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Aus: Ausgabe vom 31.07.2025, Seite 11 / Feuilleton
Zeitenwende

Der Wille zum Frieden

Über den Wert des »Nie wieder« und die Zurichtung zum Krieg. Gedanken zum 99. Geburtstag von Erika Schirmer, der Autorin der »Kleinen weißen Friedenstaube«
Von Werner Fritz Winkler
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Gemeinsam nein sagen: Erika Schirmer (2022)

In den DDR-Schulen wurde man zum Humanismus erzogen. Das ist die Antwort von Egon Krenz auf die Frage, warum die Staats- und Parteiführung im Herbst 1989 keine Gewalt anwenden wollte. Wenn Krenz damit richtig liegt, dann ist diese Erziehung wohl ein entscheidender Faktor, warum der Osten Deutschlands immer noch anders tickt als der Westen. Zahlen des ZDF-Politbarometers von Ende Juni 2025 zeigen das deutlich. Während 68 Prozent der Westdeutschen für eine Erhöhung der Rüstungsausgaben sind, liegt die Zustimmung in den »neuen Bundesländern« nur bei 48 Prozent. Im Osten ist der humanistische Wert Frieden tief verwurzelt. Nicht nur wegen der DDR-Verfassung, in welcher der Begriff Humanismus verankert war. Bereits vor der Gründung der DDR war »Nie wieder Krieg« vielen Überzeugung und Haltung zugleich.

Exemplarisch dafür steht das Lied »Kleine weiße Friedenstaube«. Es begleitete ganze Generationen von Vorwendekindern. Man kann es als »DDR-Volkslied« bezeichnen. Sein Entstehungshintergrund verdeutlicht sowohl das Geschichts- als auch Frauenbild in Ostdeutschland nach 1945. Das Friedenslied wurde im Frühjahr 1949 von der damals 22jährigen Kindergärtnerin Erika Schirmer verfasst, die später Grundschullehrerin und Sonderpädagogin wurde. Sie und ihre Mutter hatten aus Schlesien fliehen müssen. 1948 fand sie im thüringischen Nordhausen eine neue Heimat. In der vom Krieg noch schwer gezeichneten Stadt sah sie eines Tages im notdürftig reparierten Schaufenster eines Einzelhändlers ein Plakat hängen. Es zeigte die Friedenstaube, Picassos »La Colombe«, die für den Weltfriedenskongress 1949 in Paris warb. Die junge Pädagogin war in­spiriert. Sie dichtete: »Du sollst fliegen, Friedenstaube, allen sag es hier, dass nie wieder Krieg wir wollen, Frieden wollen wir«. Bis zum Ende der DDR waren die vier Strophen der »Kleinen weißen Friedenstaube« fester Bestandteil der für den Musikunterricht vom Verlag Volk und Wissen herausgegebenen verbindlichen Liederbücher. Heute ist es in keinem deutschen Schulbuch mehr enthalten. Schirmer wird am 31. Juli 99 Jahre alt und lebt noch immer in Nordhausen.

Die von ihr mitgeprägte Haltung vieler Ostdeutscher zur Befreiung vom Faschismus und zur Friedensfrage wird schon lange ignoriert. Spätestens seit der Annexion der Krim durch Russland werden in der medialen Öffentlichkeit nur noch Meinungen gelten gelassen, die den »westlichen Werten« entsprechen. Die Berichterstattung ist in der Regel geschichtsvergessen und undifferenziert. Doch ohne Differenzierung keine Wahrheit. Zu der gehört: Auch die DDR hatte eine Armee, die NVA. Diese hatte Panzer und Raketen, und im Politunterricht wurden die Feindbilder NATO, USA und BRD vermittelt. Es gab die Grenztruppen der DDR, an der Grenze wurde geschossen, an der Berliner Mauer kamen wohl etwa 140 Menschen zu Tode. Das darf nicht unter den Tisch fallen. Aber zur Wahrheit gehört auch: Die DDR war nie an einem Krieg beteiligt, und ihre Soldaten haben nie ein anderes Land besetzt. Sie hat sich konsequent für die Lösung internationaler Konflikte mit Diplomatie eingesetzt, etwa im Rahmen der UNO und im KSZE-Format. Und sie praktiziert internationale Solidarität. Als am 11. September 1973 General Augusto Pinochet mit Hilfe der CIA in Chile eine Militärdiktatur errichtete und Tausende fliehen mussten, gewährte die DDR etwa 2.000 von ihnen Asyl. Das war nicht verordnet. Es entsprach dem Wunsch der Bevölkerungsmehrheit nach Frieden und Gerechtigkeit.

Auch die über 70.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Berliner Friedenslaufes vom 6. Juni 1985 kamen freiwillig. Sie kamen, weil sich in Europa die NATO und der Warschauer Pakt mit Atomraketen gegenüberstanden, die zu jeder Zeit die Menschheit hätten auslöschen können. Der Lauf für den Frieden wurde vom damaligen Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Juan Antonio Samaranch, in der Karl-Marx-Allee gestartet. In der Hauptstadt der DDR fand vom 3. bis 5. Juni die 90. IOC-Session statt. Der Wille zum Frieden und zur Bewahrung der olympischen Idee bestimmte in diesen Wochen und Monaten von der Insel Rügen bis zum Fichtelberg Tausende weitere große und kleine Friedensläufe. Menschen aller Altersgruppen und sozialen Schichten, aller Überzeugungen und Glaubensrichtungen nahmen teil. Sie verband der Wunsch nach Erhalt des Friedens.

Heute wird in Permanenz über Kriege und ihre Folgen berichtet. Was macht das mit den Menschen? Das Militärische hat das Primat. Diplomatie ist zur Randerscheinung verkommen. Zumindest medial. Wer sie dennoch einfordert, wird als Naivling abgekanzelt. Selbst eine Angela Merkel wird angegriffen, wenn sie Friedenstüchtigkeit statt Kriegstüchtigkeit fordert. Die Grenzen der Meinungsfreiheit. Die Sprache wird kriegerischer und aggressiver. All das soll zur Kriegstüchtigkeit beitragen. Der Friedensforscher Wolfgang Wette sagte jüngst auf der Heidelberger Friedenskonferenz: »Nicht nur die Militärs, auch die Bevölkerung sollte wissen: Ohne ihre Zustimmung sind kein Krieg, keine Aufrüstung und keine Waffenlieferungen möglich – daher liegt es an uns, gemeinsam ›nein‹ zu sagen.«

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  • Leserbrief von Ludger Klus aus 19273 Groß Kühren (30. Juli 2025 um 21:31 Uhr)
    Du sollst fliegen, Friedenstaube … Daher: Vorbehaltloses Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung ins Grundgesetz! Jetzt die Petition unterschreiben! Internetseite: openpetition.de/!qnmdb Kriegsdienst? – Sagt nein! – Es ist an der Zeit: Wir machen nicht ihre Drecksarbeit! Krieg ist Krieg. – Mord ist Mord. Völkermord ist Völkermord!
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Michael M. aus Berlin (31. Juli 2025 um 15:39 Uhr)
      Denkste: Der BGH hat jüngst entschieden, daß die BRD Kriegsdienstverweigerer ausliefern darf.
      • Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (31. Juli 2025 um 16:55 Uhr)
        Wo genau?
        • Leserbrief von Onlineabonnent/in Michael M. aus Berlin (31. Juli 2025 um 17:34 Uhr)
          Suchen Sie nach BGH und Kriegsdienstverweigerer Ergebnis u.a. https://www.nachdenkseiten.de/?p=128940

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