»Beweise gegen Nazischweine«
Von Sabine Lueken
»Ein wunderschönes, palastartiges Anwesen« – so beschreibt Fritz Traugott am 3. Juli 1945 in einem Brief an seine Frau Lucia den neuen Standort seiner Einheit in Berlin. Zuvor hatte das Vorauskommando der U. S. Army, dem der Sergeant angehörte, in Zelten im Grunewald kampiert. Dann requirierten sie die Villa – heute bekannt als Nazitäterort bürokratischen Schreckens. Ein bisher unbekanntes Foto zeigt das efeubewachsene Gebäude mit der US-Flagge auf dem Dach: »On the Roof of Himmler’s Guesthouse«.
Die Ausstellung im Garten der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz eröffnet dem Ort eine bisher unbekannte Perspektive. Die US-Soldaten wussten damals nichts von der Besprechung, deren Protokoll erst 1947 entdeckt wurde. Das im Haus gefundene Briefpapier mit dem Aufdruck »Der Reichsführer SS« gab jedoch Hinweise auf die Nutzung. Als Traugotts Kinder Michael, Mark und Kathryn 2018 nach dem Tod der Mutter den Nachlass sichteten, stießen sie auf Briefe, Fotos und Dokumente – heute die Grundlage der Ausstellung.
Fritz Julius Traugott (1919–1995) gehörte zu den »Ritchie Boys«, einer Spezialeinheit der US-Armee, die zu etwa 20 Prozent aus deutschsprachigen jüdischen Emigranten bestand. Nach einer Ausbildung in Gegenspionage und Vernehmungstechniken in Camp Ritchie, Maryland, verhörten sie deutsche Kriegsgefangene und Kriegsverbrecher. Zu den bekannten Ritchie Boys zählen Henry Kissinger, Stefan Heym, Hans Habe, Georg Kreisler und J. D. Salinger.
Im Juli 1944 kam Traugott mit einem Auftrag des britischen Geheimdienstes nach London. Wenige Monate nach der Landung der Alliierten in der Normandie wurde er im Dezember nach Stenay in Frankreich versetzt, wo seine Einheit, die Mobile Field Interrogation Unit #2 (MFIU), Hunderttausende deutsche Kriegsgefangene verhörte. Anfang Mai überschritten sie die Grenze nach Deutschland.
Traugott schrieb seiner Frau von der bevorstehenden Kapitulation: »Die Nachrichten sind wirklich wunderbar (…) Damit ist die Sache so gut wie erledigt.« Aus Bad Lippspringe, wo die Einheit länger blieb, berichtete er ihr im nachhinein von seiner Zeit in Frankreich während der deutschen Ardennenoffensive: »Es war ein paar Wochen lang kein Picknick (…) Ich will einfach nur nach Hause und für immer und ewig bei dir sein.«
Traugott wuchs in Hamburg auf und besuchte die reformpädagogische Lichtwarkschule, bevor er 1936 verwiesen wurde und eine Lehre als Bankkaufmann begann. 1938 floh er mit seinem Bruder Wolfgang in die USA. Seine Lehrerin Erna Stahl wurde 1943 von der Gestapo wegen »Hochverrat« und »Verseuchung der Jugend« verhaftet. Seine Eltern konnten 1940 über Stockholm in die USA fliehen. Die Schwester Hedwig blieb mit ihrem nichtjüdischen Mann und zwei Töchtern in Hamburg, musste Zwangsarbeit leisten, ihr Mann verlor seine Stelle als Lehrer. Später verweigerte man der Familie Auswanderung und Entschädigung. Als Traugott, der von Bad Lippspringe aus nach Hamburg gefahren war, um seine Schwester zu suchen, all dies erfuhr, traute er sich nicht, es den Eltern mitzuteilen – wie sollte man es ihnen begreiflich machen?
Aus Wannsee schreibt Traugott seiner geliebten Frau, die mit dem fast einjährigen Sohn Michael in Providence, Michigan, lebt, fast täglich – oft auf Briefpapier mit dem Aufdruck »Adjutantur des Führers«, das er bei einem Zwischenstopp aus der Reichskanzlei mitgenommen hat. Mit einer neuen Kamera fotografiert er seine Umgebung, die anderen »Boys« oder die deutschen Kriegsgefangenen, die ihnen zur Arbeit zugeteilt sind, darunter der Antisemit und Genealoge Friedrich Wilhelm Euler. Eulers Aufgabe ist es, Informationen über prominente Nazifamilien zu liefern, die von den Ritchie Boys verhört werden.
Meist versucht Traugott, seine Briefe in einem leichten Ton zu verfassen, aber das gelingt nicht immer. »Zur Zeit sehe ich die Beweise gegen diese Nazischweine, ich spreche jeden Tag mit diesen Verbrechern, mit Gestapo-Männern, KZ-Aufsehern, die weiblichen sind die schlimmsten.« In Bad Lippspringe begegnete er tschechischen und ungarischen Jüdinnen aus Auschwitz, Mädchen, die gerade aus einem Zwangsarbeitslager entlassen worden waren. »Sie befanden sich alle in einem schrecklichen Zustand, unterernährt, misshandelt.« Als sie ihn später per Brief um Rat baten, berichtet er seiner Frau von dieser Begegnung und schämt sich, dass er ihnen nicht helfen konnte. Wie kann man nach all dem ein neues Leben beginnen?
Ähnliches wird sich auch sein Mitstreiter, Master Sergeant Charles Gregor, gefragt haben. In einem Brief vom Juli 1945 schildert er den jüdischen deutschsprachigen Leserinnen und Lesern der Exilzeitschrift Aufbau in New York – »auf einem Briefbogen aus feinstem Elfenbeinpapier mit eingeprägtem Hakenkreuzemblem und den goldenen Lettern ›Der Führer‹ (›der richtige Hintergrund für meinen kleinen Bericht‹)« – seine Eindrücke:
»Während wir die breiten Straßen hinunterwandeln, scharwenzeln die Leute um uns herum, winken oder lächeln uns zu. Kinder grüßen. Wo sind wir? Im befreiten Paris oder im eroberten Berlin? Gutaussehende, tadellos angezogene Blondinen lächeln uns an, und wir versuchen hart dreinzuschauen, uns an Buchenwald und Dachau zu erinnern … (…). Die Kinos und einige Theater sind offen und überfüllt. Mit schüchternem und verschämtem Lächeln, das abstoßend wirkt, sucht die Bevölkerung in kriecherischer Weise mit den alliierten Truppen in Kontakt zu kommen. Sie bieten alles und jeden an. Nie zuvor habe ich Churchills berühmtes Wort besser verstanden als jetzt: ›Der Hunne springt Dir entweder an die Kehle oder ist zu Deinen Füssen.‹«
Auch Traugott fiel die Arbeit im Berlin District Interrogation Center nahe der Villa in der Königstraße zunehmend schwer. »Mein Liebling, ich bin im Moment so müde, dass ich kaum meinen eigenen Namen schreiben kann. Wir sind wirklich mit Arbeit überhäuft, und die Art von Fällen, die wir jetzt bearbeiten, erfordert viel Konzentration (…) Liebling, jeden Tag möchte ich mehr denn je zu Hause sein«. Im Oktober durfte er endlich heimkehren. Er gründete eine Schmuckfirma, arbeitete später als Vertriebsleiter. Seinen drei Kindern erzählte er kaum etwas von seiner Kindheit in Deutschland und seiner Zeit in der Armee.
Die Ausstellung endet mit einem Foto des US-Vizepräsidenten J. D. Vance beim Besuch des Konzentrationslagers Dachau am 13. Februar 2025. Einen Tag später, auf der Münchner Sicherheitskonferenz, forderte er, dass rechtsextreme Parteien wie die AfD in Deutschland nicht länger von Regierungskoalitionen ausgeschlossen werden sollten. Da hatte er wohl das Falsche gelernt.
»On the Roof of Himmler‹s Guesthouse. Die U. S. Army 1945 in Wannsee«, Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz, bis 30. Juni 2026
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