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Aus: Ausgabe vom 19.08.2025, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Medizin

Toxische Beimischung

Durch Fentanyl verunreinigtes Heroin gefährdet Abhängige. Wissenschaftler forschen an Ersatzstoff aus dem Meer
Von Florian Osuch
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Unscheinbar, aber hochgefährlich. Das synthetische Opioid Fentanyl kann auch zu Pulver zerrieben und geraucht werden

Droht Deutschland eine ­Opioidkrise wie in den USA? Immer wieder gibt es Berichte, wonach die Bundesrepublik kurz vor einer Situation wie in den Vereinigten Staaten stehe. Dort wurde infolge massenhaften Missbrauchs von Schmerzmitteln (vgl. junge Welt vom 12.12.2023) bereits 2017 der nationale Gesundheitsnotstand ausgerufen. Für das Jahr 2023 verzeichnete das Center for Disease Control and Prevention 107.543 weitere Drogentote. In Deutschland waren es im selben Jahr 2.227 Tote – eine Verdopplung der Zahlen binnen zehn Jahren.

Wie berechtigt sind Beiträge wie die des ZDF-Magazins »Frontal«, das fragt: »Droht eine deutsche Opioidkrise?« Demnach nehmen jedes Jahr Hunderttausende Deutsche starke Opioide – Schmerzmittel mit hohem Suchtpotential wie Tramadol, Oxycodon oder Fentanyl. Andrew Kolodny, Mediziner an der Brandeis University in den USA, sagt: »Wenn nichts unternommen wird, wird Europa, auch Deutschland, dem amerikanischen Beispiel folgen.« Der Deutschlandfunk meldete: »Fentanylkrise droht auch Deutschland.« In einer MDR-Reportage hieß es im März: »Fentanyl: ›Zombie-Droge‹ auch in Ostdeutschland.«

Die Bundesärztekammer schätzt die Zahl opioidabhängiger Menschen in Deutschland auf rund 166.000 – überwiegend Männer. Meist konsumieren sie Heroin. Etwa die Hälfte von ihnen befindet sich in einer substitutionsgestützten Behandlung: Unter Aufsicht suchtmedizinisch qualifizierter Ärzte erhalten sie Ersatzstoffe wie Methadon. Die Wissenschaft unterscheidet zwischen Opiaten – etwa Morphin, das direkt aus dem Schlafmohn gewonnen wird – und Opioiden, die ganz oder teilweise synthetisch hergestellt werden. In der Medizin dienen Opioide als Schmerzmittel (Analgetika), die sich deutlich in ihrer Wirkungskraft unterscheiden. Als Referenz gilt Morphin mit einer Potenz von 1. Auch schwächere Präparate wie Tramadol oder Tilidin (Wert 0,1) können bei längerer Einnahme abhängig machen. Zu den stärkeren synthetischen Opioiden zählen Oxycodon (Wert 2), Buprenorphin (30–70) und Fentanyl (120). Laut Heino Stöver, Professor für sozialwissenschaftliche Suchtforschung in Frankfurt am Main, ähnelt die schmerzlindernde Wirkung von Opioiden der von Heroin – allerdings sind sie »viel stärker und potenter (…), so dass das Risiko einer Überdosierung« steigt. Vollsynthetische Opioide lassen sich laut Stöver mit pharmazeutischer Kenntnis recht einfach – und vor allem viel preiswerter als etwa Heroin – herstellen.

Viele Tote, keine Krise

Nach Angaben der Deutschen Aidshilfe dringt Fentanyl zunehmend in den deutschen Heroinmarkt. Von insgesamt 1.990 Drogentoten im Jahr 2022 starben laut Aidshilfe 83 unter dem Einfluss synthetischer Opioide. Für Abhängige besteht die Gefahr toxischer Verunreinigungen: Während bei Heroin rund 200 Milligramm tödlich wirken können, genügen bei Fentanyl bereits zwei Milligramm. In einem Modellprojekt untersuchte die Aidshilfe, in welchem Ausmaß Heroin mit synthetischen Opioiden versetzt ist. Über sechs Monate wurden in 17 Drogenkonsumräumen bundesweit RaFT-Schnelltests (Rapid Fentanyl Tests) durchgeführt. Das Ergebnis: 3,6 Prozent von 1.401 getesteten Heroinproben enthielten Fentanyl. Trotzdem zieht die Aidshilfe ein beruhigendes Fazit: »Die erhobenen Daten haben (…) nicht ergeben, dass es schon Veränderungen der Handels- und Szenestrukturen gibt. Eine Situation wie in Nordamerika zeichnet sich aus unserer Sicht aktuell nicht ab.«

Bei den eingangs zitierten Berichten scheint es zu einer Verwechslung zu kommen. Fentanyl wird in Europa – auch in Deutschland – nachweislich Heroin beigemischt, das nach wie vor die meistkonsumierte Droge ist. Die Gefahr tödlicher Überdosierung besteht für bereits Abhängige. Die Opioidkrise in den USA hingegen nahm einen völlig anderen Lauf.

Zwischen 2006 und 2012 wurden dort mehr als 76 Milliarden opioidhaltige Schmerztabletten ausgeliefert. Hunderttausende US-Amerikaner, insbesondere in ländlichen Regionen, wurden abhängig. Mehrere Faktoren trugen zur Krise bei: Pharmaunternehmen warben aggressiv für ihre hochpotenten Schmerzmittel – allen voran »Oxycontin« mit dem Wirkstoff Oxycodon. Pharmavertreter verfügten oft über geringe medizinische Kenntnisse. Auch viele Ärzte unterschätzten die Suchtgefahr – oder ignorierten sie, begünstigt durch Prämien für massenhafte Verschreibungen. Hinzu kam, dass Opioide selbst dann verschrieben wurden, wenn harmlose Alternativen das Schmerzleiden hätten lindern können, etwa Bewegungstherapie, Wärmebehandlung, Ergotherapie oder Akupunktur. Einmal abhängig, fehlten vielen Betroffenen dann die nötigen Hilfsangebote.

Verordnungen rückläufig

Diese Voraussetzungen treffen auf Deutschland nicht zu. Zwar sind Opioide auch hierzulande essentielle Medikamente zur Behandlung starker Schmerzen, ihr Einsatz wird jedoch unter Fachleuten kritisch diskutiert. So schreibt das Deutsche Arzneiprüfungsinstitut in Berlin: »Die längerfristige Wirksamkeit und Sicherheit von opioidhaltigen Analgetika bei chronischen, nichttumorbedingten Schmerzen wird in Frage gestellt.« Ärzte müssten daher gemeinsam mit den Patienten sorgfältig abwägen – unter Berücksichtigung von Nutzen und Risiko sowie möglicher alternativer, medikamentöser und nichtmedikamentöser Behandlungen. Das Institut hat untersucht, wie sich die Abgabe von Opioidarzneimitteln in deutschen Apotheken anhand der definierten Tagesdosen (»Defined Daily Doses«, DDD) entwickelt hat. Das Ergebnis: Zwischen 2019 und 2023 ist der Einsatz aller Opioide insgesamt um sechs Prozent zurückgegangen. Während der Gebrauch der am häufigsten verordneten Wirkstoffkombination Tilidin + Naloxon nahezu konstant blieb, sank der Verbrauch hochpotenter Mittel wie Buprenorphin (minus 10,9 Prozent), Fentanyl (minus 11,4) und Oxycodon (minus 18). Zuwächse gab es hingegen bei Hydromorphon (plus 9 Prozent) und Tapentadol (plus 14).

Auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat die Verordnung opioidhaltiger Schmerzmittel untersucht – auf Basis von Abrechnungsdaten gesetzlicher Krankenkassen. Die Verschreibung solcher Analgetika ging zwischen 2005 und 2019 um 19 Prozent zurück – eine gegenläufige Entwicklung im Vergleich zu den USA. Auffällig ist die Verteilung nach Altersgruppen: Während die Zahl in der Altersgruppe 0–19 Jahre bei nur 1–2 Verordnungen pro 1.000 Personen liegt – vermutlich hauptsächlich in palliativen Kontexten –, steigt sie mit zunehmendem Alter deutlich an. Bei über 80jährigen liegt der Wert bei rund 175. Besonders die einfache Anwendung über sogenannte Fentanylpflaster macht dieses hochpotente Schmerzmittel bei Hochbetagten gebräuchlich. Das BfArM zieht aus den Daten ein klares Fazit: »Insgesamt bestätigen die Projektergebnisse die Erkenntnisse aus früheren Studien, dass es in Deutschland keine Hinweise auf eine sogenannte Opioidkrise gibt.«

Langfristige Alternative

Forscher der Universität Mainz haben im vergangenen Jahr einen Naturstoff entdeckt, der langfristig eine Alternative zu Opioiden darstellen könnte. Ein Team des Instituts für Pharmazeutische und Biomedizinische Wissenschaften durchforstete eine chemische Datenbank mit über 40.000 Naturverbindungen – mit dem Ziel, Substanzen zu finden, die an die für Schmerzlinderung zuständigen Opioidrezeptoren im Körper binden. In einem mehrstufigen Analyseverfahren wurden zunächst 100 vielversprechende Wirkstoffe mit Hilfe komplexer Näherungsberechnungen ausgewählt und anschließend mit weiteren Methoden vertieft untersucht. Die zehn besten Kandidaten gelangten schließlich in ein biochemisches Labor. Das Ergebnis: Der Naturstoff Aniquinazolin B, isoliert aus dem Meerespilz Aspergillus nidulans, bindet an dieselben Rezeptoren wie klassische Opioide. Roxana Damiescu vom Mainzer Institut fasst zusammen: »Unsere Untersuchungen deuten darauf hin, dass dieser Wirkstoff eine ähnliche Wirkung haben könnte wie Opioide, jedoch deutlich weniger Nebenwirkungen aufweist.«

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  • Leserbrief von Dr. med. Ralf Cüppers, Arzt für Psychotheraputische Medizin, Suchtmedizin aus Flenbsurg (24. August 2025 um 00:12 Uhr)
    Die deutsche »Opioidkrise« kenn ich seit mindestens vier Jahrzehnten, weitaus länger, als Opioide in den USA skandalisiert wurden. Opioidrezepte kann jeder bekommen, schon bei banalen Schmerzen, wenn man nur lange genug bei meinen Kolleg*innen jammert und dadurch die Sprechstunde blockiert, bis man mit einem Opioidrezept ruhiggestellt worden ist. Toleranzentwicklung – Dosissteigerung – Kontrollverlust, die Patienten bleiben darauf süchtig hängen, egal, ob sie den Stoff vom illegalen Dealer oder auf Rezept bekommen. Nur 83 Opioid-Drogentote? Solange behandelnde Ärzte für ihre eigenen Patienten die Totenscheine ausstellen dürfen, kann man doch nicht die Selbstkritik erwarten, dass sie zugeben, durch ihre Verordnungspraxis einen unnatürlichen Todesfall verursacht zu haben. Da wird dann als natürliche Todesursache Atemlähmung oder Herzversagen angegeben und nicht weiter untersucht. Patienten, die es eingesehen haben, dass Opioide sie nicht weiterbringen, müssen Entzugserscheinungen und Entzugsschmerzen aushalten. Eine Entgiftung ärztlich zu begleiten, ist wesentlich aufwendiger als die Ausstellung eines Wiederholungsrezeptes. Notwendig ist die Einschränkung des Verordnungsrechtes für Opioide auf Anästhesisten für die kurzfristige Behandlung postoperativer Schmerzen bei der Wundheilung, Suchtmediziner nur zum Herunterdosieren des Opioides in der zeitlich eng begrenzten Entzugsphase des Patienten, sowie Geriater und Palliativmediziner zum Ermöglichen des weitgehend schmerzfreien Sterbens. Insbesondere Hausärzte, Psychiater und Orthopäden sollten Opioide nicht mehr verordnen dürfen. Mit Ausnahme der Palliativmedizin zum Lebensende ist jede längerfristige Opioidverordnung missbräuchlich. Die Ruhigstellung der Patienten durch Opioide nimmt die Motivation zur ursächlichen Behandlung. Neue »Naturprodukte« als Opioidersatz werden, wenn sie dieselben Rezeptoren bedienen, ebenso süchtig machen. Auch Fentanyl wurde bei Enführung als »nebenwirkungsärmer« beworben.

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