Kinder als Sicherheitsrisiko
Von Philip Tassev
In der seit einigen Tagen geführten Debatte um eine mögliche Rettung von Kindern aus dem von den israelischen Besatzern zerbombten Gazastreifen schlägt die Linkspartei ein koordiniertes Verfahren von Bund und Ländern im Rahmen des »Kleeblattmechanismus« vor. Das Konzept, das aus der sogenannten Coronakrise stammt, regelt die Verteilung von Intensivpatienten zwischen den einzelnen Bundesländern, um eine Überlastung von Intensivstationen zu vermeiden. Es wird seit 2022 auch für Patienten aus der Ukraine angewandt.
Die Linke-Vorsitzende Ines Schwerdtner forderte nun den Einsatz des »Kleeblatts« auch für die Aufnahme verletzter Kinder aus Palästina. »Schwerverletzte, schwerkranke und traumatisierte Kinder aus Palästina und Israel brauchen unsere dringende humanitäre Nothilfe für lebensrettende Operationen, Krebs- und Dialysebehandlungen, Rehabilitation«, sagte sie am Donnerstag und kritisierte: »Stadtgesellschaften, Krankenhausteams und Rehazentren in Deutschland wollen helfen, doch die Bundesregierung blockiert.«
In der Tat haben inzwischen mehrere Städte ihre Bereitschaft zur sofortigen Aufnahme von verletzten und traumatisierten Kindern aus Gaza erklärt. In einem Schreiben an das Bundesinnen- und -außenministerium forderten die Städte Bonn, Düsseldorf, Hannover, Kiel und Leipzig, »die rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen für die humanitäre Initiative zu schaffen«, wie ein Sprecher der Stadt Hannover am Mittwoch dem NDR sagte. Die Lage »in Gaza und Israel« beschäftige nicht nur die Öffentlichkeit, sondern bewege auch Städte und Gemeinden in Deutschland, heißt es in dem Schreiben. Die Kommunen hätten die erforderliche Infrastruktur und könnten Betreuung sowie psychologische und medizinische Versorgung gewährleisten. Dafür werde jedoch ein »geordnetes Verfahren auf Bundesebene« benötigt. Unterstützung kam auch von der parlamentarischen Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Derya Türk-Nachbaur. Gegenüber RTL/N-TV hatte sie am Dienstag darauf hingewiesen, dass die Bundesrepublik in der Vergangenheit bereits ukrainische Kinder aufgenommen und die besten Voraussetzungen habe, diesen Patienten Hilfe zu leisten. Als Vorbilder nannte sie dabei Italien und Norwegen, die eine »mittlere zweistellige Zahl« von Kindern aufgenommen hätten.
Das Auswärtige Amt reagierte ablehnend. »Diese Idee ist nett für den Wahlkampf oder um damit punkten zu wollen, den Menschen selbst hilft sie aber nicht«, behauptete Staatsministerin Serap Güler (CDU) am Donnerstag gegenüber dem Kölner Stadtanzeiger. Viel »hilfreicher« sei es, »Länder in der Region zur Aufnahme zu motivieren«. So könne »diesen Menschen« am besten und schnellsten geholfen werden, »und nicht, indem man sie für den Wahlkampf instrumentalisiert und ihnen diese lange Reise zumutet«. Die Lufthansa gibt für den Direktflug von Tel Aviv nach Frankfurt am Main eine Dauer von vier Stunden und 35 Minuten an.
Kiels Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (SPD) bezeichnete Gülers Aussage gegenüber dem NDR als »peinlich«. Auch Hannovers OB Belit Onay (Grüne) konnte die Kritik aus dem Außenministerium nicht nachvollziehen und verwies gleichfalls auf die Aufnahme von Patienten aus der Ukraine und von misshandelten Jesiden aus dem Irak: »Das ist ein geübtes Verfahren. Man muss es nur wollen.«
Was einige offenbar nicht tun und sich dabei der denkbar absurdesten Argumente bedienen. So erklärte der Vizechef des Lobbyverbandes »Deutsche Polizeigewerkschaft«, Manuel Ostermann, Kinder aus Gaza kurzerhand zum Sicherheitsproblem. Gegenüber Euronews sagte er, »Hamas-Terroristen könnten die gut gemeinte Maßnahme für ihre Zwecke missbrauchen«. »Menschen aus einer terroristischen Hochburg nach Deutschland zu überführen« sei »sicherheitsspezifisch mindestens fragwürdig«. Man dürfe »Deutschland nicht weiter möglichen terroristischen Bedrohungslagen aussetzen«.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (9. August 2025 um 12:46 Uhr)Schwache und speziell Kinder verdienen selbstverständlich alle Solidarität. Kinder aber isoliert ohne Eltern aus Gaza nach Deutschland zu bringen, würde sie zusätzlich belasten und zudem gegen den grundgesetzlichen Schutz für die Familie verstoßen. So gibt (laut HAZ 4.8. Seite 8) Hannovers Oberbürgermeister zu, dass immerhin Eltern ihre Kinder begleiten dürften. Auch das ist natürlich zu wenig. Soll man die anderen Kinder der Eltern dann im gefährlichen Gaza allein zurücklassen? Wenn man schon menschlich sein möchte, dann bitte richtig! Wohltätigkeit als Werbung für die anstehende Wahl ist zu wenig. Polizeiliche Bedenken gegen die Versorgung der Kinder bei uns dürften sich weniger gegen die Kinder sondern mehr gegen die mitreisenden Erwachsenen richten, vielleicht auch gegen die Ausländerhasser in unserem Land. Befremdlich ist für mich, dass israelische Kinder genauso wie palästinensische Kinder bei uns aufgenommen werden sollen. Das verkennt, dass Israel keineswegs der Schwache in Nahost ist sondern der überragend Starke mit vermutlich ausreichend eigenen Therapieplätzen. Im Gazastreifen sind hingegen diverse Krankenhäuser zerbombt worden, so dass dort ein viel größerer Hilfebedarf herrscht. Die Kinder dort zeigten schon vor dem jüngsten Gaza-Krieg Anzeichen von Traumatisierung. jW berichtete dam 7.8.2014 von 100.000 traumatisierten Kindern im Gazastreifen. Andere Quellen sprachen davon, dass regionsweise bis zu 70 Prozent aller Kinder traumatisiert worden seien. Die von Hannover angedachte Aufnahme von 20 Kindern ist da nicht einmal ein Tropfen auf dem heißen Stein. Auch die von Merz angeordnete Einstellung von Waffenlieferungen an Israel ist zu wenig. Die Lehre aus den Naziverbrechen kann nur in Solidarität mit den Schwachen und Entrechteten der heutigen Zeit liegen, die nur teilweise den Schwachen und Entrechteten der Nazi-Zeit entsprechen. Der Kampf gegen Antisemitismus darf nicht den Blick auf die heutige Realität verstellen.
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