Schneise der Zerstörung
Von Patrick HönigDer Ururgroßvater ist ein berühmter Mann, nach dem im Pariser Ethnologiemuseum Musée du quai Branly eine ganze Sammlung benannt ist: Charles Wiener (1851−1913). In Wien wird er geboren, dort heißt er Karl, wächst im mondänen dritten Bezirk auf. In jungen Jahren zieht er nach Paris, arbeitet als Deutschlehrer, lernt die richtigen Leute kennen und wird 1875 mit einer Forschungsmission nach Peru und Bolivien betraut. Vollbeladen mit geraubten Kunstschätzen kehrt er nach Frankreich zurück und lässt sich als »Entdecker« feiern. Über die Ururgroßmutter Maria Rodriguez ist nicht viel bekannt. Anders als die Beutekunst hat Charles sie in Peru zurückgelassen, schwanger und mittellos. Gabriela, die Protagonistin des Romans, ist beim Besuch des Museums befremdet, denn im Glas der Schaukästen, in denen die prähispanische Porträtkeramik ausgestellt ist, spiegelt sich das eigene Gesicht, dessen Züge sie im Antlitz der Figuren wiederzuerkennen meint. Plündern, stellt sie fest, ist »eine Form von Gewalt«, und vielleicht weil sie in einem Land aufgewachsen ist, dessen Regierung im Kampf gegen den Sendero Luminoso über Jahre Menschen verschwinden ließ, gibt ihr das leere Grab einer Kindermumie den Rest. Wäre das geraubte Kind noch da, sie würde es an sich nehmen, nach draußen laufen, auf die Mole, »nur weg, so weit wie möglich«, und dann, so richtig Gangsta, »ein paar Schüsse in die Luft«.
Gabriela stellt sich der Geschichte ihrer Familie, auch den Lügen. Sie reibt sich an der schillernden Figur, die, wie die Familie glaubt, ihr Ahne gewesen ist, beschreibt schonungslos, wie Charles sich selbst überhöhte und Gott spielte im Leben anderer Menschen. Seine beruflichen Erfolge beeindrucken sie nicht, nicht die diplomatische Laufbahn, die ihn nach Chile, Mexiko, Paraguay, Bolivien, Uruguay und Venezuela führte, nicht die Aufnahme in die französische Ehrenlegion. Sie stellt seine wissenschaftlichen Leistungen und seine Motive in Frage – und sie ist nicht allein. In der Forschung wird Wiener heute kritisch gesehen. Das Hauptwerk seiner wissenschaftlichen Laufbahn, ein Bericht seiner Forschungsreise nach Peru und Bolivien, sei »unbedeutend, weil ungenau, unzuverlässig« und dazu noch »schlecht illustriert«. Wiener sei schlampig mit Informationen umgegangen, daher könne seine Sammlung auch nur in Teilen kontextualisiert werden. Und weil Hochmut vor dem Fall kommt, kann sich Gabriela einen Seitenhieb nicht verkneifen. Charles war »ganz nah dran« an Machu Picchu, der Inka-Stadt, die heute Weltkulturerbe ist, aber gefunden hat er sie nicht. Sie selbst aber hat sie erkundet, gemeinsam mit ihren Freundinnen, nach tagelanger Wanderung auf dem »Inka-Trail«, mit einer »Apfel-Bong« in der Hand. Und doch imponiert ihr der Wiener Charme des Charles Wiener, und etwas von ihm findet sie auch in sich selbst, die Zerrissenheit einer migrantischen Existenz, das Gefühl, dazugehören zu wollen, der Hang zum Hochstapeln, von dem sie, wie sie sagt, als Journalistin nicht frei ist.
Die biographischen Einschläge kommen näher, als der hypochondrisch veranlagte Vater stirbt, an Krebs. Gabriela lebt da schon lange nicht mehr in Lima, sondern in Madrid, und sie kommt zu spät. Der Vater war ein Ehebrecher, der sich in zwei Haushalten eingerichtet hat, dem, in dem sie und ihre Schwester großgeworden sind, und dem, in dem die »andere« zu Hause ist, auch sie mit einem Kind. Sie trifft sich mit der Geliebten und erfährt von der Tarnung, die erst am Ende aufflog. Wenn er seine Frau verließ und zu ihr ging, trug der Vater eine Augenklappe, als leide er, wenn er Vertrauen brach, an einem körperlichen Gebrechen. Würdevoll, wie die beiden Frauen, die Mutter und die Geliebte, mit der Situation umgehen. Sie geben sich Raum am Bett des Sterbenden und halten gemeinsam Totenwache. Dann fegen sie »die Reste des Festes eines anderen auf«, teilen die Asche und: »Jede ging ihrer Wege.«
Die Protagonistin, von der man stets den Eindruck hat, dass sie mehr autobiographische Anteile enthält, als die Genrebezeichnung Roman vermuten lässt, treibt sich in Lima herum und beginnt eine Beziehung mit einem jungen Journalisten. Sie spürt, dass sie mit ihrem Verhalten das Leben aufs Spiel setzt, das sie sich in ihrer neuen Heimat aufgebaut hat. Dort führt sie eine offene Dreiecksbeziehung mit ihrem Mann, einem Cholo wie sie selbst, und einer weißen Frau spanischer Staatsangehörigkeit. Und sie mag beruflich angekommen sein und für El País schreiben, aber rassistischen Anfeindungen ist sie trotzdem ausgesetzt. »Sudaca« nennt man solche wie sie, ein Wort, in dem zwei weitere Wörter stecken, »Sudamérica« und »caca«, also wenn man so will, der menschliche Müll aus Südamerika. Wenn so viel zusammenkommt, darf man auf die Idee kommen, sich Hilfe zu suchen, aber eine psychotherapeutische Behandlung kommt für Gabriela nicht in Frage, und man ahnt warum: Sigmund Freud hat die breite Stirn und den Bart eines Professors, wie Charles Wiener. »Mein Begehren dekolonisieren« heißt also die Gruppe, der sich Gabriela anschließt, ein »pädagogisches Experiment« nach außen, eine »andere Form des Zusammenseins« nach innen. Und es ist die Frau aus Barranquilla, Kolumbien, die sie sexuell dekolonisiert.
Welchen politischen Beitrag die sexuelle Befriedigung einzelner Teilnehmer einer Selbsthilfegruppe leistet, bleibt das Geheimnis dieses Buchs. Aber Gabriela Wiener legt die generationenübergreifenden Verletzungen offen, die koloniale Strukturen den Gesellschaften des globalen Südens geschlagen haben, und sie zeigt Wege zur Wiedergutmachung. Einer davon: sich selbst feiern. Am Ende einer Lesung stellt sie sich vor das Publikum und macht Selfies, eins mit dem Moderator und der Schauspielerin, die den deutschen Text gelesen hat, und eins nur mit sich selbst.
Gabriela Wiener: Unentdeckt. Aus dem peruanischen Spanisch von Friederike von Criegern. Kanon-Verlag, Berlin 2025, 192 Seiten, 22 Euro
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