtlich interessiert, die kongeniale Schlagzeile liefern: »Umfrageschock für Merz. AfD überholt die Union«. Und dpa hat registriert: »Im Bundestag applaudieren SPD, Grüne und Linke längst wieder zusammen.«

Die Scharmützel gegen den Kanzler aus den eigenen Reihen häufen sich, so dass strategisches Kalkül nicht mehr abwegig erscheint: Bestimmte Kreise in den Unionsparteien proben offenbar eine künftige Koalition mit der AfD. Ein Staat, der sich zur Kriegstüchtigkeit aufputscht, verlangt zur Finanzierung dieser Militarisierung tiefe Einschnitte ins Sozialwesen. Eine SPD, die daran aus Selbsterhaltungsgründen kein Interesse haben kann, stört da nur.

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