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Aus: Ausgabe vom 09.08.2025, Seite 15 / Geschichte
USA

Aufbegehren gegen Willkür

Nach der Festnahme eines jungen Afroamerikaners brach vor 60 Jahren in Los Angeles die »Watts-Rebellion« aus
Von Jürgen Heiser
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Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Ein Jeep der US-Armee fährt durch das zerstörte Watts (16.8.1965)

Eine Woche nachdem US-Präsident Lyndon B. Johnson in einer medial bejubelten Zeremonie im Weißen Haus das Wahlrechtsgesetz »Voting Rights Act« unterzeichnet hatte, das laut offiziellen Verlautbarungen den Höhepunkt des Entgegenkommens des US-Staats auf die Bürgerrechtsbewegung darstellte, brachen die sogenannten Watts-Unruhen aus.

Diese nach dem Stadtteil von Los Angeles benannten Ereignisse vom 11. bis 16. August 1965 sollten endlich nicht mehr als »Watts Riot«, also als »Unruhen« bezeichnet werden, forderte im »Black August« 2021 Keith Claybrook Jr., Assistant Professor of Africana Studies an der California State University von Long Beach. »Bezeichnen Sie die Ereignisse als ›Los Angeles Rebellion‹, um Stimme und Handlungsfähigkeit der Menschen anzuerkennen«, riet Claybrook den Lesern im Blog Black Perspectives der African American Intellectual History Society (AAIHS) und brach damit eine Lanze für die Bewohner von Watts, die vor nunmehr sechzig Jahren im damals noch großen »Black Ghetto« der kalifornischen Metropole gegen rassistische Unterdrückung und soziales Elend aufbegehrten.

Auch wenn die Rebellion am 11. August 1965 begann, so reichen – wie auch bei den anderen US-Ghettoaufständen der 1960er Jahre – ihre Wurzeln weiter zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten über eine halbe Million Afroamerikaner aus dem Süden und Osten der USA, wo sie keine Perspektive mehr für ein menschenwürdiges Leben sahen, in die Großstädte an der Westküste aus. Doch ihre Hoffnung, Rassismus, Diskriminierung und Armut zu entkommen, wurde enttäuscht. Denn auch hier fanden sie sich bald eingepfercht in heruntergekommene Stadtteile wieder, aus denen die weiße Bevölkerung längst in die »besseren« Vorstädte weggezogen war. Ihre erneute Isolierung in Watts zeigte den Schwarzen, dass die seit dem Ende der Sklaverei und den ersten politischen Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung theoretisch mögliche »Chancengleichheit« angesichts der fortbestehenden Diskriminierung in den Bereichen Wohnen, Bildung, Arbeit und politische Teilhabe weiter ein leeres Versprechen blieb.

Wie ein Lauffeuer

Die Rebellion begann am Mittwoch, dem 11. August, als eine Streife der Los Angeles Highway Patrol den jungen Afroamerikaner Marquette Frye, der mit seinem Bruder Ronald im Auto unterwegs war, wegen einer angeblichen Geschwindigkeitsüberschreitung stoppte. Als sich eine neugierige Menge um die Verkehrskontrolle an der Ecke East 116. Street und Avalon Boule­vard in Watts versammelte, forderten die Streifenpolizisten Verstärkung vom Los Angeles Police Department (LAPD) an. Der Vorfall ereignete sich in der Nähe von Fryes Zuhause, einem ärmlichen Gewerbeviertel mit niedriggeschossigen Mietshäusern. Als Marquette sich in einem Handgemenge seiner Festnahme zu widersetzen versuchte, kam auch die von Nachbarn alarmierte Mutter der Brüder dazu. Rena Frye sah, wie einer der herbeigerufenen LAPD-Beamten seine Waffe zog, und sprang dem Beamten auf den Rücken, was die umstehende Menge mit Jubel begrüßte. Die Cops nahmen daraufhin sowohl die zwei Brüder als auch ihre Mutter fest.

Die Nachricht über die Festnahme verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch das Viertel. Es dauerte weniger als eine Stunde, bis sich die wütenden Bewohner von Watts in Massen zu ersten Protesten sammelten. Das übergriffige und gewaltsame Vorgehen der in diesem Viertel ohnehin verhassten weißen Polizisten hatte einen Aufstand ausgelöst, der sich sechs Tage und Nächte hinzog und an dem nach unterschiedlichen Quellen schätzungsweise 30.000 Menschen beteiligt waren. Viele der Aufständischen plünderten aus Not Lebensmittel- und Bekleidungsgeschäfte. Andere lieferten sich Kämpfe mit den Beamten des LAPD, die sie unmittelbar für die Aufrechterhaltung von Armut und rassistischer Diskriminierung in Los Angeles verantwortlich machten.

Die Bürgerrechtler Stokely Carmichael und Charles Hamilton betonten 1967 in ihrem Buch »Black Power«, es sei wichtig zu beachten, dass der Aufstand »nicht auf Watts beschränkt war«. Die Schäden hätten sich »über ein Gebiet von 46,5 Quadratmeilen erstreckt, wobei Watts nur 2,12 Quadratmeilen der Gesamtfläche ausmacht«. Demnach habe die Rebellion »in den meisten Teilen des schwarzen Los Angeles« stattgefunden. Die Festnahmen von Marquette, Ronald und Rena Frye hätten zwar die Rebellion ausgelöst, seien aber nicht die Ursache an sich gewesen. »Sie waren sozusagen ›der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte‹«, so die Autoren.

Tausende Festnahmen

Am Sonnabend, dem 14. August, verhängten die Behörden eine Ausgangssperre, und rund 14.000 mobilisierte Soldaten der Nationalgarde übernahmen den Patrouilliendienst der Polizei. Sie errichteten Straßensperren mit Kontrollpunkten – wie eine Besatzungsarmee. Die meisten afroamerikanischen Einwohner der betroffenen Wohnblocks zogen sich daraufhin in ihre Häuser oder in andere Viertel zurück. Bis Montag flachten die Proteste ab.

Den offiziellen Angaben zufolge starben bei der bis dahin größten städtischen Rebellion in den Vereinigten Staaten der 1960er Jahre 34 Menschen, 1.032 wurden verletzt. Es gab fast 4.000 Festnahmen mit anschließenden Strafverfahren und Haftstrafen. Die Sachschäden wurden mit 40 Millionen US-Dollar beziffert.

Zwar veranlasste die Rebellion die US-Bundesregierung in Washington, im Rahmen von Präsident Lyndon B. Johnsons Kampagne »Krieg gegen die Armut« Programme zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit sowie zur Verbesserung der Bildung, Gesundheitsversorgung und Wohnsituation aufzulegen. Indes beherrschten Ungleichheit, Armut und rassistische Polizeigewalt weiterhin das Leben in Watts und anderen Vierteln von Los Angeles mit mehrheitlich schwarzer Bevölkerung. Die Verhältnisse verbesserten sich trotz der militanten Proteste nicht wirklich, weil ein Großteil der für die Regierungsprogramme bereitgestellten Mittel letztendlich in den von Washington ausgeweiteten Vietnamkrieg floss.

Heute besteht die Bevölkerung von Watts überwiegend aus Latinos, darunter viele, die als Wanderarbeitskräfte aus den mittelamerikanischen Ländern El Salvador, Guatemala und Honduras in die USA kamen und denen unter der Trump-Regierung die Abschiebung droht. Obwohl sich die Bevölkerungsstruktur also gewandelt hat, ist der Stadtteil auch heute noch eine Art Ghetto, das von den bekannten Problemen geplagt wird: Armut, Diskriminierung und weißer Vorherrschaft.

Sprengstoff der Rassisten

Hier schwelt die Glut, die immer wieder das Dynamit in den Ghettos zur Entzündung bringen wird: ungeeignete Leute auf den entscheidenden Posten, anachronistische Institutionen, Unfähigkeit, mutig und realistisch zu denken, und über allem die Weigerung, Neuerungen einführen zu wollen. Die behelfsmäßigen Pläne, die jeden Sommer von den Stadtverwaltungen zusammengebastelt werden, um Aufstände in den Ghettos zu vermeiden, bringen nur einen Aufschub. Das weiße Amerika kann weiterhin Millionen Dollars aufwenden, um die Halbwüchsigen während der heißen Sommermonate von den Straßen der Ghettos wegzuholen und auf hübsche grüne Farmen zu verschicken. Es kann weiterhin transportable Schwimmbecken und eilig gebaute Spielplätze zur Verfügung stellen, aber wenn ein bestimmter Punkt überschritten ist, sind siedendheiße Ghettos nicht mehr abzukühlen. Es ist lachhaft, wenn die Öffentlichkeit annimmt, diese gelegentlichen und zeitlich begrenzten Maßnahmen könnten lange die Leidenschaft eines unterdrückten Volkes zurückhalten. Und wenn das Dynamit dann hochgeht, sollte das fromme Gerede von Geduld aufhören. Nicht den »von außen kommenden Agitatoren«, dem »kommunistischen Einfluss« oder den Verfechtern von Black Power sollte man die Schuld geben. Dieser Sprengstoff wurde vom weißen Rassismus gelegt, und weiße Rassisten haben ihn mit ihrer Gleichgültigkeit und der Weigerung, gerecht zu handeln, entzündet.

Aus: Stokely Carmichael/Charles Hamilton: Black Power. Die Politik der Befreiung in Amerika. Stuttgart 1968, S. 178 f.

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