Taktischer Rückzug
Von Reinhard Lauterbach
Mit den Invasionsdrohungen gegen die russische Exklave Kaliningrad ist für den dort stationierten Teil der russischen Ostseeflotte eine drastische Verschlechterung seiner strategischen Position verbunden. Mit dem NATO-Beitritt von Finnland und Schweden 2023 hat sich überdies das regionale Kräfteverhältnis im Ostseeraum zuungunsten Russlands verschoben. Vor diesem Hintergrund sind Überlegungen zu verstehen, wenigstens einige kleinere, aber ziemlich moderne Einheiten der Ostseeflotte ins Innere Russlands zu verlegen: auf den nordöstlich von St. Petersburg gelegenen Ladogasee. Die ersten Hinweise auf verstärkte Aktivitäten der russischen Marine auf dem größten Binnengewässer Europas stammen vom Herbst 2023 und wurden seinerzeit von der dem russischen Verteidigungsministerium unterstehenden Zeitung Krasnaja Swesda offenbar gezielt in die Welt gesetzt.
Die Rede ist insbesondere davon, möglicherweise die insgesamt elf Korvetten der »Bujan-M«- und »Karakurt«-Klasse, die bei der Ostseeflotte stationiert sind, in den Ladogasee zu verlegen. Beide Schiffstypen sind mit jeweils acht Senkrechtstartanlagen für Marschflugkörper ausgerüstet, was der NATO einige Sorgen macht. Denn insbesondere die »Kalibr«-Flugkörper der »Karakurt«-Korvetten haben eine Reichweite von bis zu 2.500 Kilometern, könnten also auch von ihrem neuen Stationierungsort noch Ziele in großen Teilen Mittel- und Westeuropas treffen. Der Ladogasee ist mit einer Wasserfläche von knapp 18.000 Quadratkilometern so groß wie ein kleineres deutsches Bundesland, etwa Sachsen. Weil er ein russisches Binnengewässer ist, ist nach einer Studie der regierungsamtlichen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) vom Februar dieses Jahres das Ausspionieren durch westliche Geheimdienste nur aus dem Weltraum möglich. Auch das stößt aber auf Schwierigkeiten, weil die Wasserfläche des Sees durch Hunderte Inseln, Halbinseln und Fjorde gegliedert ist, die praktisch unmöglich zu kontrollieren seien. Zwar gebe es nur wenige als Stützpunkt geeignete Häfen am Seeufer, aber dieser Schwierigkeit könne Russland ausweichen, wenn es etwa einen Teil der Flottille ständig auf dem See umherfahren lasse. Solange freilich die Wetterverhältnisse dies zulassen. Denn der Ladogasee ist von November bis April in der Regel zugefroren. Die Wassertiefe des Sees stellt mit durchschnittlich 53 Metern kein Hindernis für das Befahren mit Hochseeschiffen dar. Sogar U-Boote ließen sich dort notfalls stationieren, so der Autor der SWP-Studie, Helge Adrians, ein Korvettenkapitän der Bundesmarine.
Es ist nach Überlegungen westlicher Militärs deshalb auch nicht ausgemacht, dass die erwähnten Korvetten alle auf dem Ladogasee stationiert bleiben müssten. Denn der See ist über ein Kanalsystem sowohl mit dem Weißen Meer im hohen Norden als auch über die Wolga mit dem Kaspischen Meer und indirekt mit dem Schwarzen Meer verbunden. Einzelne Passagen von für die Ostsee gebauten Militärschiffen in Richtung Weißes Meer seien – ebenso wie Schießübungen mit deren Beteiligung – schon in den vergangenen Jahren beobachtet worden. Aber diese Bewegungen hätten zuletzt zugenommen, schreibt der SWP-Autor. Seine Folgerung: Angesichts dieses russischen Teilrückzugs aus dem Gebiet Kaliningrad brauche die NATO erst recht weitreichende Abstandswaffen, um den Ladogasee und mögliche Basen dort von eigenem Territorium aus bedrohen zu können.
Der Autor teilt erkennbar nicht die hurraoptimistische Einschätzung von US-General Christopher Donahue, die NATO könne die Region Kaliningrad innerhalb weniger Tage aufrollen. Die massiven Abwehrstellungen Russlands in der Region könnten die NATO zumindest solange aufhalten, wie Russland voraussichtlich brauchen würde, um seinerseits einen oder mehrere der baltischen Staaten zu besetzen. Die Luft im Ostseeraum wird dicker.
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