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Aus: Ausgabe vom 11.08.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Geschichte Russlands

Wunder und Verhängnis

Es darf geschossen werden: Jörg Baberowskis Buch über die letzten Tage des Zarenreiches
Von Leo Schwarz
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»Aufrührer«, meuternde Soldaten, »verrohte Arbeiter«, schon ist der Staat passé (Petrograd, Februar 1917)

Die deutschen Osteuropahistoriker der Gegenwart sind – wie ihre Vorgänger – treue Schildknappen des außenpolitischen Staatsprogramms. Überraschend ist das nicht. Dieses Forschungsfeld war immer wesentlich »staatsnäher« als andere Teildisziplinen der institutionalisierten Geschichtswissenschaft. Spätestens seit 2022 gehören Osteuropahistoriker zu den fleißigsten Ideologielieferanten der NATO-Kriegspartei hierzulande. Die kürzlich bekanntgegebene Vergabe des Buchhandels-»Friedenspreises« an Karl Schlögel (»Russland ist der Feind«) ist auch eine Anerkennung dafür.

Schaut man genauer hin, lässt sich das Personal der Osteuropaforschung heute einer liberal-transatlantischen und einer schmaleren konservativen Strömung zuordnen. Letztere tritt tagespolitisch nicht so schrill in Erscheinung, steht aber so felsenfest wie die liberale Richtung auf dem auch über drei Jahrzehnte nach dem Ende der UdSSR und der KPdSU immer noch die fachliche Arbeit strukturierenden Boden des Antikommunismus.

Ihr prominentester Vertreter ist der Historiker Jörg Baberowski, der, wie einige Fachkollegen, in jungen Jahren in maoistischen westdeutschen K- Gruppen aktiv war. Baberowski hat nun auf einen 1.300-Seiten-Wälzer über »Macht und Herrschaft im Zarenreich« zeitnah einen etwas schmaleren Band folgen lassen, der an ein breiteres Publikum gerichtet ist und sich mit jenen Tagen und Wochen befasst, in denen »das alte Russland unterging«. Baberowski meint damit die Februarrevolution 1917, die zur Zerstörung der russischen Monarchie und zur kurzzeitigen Etablierung einer Ordnung führte, der »linke« und liberale Gegner der Bolschewiki bzw. der Oktoberrevolution seither nachtrauern.

Nicht so Baberowski: Er findet, dass schon jene »alte Ordnung«, die im Februar und März 1917 zerfallen ist, nicht untergehen musste. Dabei macht sich seine Parteinahme trotz der bezeichnenden Klage, dass »verrohte Arbeiter« Nikolai II. in seinen letzten Wochen »das Leben schwer« gemacht haben, nicht so sehr am letzten Zaren fest, den er einen »willenlosen Phlegmatiker« nennt, sondern an der (zaristischen) Staatsgewalt. Als Erklärung für deren Zusammenbruch und zur Unterfütterung des Trostwortes, dass auch alles hätte anders kommen können, muss der gute alte Zufall herhalten: Baberowski will »dem Wunder und dem Zufall in der Geschichtsschreibung wieder zu ihrem Recht verhelfen«.

Das ist nicht sehr originell, und die nachfolgende anekdotische, als Tag-für-Tag-Erzählung aus der Perspektive der Herrschaft angelegte Aneinanderreihung von »Zufällen«, Missverständnissen und Fehlleistungen ist es ebenfalls nicht. Aber als Symptom ist dieses Buch interessant: Im Grunde geht Baberowski hier der Frage nach, wie es mit der Konterrevolution doch hätte klappen können.

Die Voraussetzungen waren leider keine guten, denn der Innenminister Alexander Protopopow war nicht nur »ein schlanker Mann mit feinen Gesichtszügen und einem an den Enden gezwirbelten Schnurrbart«, sondern auch »eine Witzfigur«, wie der Leser gleich auf den ersten Seiten erfährt. Von den Warnungen der gut informierten Ochrana will er »nichts hören«. Auch der Zar ist eine »Fehlbesetzung«, und zu allem Überfluss tummeln sich in dessen Umgebung vor allem »Schmeichler und Intriganten«.

Und so geht es mit Liebe fürs taktische Detail auf über 300 Seiten fort. Eine »verhängnisvolle Anordnung« des Kriegsministers etwa sieht vor, die Soldaten in den Kasernen der großen Städte zu konzentrieren, wo »Aufrührer« sie ermuntern, »ihren Unmut zum Ausdruck zu bringen«. »Verhängnisvoll« nennt Baberowski auch eine Entscheidung vom 23. Februar 1917, den Einsatz von Schusswaffen zu unterlassen.

Das alles liest sich wie ein Konzentrat der »weißen« Exilliteratur aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Der »Friedenspreis«-Schlögel hat dieses Buch, wie der Verlag auf dem Umschlag stolz verkündet, ein »Meisterwerk der Geschichtsschreibung« genannt. Feuer frei!

Jörg Baberowski: Die letzte Fahrt des Zaren. Als das alte Russland unterging. C. H. Beck, München 2025, 380 Seiten, 28 Euro

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