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Aus: Ausgabe vom 04.08.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
»Verfassungstreue«

Neuer Radikalenerlass und »Zeitenwende«

Gesinnungschecks, Regelanfragen beim Verfassungsschutz und Fragebögen zu politischen Aktivitäten sind in immer mehr Bundesländern in Planung
Von Werner Siebler
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Gehört für manche Grüne zur Verfassungsordnung: Sitz des Inlandsgeheimdienstes in Köln-Chorweiler (2.5.2025)

Fast täglich wird in Medien irgendwo in der Bundesrepublik darüber berichtet, wie in den Ländern und auf Bundesebene daran gearbeitet wird, »Extremisten« aus dem öffentlichen Dienst fernzuhalten. Es wird also an einer Neuauflage des Radikalenerlasses gefeilt. In den Berichten wird meist suggeriert, derlei richte sich gegen die AfD – doch schaut man dann in die Texte der Gesetze oder Verordnungen, sieht das alles etwas anders aus. Es sind vor allem die SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die sich eifrig darum bemühen, Berufsverbote wieder hoffähig zu machen.

So wird im Hamburger Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen erklärt: »Mehr denn je sind wir gefordert, die demokratische Integrität der staatlichen Institutionen und des öffentlichen Dienstes zu schützen. Unter dem Dach des öffentlichen Dienstes darf es keinen Raum für verfassungsfeindliche Aktivitäten geben.« Die Koalitionäre wollen »die Resilienz des öffentlichen Dienstes gegen Verfassungsfeind*innen erhöhen, indem wir bei Einstellung in den öffentlichen Dienst oder Wechsel in einen besonders schutzbedürftigen Bereich eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz einführen«.

Länder auf der Lauer

Am 15. Juli sorgte die Ankündigung aus Rheinland-Pfalz für Aufsehen, wonach die SPD-geführte Landesregierung veranlasst habe, dass Mitglieder »extremistischer« Gruppierungen und Organisationen, die auf einer vom Verfassungsschutz aktualisierten Liste stehen, nicht mehr in den öffentlichen Dienst eingestellt werden. Das sollte ausdrücklich auch für AfD-Mitglieder gelten. Inzwischen ist die Landesregierung wieder zurückgerudert, was die Frage der AfD-Mitgliedschaft betrifft – dass zahlreiche linke Organisationen und migrantische Organisationen betroffen sind, wird vielfach gar nicht beachtet.

Zwar beteuert die rheinland-pfälzische Landesregierung, es gehe nicht um pauschale Zugangssperren, sondern um »Einzelfallprüfungen«. Doch die Richtung ist klar: Gesinnungschecks, Regelanfragen beim Verfassungsschutz, Fragebögen zu politischen Aktivitäten – in mehreren Bundesländern sind diese Maßnahmen schon Realität oder in Planung. Bayern macht es seit Jahren vor. Brandenburg hat 2024 den »Verfassungstreuecheck« eingeführt. Niedersachsen, Hamburg, Bremen und Hessen wollen nachziehen.

Dabei ist die bloße Mitgliedschaft in einer Organisation – selbst dann, wenn sie amtlich als »extremistisch« eingestuft wird – kein legitimer Grund für ein Berufsverbot. Das bestätigen nicht nur deutsche Gerichte, sondern auch internationale Gremien wie die Internationale Arbeitsorganisation oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Die derzeitigen Entwicklungen stellen also nicht nur eine politische, sondern auch eine rechtliche Bankrotterklärung dar. Die AfD lacht sich ins Fäustchen, während linke Strukturen zermürbt werden.

Aber das hindert die baden-württembergische SPD, derzeit in der Opposition, nicht daran, gemeinsam mit den regierenden Grünen die Landesregierung aufzufordern, in dieser Richtung aktiv zu werden. Dabei dürfte dort bekannt sein, dass es einen Forschungsbericht der Universität Heidelberg aus dem Jahr 2022 gibt, der eindeutig zu dem Schluss kommt, dass die Berufsverbote und der Radikalenerlass der Demokratie geschadet haben. Warum aber wurde dieser Forschungsbericht nie im Landtag diskutiert?

Innere Zeitenwende

Im Jahr 2022 wurde zum 50. Jahrestag an den Radikalenerlasses mit zahlreichen Veranstaltungen und Aktionen erinnert. In Berlin gab es sogar Gespräche ehemaliger Betroffener der Berufsverbote im Bundesinnenministerium zur Frage der Aufarbeitung und Rehabilitierung. Auch der Autor nahm an diesem Gespräch teil und hatte durchaus das Gefühl, dass es ein Interesse an der Aufarbeitung gibt. Allerdings wurden zu diesem Zeitpunkt die ersten Überlegungen von Innenministerin Nancy Faeser bekannt, über ein beschleunigtes Disziplinarverfahren sogenannte Verfassungsfeinde aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen. Wir haben in diesem Gespräch auf die großen Gefahren hingewiesen, die dadurch entstehen. Doch man hat uns beruhigt mit der Zusage, es gebe keinerlei Bestrebungen für eine Wiedereinführung des Radikalenerlasses und der Regelanfrage beim Verfassungsschutz. Zeitgleich gab es ein Gespräch mit dem damaligen Bundesgeschäftsführer der SPD, Kevin Kühnert, der eine Aufarbeitung des Radikalenerlasses zusagte.

Doch dann kam die Verkündung der »Zeitenwende«. Prompt kam die begonnene Aufarbeitung ins Stocken. Das von Faeser angekündigte Gesetz zur Beschleunigung der Disziplinarmaßnahmen wurde trotz zahlreicher ablehnender Stellungnahmen, insbesondere auch vom DGB, beschlossen. Doch das reichte der von Rechten als »links« gehandelten Innenministerin noch nicht. Sie setzte in den Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst eine neue Regelung auch zur Übernahme der Auszubildenden im Tarifbereich durch.

In einem Brief an den Verdi-Bundesvorstand teilte unser Bundesarbeitsausschuss sein Entsetzen über diese Neuregelung mit. Gerade nach den vielfältigen Diskussionen auch auf den Verdi-Bundeskongressen hatten wir kein Verständnis für diese Vereinbarung. Und auch die Antwort aus der Verdi-Bundesverwaltung überzeugt uns nicht: »Auch die Bundestarifkommission ö. D. hat sich intensiv mit der Formulierung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung in der Übernahmereglung auseinandergesetzt. Die Arbeitgeberseite hatte ursprünglich eine viel weitergehende Passage für den Entwurf zur Tarifeinigung formuliert. Hintergrund waren für die Arbeitgeber aktuelle Diskussionen, wie ein demokratiegefährdender Einfluss von rechtsextremen Parteien bzw. Personen möglichst vermieden werden kann – zum Beispiel die Entscheidung zum besseren Schutz des Bundesverfassungsgerichts vor politischer Einflussnahme.«

Laut der ursprünglichen Formulierung der »Arbeitgeber« hätte für eine Übernahme »kein Zweifel am Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung« bestehen dürfen. »Diese Formulierung hätte durch den Begriff ›Zweifel‹ Interpretationen Tür und Tor geöffnet, und die Tarifkommission hat klargemacht, dass sie eine solche Formulierung nicht mittragen würde.« Die Formulierungen »in den Übernahmeregelungen für Auszubildende und Studierende bei Bund, Ländern und Kommunen« seien »nur ein Hinweis auf die allgemeinen Bedingungen, die durch alle Beschäftigten zu erfüllen sind«. Leider fehlte hier die Antwort auf die Frage, wie junge Kolleginnen und Kollegen nun geschützt werden.

Haarsträubendes Agieren

Und dass diese gemeint sind, sieht man an den Begründungen für die neuen Berufs- und Ausbildungsverbote in Bayern. So wurde der Klimaaktivistin Lisa Poettinger bekanntlich das Referendariat mit der Begründung verweigert, sie verwende den Begriff »Profitmaximierung«.

Auf der gleichen Ebene bewegt sich das Urteil des Arbeitsgerichtes München, das die Nichteinstellung von Benjamin Ruß bei der Technischen Universität in München ausdrücklich absegnete mit der Begründung, er trete für ein erweitertes Streikrecht ein. Insbesondere die Meinung von Benjamin Ruß zum Streik wertet das Arbeitsgericht als Hinweis auf seine mangelnde Verfassungstreue. Hier ein Originalzitat aus dem Urteil: »In dem Artikel vom 26.1.2020 äußert der Kläger, dass ›aufgeworfene(n) Fragen nicht innerhalb des kapitalistischen Regimes zu beantworten sind. Es braucht eine Demokratisierung der Betriebe auf Grundlage einer Arbeiter*innenselbstverwaltung und die Organisation des politischen Streiks gegen die Ausbeutung und Unterdrückung. Der Aufbau einer Partei für genau diesen Zweck ist die oberste Priorität im Kampf gegen das kapitalistische Regime.‹ Diese Aussagen können so verstanden werden, dass der Kläger die geltende Rechtsordnung mit ihren Organen ablehnt (›kapitalistisches Regime‹) – denn die Verwendung des Wortes ›Regime‹ deutet regelmäßig auf eine abwertende Haltung (vgl. www.duden.de/rechtschreibung/Regime) – und aktiv dazu aufruft, privatwirtschaftlich geführte Unternehmen zu enteignen (›Demokratisierung der Betriebe auf der Grundlage einer Arbeiter*innenselbstverwaltung‹). Die vom Kläger angestrebten Änderungen sollen jedenfalls nicht nur durch parteipolitisches Handeln, sondern (auch) durch rechtswidrige Mittel erfolgen, denn der Kläger propagiert in diesem Zusammenhang ›die Organisation des politischen Streiks gegen die Ausbeutung und Unterdrückung‹.«

Soweit die »Beweisführung« des bayerischen Arbeitsgerichtes. Und dieses Urteil ist rechtsgültig! Derweil wird der Ruf nach einer »Stärkung« des Verfassungsschutzes immer lauter. Die baden-württembergische Landtagspräsidentin Muhterem Aras von den Grünen hat kürzlich sogar gefordert, den Verfassungsschutz in die Landesverfassung aufzunehmen, damit es nicht eines Tages mal einer Mehrheit im Landtag möglich ist, die Behörde aufzulösen. Das aber fordern wir vom Bundesarbeitsauschuss gemeinsam mit zahlreichen anderen Bürgerrechtsorganisationen schon lange. Dieser Verfassungsschutz wurde von ehemaligen Nazis aufgebaut, war jahrzehntelang mit diesen Leuten durchsetzt und hielt seine schützende Hand über die Mörderbande vom NSU, wie in zahlreichen Untersuchungsausschüssen ans Tageslicht kam. Und vor gar nicht langer Zeit stand ein Hans-Georg Maaßen an der Spitze des Bundesamtes.

Was tun?!

Es ist nötig, dass gegen diese Entwicklungen demokratischer Widerstand organisiert wird. Unser Bundesarbeitsausschuss ist gemeinsam mit bayerischen Bündnispartnern dabei, am 10. Oktober in München eine Solidaritätsveranstaltung zu organisieren. Auch aus Gewerkschaftskreisen gibt es mehr und mehr kritische Stellungnahmen. So beschloss die GEW Baden-Württemberg auf ihrer Landeskonferenz im April 2025 einen Antrag an den GEW-Gewerkschaftstag im Mai in Berlin, in dem festgestellt wird: »Die GEW wendet sich ausdrücklich dagegen, dass mit Formulierungen wie ›Extremisten‹ und ›Verfassungsfeinde‹ im Sinne der sogenannten Hufeisentheorie dem Inlandsgeheimdienst die Deutungshoheit übertragen wird, wer und was konkret damit gemeint sein soll. Wir lassen nicht zu, dass aus politischen Meinungsäußerungen und politischen Aktivitäten strafrechtliche Folgen konstruiert werden, um Berufsverbote verhängen zu können. So hat der Landtag von Niedersachsen in einer Entschließung 2016 festgehalten, ›dass politisch motivierte Berufsverbote, Bespitzelungen und Verdächtigungen nie wieder Instrumente des demokratischen Rechtsstaates sein dürfen‹. Dem schließt sich die GEW an. (…) Die GEW spricht sich gegen neue ›Radikalengesetze und -erlasse‹ aus!« Leider konnte dieser Antrag aus Zeitgründen nicht mehr behandelt werden und liegt nun beim Bundesvorstand.

Deutlich hat es die neue Verdi-Landeschefin in Baden-Württemberg, Maike Schollenberger, auf den Punkt gebracht: »Wir brauchen keine Berufsverbote 2.0 mit Listen, in denen Menschen, die sich für eine gerechtere Gesellschaftsordnung engagieren, gleichgesetzt werden mit Faschisten, die die Demokratie abschaffen wollen.«

Hinweis: In einer ersten Fassung des Beitrages hieß es, Benjamin Ruß sei eine Anstellung an der Ludwig-Maximilian-Universität in München verweigert worden. Es war aber die Technische Universität. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen. (jW)

Werner Siebler ist Sprecher des Bundesarbeitsausschusses der Initiativen gegen Berufsverbote und für die Verteidigung der demokratischen Grundrechte

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (5. August 2025 um 15:13 Uhr)
    Ich habe nur das Zitat aus dem Urteilstext gelesen. Dass jemand ein Verfassungsfeind sein soll, weil er »aktiv dazu aufruft, privatwirtschaftlich geführte Unternehmen zu enteignen«, ist nicht nachvollziehbar. Im Artikel 15 des Grundgesetzes haben Enteignungen einen festen Platz in unserer Verfassung gefunden. Wagenknecht zeigt in ihrem Buch »Reichtum ohne Gier«, dass als Stiftungen organisierte Unternehmen durchaus am Markt bestehen können und – das ist der positive Aspekt – dem Zugriff der Heuschrecken entzogen sind. Erwirtschaftetes Geld kann so eher reinvestiert werden bzw. den Arbeitern zugute kommen. Why not?!
    • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (6. August 2025 um 11:40 Uhr)
      »Dass jemand ein Verfassungsfeind sein soll, weil er «aktiv dazu aufruft, privatwirtschaftlich geführte Unternehmen zu enteignen». Wie wäre es denn, wenn statt dessen das Vermögen privatwirtschaftlich geführter Unternehmen nicht enteignet, sondern «lediglich» eingefroren wird ( die werden das nie wieder sehen)und man die Zinserträge anderen Zwecken nach eigenem Ermessen zuführt ? Ein Teildiebstahl bleibt ein Diebstahl und verletzt das Eigentumsrecht. Säßen dann auf einmal viele Verfassungsfeinde in den leitenden Gremien der EU? Das geschieht ja mit privatwirtschaftlichem, ausländischem (!) Vermögen von sanktionierten Ländern ständig . Da man sich nicht die Blöße geben wollte, dass nur das Eigentumsrecht von EU - Unternehmen geschützt ist und dazu keine präziseren Angaben machte, müsste die Möglichkeit des Einfrierens und der Fremdnutzung der Erträge dann ja prinzipiell auch für deutsche Unternehmen gelten. Aber eine deutsche Justiz, die einst nach den Nürnberger Rassegesetzen «Recht» sprach und NS -Todesurteile noch nach Kriegsende verhängte, wird sicher auch hier eine Begründung finden. « Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein». Ministerpräsident Filbinger galt in der BRD trotz solcher Worte auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt als verfassungstreu. Der war scheinbar nicht radikal.

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