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Aus: Ausgabe vom 11.08.2025, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Ausweitung der Kampfzone

»Die nahrhafte Verzweiflung des Wirklichen«: Richard Wall plädiert für eine Sensibilisierung der Wahrnehmung
Von Jürgen Schneider
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Im österreichischen Waldviertel ebenso zu Hause wie im Westen Irlands: Richard Wall

Nur ungläubig mit dem Kopf schütteln können werden Bürgerinnen und Bürger, die sich im öffentlichen Raum mit Kopfhörern, des Sommers wegen mit Extremsportsonnenbrille sowie mit längst an ihren Fingern angewachsenen Smartphones bewegen und sich mittels fortgesetzter Wischbewegungen auf ihrem Miniscreen »Infos reinziehen«, über das neue Buch des österreichischen Schreibers, Dichters und Künstlers Richard Wall mit dem Titel »Die nahrhafte Verzweiflung des Wirklichen«.

Geben sich die Smartphonejunkies lediglich einer kontinuierlichen Flut von Reizen hin, plädiert Wall zwecks Weltkenntniserweiterung für eine Sensibilisierung des Sensoriums, für genaues Hinsehen und -hören. Er lebt in der Gewissheit, dass Beobachten mit Erkenntnis zu tun hat: »Auf den wissenden Blick kommt es an, dieser lässt sich nicht korrumpieren.« Wall fragt sich: »Was habe ich übersehen?« Oder: »Was ist das Wesentliche?«

Die achtzig Kurztexte des Buches als »Prosa« zu bezeichnen ist reinstes Understatement. Richard Wall, im österreichischen Waldviertel ebenso zu Hause wie im Westen Irlands, wo er vor 20 Jahren beobachtete, wie die Dubliner Söhne des sogenannten Wirtschaftswunders »Celtic Tiger« sich vorm Fernseher heiser grölten, liest nicht nur täglich in der Landschaft vor seinem Fenster. Er teilt seine Beobachtungen der disruptiven Veränderungen im Kleinen wie im Großen mit uns in einer feinen Sprache, wissend, dass durch das Spiel mit Wörtern Sinn entstehen kann. Sein Gewährsmann ist der deutsche Poet, Sprachgelehrte und Übersetzer Friedrich Rückert (1788–1866). Wall schreibt an gegen »die kalte Systemsprache der Macht und des Marktes«.

Wenn er seine Streifzüge unternimmt, sieht er nicht einfach Blumen, Vögel oder Wolken, sondern kennt auch deren Namen oder weiß das Wahrgenommene zu beschreiben. »Zaghaftes Aufblühen: Sumpfdotterblumen, Buschwindröschen, rötliche Blütenbürsten der Pestwurz, traubig, noch ohne Blattgrün die weißen; Hirschzunge und Tüpfelfarn, durch späte Schneelast eng an den Boden gelappt; von bemoosten Felsen und Wurzeln begrenzter Bachlauf, stürzendes schweres Weiß im Morgenlicht … Höhersteigend verstummen die Stimmen der Vögel, von Zilpzalp und Buchfink; Haubenmeisen, flink im Gezweig, finden Nahrung in den Rindenspalten der Fichten und Borken der Föhren.« Am Schwarzensee sieht er »Mädesüß, Natternkopf, Weißknopfdistel, Farne – eine solitäre Zyklame.« Zyklame? Sie ist oft auch auf Fensterbänken deutscher Wohnzimmer zu sehen, heißt dort aber Zimmer-Alpenveilchen (Cyclamen persicum). Neben einer Güllepfütze fällt Walls Blick auf »die halbkugelig gelben Blüten einer Berberitze: So blüht jetzt, Anfang Mai, kein anderer Strauch.« Einmal zählt er abends die »Vorräte an Wolken, prall an Graten und in den steinernen Taschen der Kare, konvex ihre Formen wie Kohle in Säcken, die niemand klaut, weil sie zu schwer sind, und so langsam, aber krachend, das durchlöcherte Gebirge zerdrücken.«

Seit Jahrzehnten eingebunden in die Kampfzone zwischen Urbanität und Land, entgeht dem Beobachter Wall nicht das hässliche Konglomerat, das sich über die Hügel und Täler stülpt. Längst ist »jeder Boden eine Gewinnspanne, jeder Quadratmeter eine Ware, ein umkämpftes Terrain«. Die Landschaft, so Wall, ist unsäglich verhunzt, von einem Übermaß an Straßenbau und industrieller Landwirtschaft vergewaltigt, mit Plakatwänden zugestellt, sie atmet durch die Rohre der Verbrennungsmotoren, frisch geteerte Bänder greifen schubraupenbreit hinein in die Wälder. »Wohin kommen wir, wenn das Land so verkommt? Die Birnbaum-Allee, der entlang ich schritt zur Schule, verschwunden. Die letzten Bäume geschlägert Anfang Februar 2011. Sie führte hin zum Bauernhof, 1674 als Schloss Breitenbruck vom Tiroler Pfarrer Georg Matthäus Vischer gezeichnet und gestochen.«

Am Fluss kann Wall keine Flossenträger mehr zählen, es gibt sie nicht mehr. Er berichtet von den Nachbarn »mit ihren Glas-Beton-Villen, zugeschotterten Vorgärten und Sichtschutzzäunen mitten im Dorf. Genau an jenen Stellen, an denen einst Bauernhöfe standen mit Hütten, Obstbäumen, Krautgärten und von Granitsäulen getragenen Böhmischen Gewölben in den Ställen. Ich sagte Dorf? Nichts blieb von ihm.« Ins Schwitzen kommen die noch existierenden Bäuerinnen und Bauern heute bei der Papierarbeit, die ihnen die Bürokratie auferlegt: »Die hockt unnahbar wie ein Gott und unerreichbar für Sense und Morgenstern, in Häusern aus Glas und Beton, wo sie einer aussterbenden Rasse den Milchpreis, den Durchmesser ihrer Früchte, das Saatgut und den Zeitpunkt ihres Abtretens diktiert.«

In dem »Aufbruch« betitelten Text ist von einem »Er« die Rede, der sich sagte, es gehe ihm »um unprogrammierte, unprogrammierbare Versuche, inspiriert vom Leben abseits von Heiterdiekunst, Fernheizung und Klimaanlage. Und, setzte er fort, lassen wir nicht zu, dass uns auch noch die Köpfe gewaschen werden. Erhebet euch, und holet euch die Ernte des Tages zurück, und haltet euch, was ihr liebt, lebendig im Sinngefüge der Welt!«

Richard Wall: Die nahrhafte Verzweiflung des Wirklichen. Löcker-Verlag, Wien 2025, 190 Seiten, 19,80 Euro

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