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Aus: Ausgabe vom 06.08.2025, Seite 8 / Ansichten

Sturmreif schießen

Stimmungsmache gegen den Sozialstaat
Von Christoph Butterwegge
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Eingang zum Jobcenter Berlin-Mitte

Schon seit Wochen wird von Rechtsextremisten, Konservativen und Neoliberalen samt ihren Leitmedien kampagnenartig Stimmung gegen den Sozialstaat gemacht. Spitzenpolitiker nutzen ihre Sommerinterviews für Angriffe auf das Bürgergeld, mit dem die Ampelkoalition einige Verbesserungen und Erleichterungen für Transferleistungsbeziehende geschaffen hatte, ohne den harten Kern von Hartz IV jedoch anzutasten.

Alice Weidel, Vorsitzende der AfD und ihrer Bundestagsfraktion, stellt die Forderung auf, Ausländern und Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit kein Bürgergeld mehr zu zahlen, weil sie nie ins deutsche Sozialsystem eingezahlt hätten. Dabei handelt es sich beim Bürgergeld nicht um eine Versicherungs-, sondern um eine Grundsicherungsleistung, die allen Erwerbsfähigen zusteht, deren soziokulturelles Existenzminimum nicht gewährleistet ist. Denn die Würde des Menschen – wohlgemerkt nicht: des Deutschen – ist unantastbar. Dass Weidel diese Fundamentalnorm unserer Verfassung in Frage stellt, zeigt mehr als viele andere Indizien, dass die AfD nicht auf dem Boden des Grundgesetzes steht.

Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Markus Söder stellt die Nationalität ebenfalls in den Vordergrund. Er verlangt in seinem Sommerinterview, dass auch jenen ukrainischen Kriegsflüchtlingen kein Bürgergeld mehr gezahlt wird, die sich schon vor dem 1. April 2025 in Deutschland aufgehalten haben – ein Stichtag, der im Koalitionsvertrag steht, um Neuankömmlinge aus der Ukraine von dieser Leistung auszuschließen. Statt dessen sollen sie ausnahmslos die um 120 Euro pro Monat niedrigeren Asylbewerberleistungen erhalten. Umgekehrt stellt sich wegen des Gleichheitsgrundsatzes die Frage, warum Ukrainerinnen und Ukrainer gegenüber anderen Kriegsflüchtlingen privilegiert und diese schlechter behandelt wurden und werden.

Bundeskanzler Friedrich Merz erwägt eine »Deckelung bei den Mietkosten« der Menschen im Bürgergeldbezug, die es längst gibt. Mehrere hunderttausend Bedarfsgemeinschaften müssen einen Teil ihrer Miete aus den kargen Geldleistungen bezahlen, weil ihr Jobcenter sie nicht voll übernimmt. Anstatt das Problem an der Wurzel zu packen und Maßnahmen zur Senkung der Wohnungsmieten zu ergreifen, macht Merz lieber die davon am härtesten Betroffenen zu Sündenböcken.

Ziel der Sommerlochoffensive ist es, den Sozialstaat durch ständige Nadelstiche sturmreif zu schießen. Erweckt wird der Eindruck, dass der Sozialstaat nicht die Probleme der (einheimischen) Bevölkerung löst, sondern selbst das Problem ist. Tatsächlich ist er zu teuer, wenn das gigantische Aufrüstungsprogramm der Bundesregierung umgesetzt werden soll. Deshalb bekämpft man die Armen und nicht die Armut, obwohl Lebensmitteltafeln, Schuldnerberatungsstellen und Pfandleihhäuser gleichermaßen Hochbetrieb haben.

Christoph Butterwegge lehrte von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln

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