Kiew begradigt Front
Von Lars Lange
Die russischen Streitkräfte haben ihre Offensive in der Ostukraine merklich intensiviert. Allein im Juli eroberten sie nach Auswertungen der finnischen Black Bird Group etwa 567 Quadratkilometer Gelände – ein deutlicher Anstieg gegenüber den Vormonaten. Damit summieren sich die russischen Geländegewinne seit Jahresbeginn auf rund 3.427 Quadratkilometer – etwa ein Drittel mehr als die Fläche des Saarlandes (2.569 Quadratkilometer). Bei einer Gesamtfläche der Ukraine von etwa 604.000 Quadratkilometern entspricht dies einem Anteil von 0,6 Prozent.
An der nordöstlichen Front haben russische Truppen ihre Angriffe auf Kupjansk in den vergangenen Tagen verstärkt und sind sowohl in nördliche Stadtteile als auch in die benachbarte Ortschaft Moskowka vorgedrungen. Unterstützung könnten die russischen Kräfte durch nordkoreanische Truppen erhalten, die nach Angaben des russischen Blogs »Woenny Oswedomitel« in kleinen taktischen Einheiten für Grabenangriffe trainiert werden. Die Region Kursk dient dabei als Übungsgelände, auf dem Soldaten der Demokratischen Volksrepublik Korea praktische Kampferfahrungen gegen Drohnen sammeln und den Umgang mit Täuschungsmanövern erlernen.
Denn beide Seiten bereiten sich anscheinend auf eine Intensivierung der Kampfhandlungen vor. Die Ukraine errichtet nach Angaben von Militärbeobachtern Hunderte Kilometer dreischichtiger Grabensysteme westlich der bedrohten Donbassstädte. Diese Befestigungsmaßnahmen deuten darauf hin, dass Kiew mit dem Verlust von Pokrowsk, Kostjantiniwka, Siwersk, Liman und Kupjansk bis Ende des Jahres rechnet – den fünf Hauptzielen der russischen Sommeroffensive. Die sogenannte neue Donbasslinie erstreckt sich von Saporischschja im Süden bis Charkiw im Nordosten. Das System kombiniert Panzersperren, Schützengräben und getarnte Stellungen, weist aber noch Lücken auf – besonders zwischen Pokrowsk und südlicheren Abschnitten. Schwachstellen zeigen sich zudem durch fehlende mobile Luftabwehrsysteme und mangelnde Minenlegefähigkeiten.
Die langsamen russischen Vorstöße spiegeln eine veränderte Kriegführung im Drohnenzeitalter wider. Erschwerend kommt die besondere, noch aus der Sowjetzeit stammende Verteidigungsarchitektur in der Ukraine hinzu. Nach dem Überfall der Nazis hat Stalin das Land so wiederaufbauen lassen, dass es künftigen Invasoren standhalten kann.
Parallel zu den Bodenkämpfen hat die Ukraine ihre Luftangriffe auf russisches Territorium intensiviert. Ukrainische Drohnen trafen in den vergangenen Tagen Eisenbahninfrastruktur und Treibstoffdepots, auch wenn die begrenzten Sprengladungen den Schaden an den oft Tausende Quadratmeter großen Anlagen reduzieren. Allerdings bleibt die entscheidende Frage, was nach dem erwartbaren Fall der ukrainischen Hauptfestungsstädte geschehen mag. Sind die hastig errichteten Abwehrstellungen der »neuen Donbasslinie« tatsächlich in der Lage, die russischen Angriffe abzuwehren? Westlich der aktuellen Frontlinie bis zum Dnipro finden sich kaum noch Städte, die als Verteidigungsanker für weitere ukrainische Befestigungslinien dienen könnten.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (6. August 2025 um 09:50 Uhr)Russland verfolgt im Krieg gegen die Ukraine nicht in erster Linie territoriale Eroberungsziele, sondern ein strategisch-geopolitisches Kalkül, das aus Sicht des Kremls klar definiert und unverändert ist. Die verstärkte Errichtung neuer ukrainischer Verteidigungslinien legt nahe, dass die Führung in Kiew mit dem möglichen Verlust zentraler Städte wie Pokrowsk, Kostjantyniwka, Siwersk, Lyman und Kupjansk rechnet. Dies würde die Verhandlungsposition der Ukraine auf absehbare Zeit deutlich schwächen. Für die künftige Entwicklung des Krieges erscheinen weniger die konkreten Geländegewinne Russlands ausschlaggebend als zwei andere Faktoren: zum einen die politische Standfestigkeit und langfristige Unterstützung seitens der Europäischen Union, zum anderen der zunehmende personelle Engpass innerhalb der ukrainischen Streitkräfte. Diese Elemente werden entscheidend dafür sein, ob es der Ukraine gelingt, ihre Verteidigungskapazitäten im Hinterland aufrechtzuerhalten und die Frontlinie zu stabilisieren. Nach derzeitiger Einschätzung könnte der bevorstehende Winter sowohl für die Ukraine als auch für ihre europäischen Unterstützer zur entscheidenden Belastungsprobe werden – politisch, militärisch und gesellschaftlich. Es stellt sich die Frage, ob die strategischen Weichenstellungen der vergangenen Jahre tragfähig genug sind, um dem anhaltenden Druck standzuhalten.
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