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Aus: Ausgabe vom 30.07.2025, Seite 12 / Thema
Erster Weltkrieg

Einheitliche Gegnerschaft

Auf verschiedenen Kongressen beschworen die Vertreter der internationalen Arbeiterbewegung vor 1914 die Ablehnung des Krieges. Die SPD und der Erste Weltkrieg (Teil 1 von 2)
Von Bernhard Sauer
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Der französische Delegierte Jean Jaurès spricht während des Kongresses der II. Internationale auf dem Volksfestplatz in Stuttgart zu deutschen Arbeitern (24.8.1907)

Das grundlegende Ziel der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Europas war die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, wozu auch der Kampf für demokratische Rechte – wie das allgemeine gleiche und geheime Wahlrecht – gehörte. Angesichts der krisenhaften Entwicklung in Europa und in der Welt rückte aber eine weitere Frage zunehmend in den Mittelpunkt: der Kampf gegen die drohende Kriegsgefahr. Kein Ereignis bedroht die soziale Lage der arbeitenden Menschen mehr als der Krieg – sind sie es doch, die die Lasten des Krieges oft mit dem Leben bezahlen müssen. Deshalb sahen es die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien als ihre Pflicht an, die arbeitenden Menschen vor diesem Schicksal zu bewahren.

Produkt des Kapitalismus

Die Frage, wie der Ausbruch eines Krieges verhütet werden kann, spielte schon auf dem Gründungskongress der II. bzw. Sozialistischen Internationale 1889 in Paris eine zentrale Rolle. Festgestellt wurde, dass Kriege das Produkt der kapitalistischen Verhältnisse sind und erst verschwinden werden, wenn die kapitalistische Produktionsweise überwunden ist. Auch der Brüsseler Kongress – zwei Jahre später – befasste sich eingehend mit der Frage des Krieges und stellte in seiner Resolution ebenfalls fest, dass die Wurzeln des Krieges in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung liegen und Frieden erst mit der Überwindung des Kapitalismus erreicht werden kann. Die Delegierten waren sich aber auch im klaren darüber, dass die kapitalistischen Verhältnisse nicht in absehbarer Zeit überwunden werden können, und so stellte sich gleichsam die Frage, ob die Arbeiterbewegung unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen in der Lage sei, Kriege durch Massenaktionen zu verhindern.

Kriegserklärungen – so wurde gefordert – sollten mit einem Aufruf der Völker zum allgemeinen Streik beantwortet werden. Auch der Londoner Kongress von 1896 beschäftigte sich eingehend mit der Kriegsfrage und formulierte eine Reihe konkreter Forderungen, um der Kriegsgefahr entgegenzuwirken, so wurde unter anderem die Einsetzung eines internationalen Schiedsgerichts für die friedliche Beilegung von Konflikten zwischen den Nationen gefordert.

Gleich nach dem Londoner Kongress hatten sich die Kriegsspannungen in der Welt verschärft. 1898 unternahmen die Franzosen von Westafrika aus einen Vorstoß nach Faschoda im Sudan – England und Frankreich standen am Rande eines Krieges. Ein Jahr später folgte der Burenkrieg in Transvaal, und im Jahre 1900 begann der Kreuzzug der Großmächte gegen China. Die europäischen Großmächte hatten gemeinsam die Zerstückelung und Aufteilung Chinas geplant. Russland besetzte die Mandschurei, Dairen und Port Arthur. Deutschland erpresste die Pachtung der Bucht von Kiautschou und unterwarf die Chantung-Provinz seiner Kontrolle. England bemächtigte sich des Hafens von Weihaiwei und erklärte das Jangtsetal zur englischen Einflusssphäre. Frankreich erzwang die Pachtung der Bucht von Kwantung und Vorrechte in der Yunnan-Provinz. Die Fremdherrscher beuteten das Land brutal aus, die Bevölkerung war arm und musste hungern. So kam es zum Aufstand – dem »Boxeraufstand« – gegen die Fremdherrschaft der Europäer. Bei der Verabschiedung einer internationalen Strafexpedition zur Niederschlagung des »Boxeraufstandes« in China gab Kaiser Wilhelm II. den deutschen Soldaten die Ermahnung mit auf den Weg: »Es wird kein Pardon gegeben, Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei in eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!«¹

Die SPD hatte sich 1900 auf ihrem Parteitag in Mainz ausgiebig mit dem Zusammenhang von Kolonialpolitik und Krieg beschäftigt. In der verabschiedeten Resolution hieß es: Die Kolonialpolitik entspringe »in erster Linie dem habgierigen Verlangen der Bourgeoisie nach neuen Gelegenheiten zur Unterbringung des stets anschwellenden Kapitals sowie dem Drang nach neuen Absatzmärkten«. Diese Politik beruhe »auf der gewaltsamen Aneignung fremder Ländergebiete und der rücksichtslosen Unterjochung und Ausbeutung der in denselben wohnenden Völkerschaften«. Sie verrohe und demoralisiere die »ausbeutenden Elemente« selbst, »die ihre Raubsucht durch die verwerflichsten, ja selbst unmenschlichsten Mittel zu befriedigen streben«.² Auch auf dem Pariser Kongress der Sozialistischen Internationale vom September 1900 wurde eingehend über die Kolonialpolitik der Großmächte als ein Wesenselement des Krieges debattiert. Militarismus und Kolonialismus wurden als zwei Seiten einer neuen Entwicklung der Weltpolitik bezeichnet. Kriege seien keine nationalen Kriege mehr, sondern imperialistische Kriege, Kriege der herrschenden Klassen um Kolonialbesitz, um Märkte und Einflusssphären in Asien und Afrika.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Welt in Einflusssphären der europäischen Großmächte aufgeteilt. Das Deutsche Kaiserreich war mit seiner Kolonialpolitik zu spät gekommen und musste sich im Gegensatz zu Großbritannien und Frankreich mit kleinen und unbedeutenden Gebieten in Afrika und im Fernen Osten abfinden. Seit der Reichsgründung 1871 setzte in Deutschland eine rasante Industrialisierung ein. Deutschland schickte sich an, England wirtschaftlich zu überrunden. Vor allem im Bereich der neuen Industrien, vornehmlich der Elektroindustrie, machte sich das Deutsche Reich daran, eine den Weltmarkt beherrschende Stellung einzunehmen. Gestützt auf die gewachsene Wirtschaftsmacht forderte das Kaiserreich eine Vergrößerung des eigenen Einflusses und weitere Gebietsgewinne. Aber die Kolonialgebiete waren zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend verteilt. Die deutsche Expansions- und Kompensationspolitik führte so zwangsläufig zu Konflikten mit den etablierten Großmächten.

Marokko-Krise

Frankreich und Großbritannien hatten sich 1904 in der »Entente Cordiale« über die Verteilung der afrikanischen Kolonialgebiete verständigt: Marokko fiel der französischen Einflusssphäre zu, Ägypten hingegen der britischen. Deutschland fühlte sich übergangen und provoziert und befürchtete, durch die Verständigung der beiden Großmächte in eine gefährliche politische Isolation zu geraten. Es trat mehrmals mit dem Wunsch der Errichtung eines Kontinentalbündnisses an Russland heran, allerdings ohne Erfolg. Russland war bereits mit dem 1892 abgeschlossenen Zweibund ein Bündnis mit Frankreich eingegangen. Als Russland im Russisch-Japanischen Krieg eine schwere Niederlage hinnehmen musste, hielt das Auswärtige Amt die Stunde für gekommen, Druck auf Frankreich auszuüben, um es von der Seite Großbritanniens zu lösen. Das Kaiserreich forderte, die Marokko-Frage auf einer einzuberufenden internationalen Konferenz zu regeln. Um diese Forderung zu unterstreichen, stattete Kaiser Wilhelm II. Ende März 1905 dem Sultan von Marokko einen Staatsbesuch ab. Der triumphale Empfang Kaiser Wilhelms in Tanger erregte bei der französischen Regierung und in der Öffentlichkeit großes Aufsehen. Frankreich war brüskiert und bot im Mai 1905 dem deutschen Kaiserreich eine Beilegung der kolonialen Streitigkeiten nach dem Muster der »Entente Cordiale« an. Deutschland beharrte aber auf seiner Forderung nach Einberufung einer internationalen Konferenz zur Marokko-Frage, die dann auch im Januar 1906 im spanischen Algeciras stattfand.

Auf der Konferenz musste die deutsche Delegation eine schwere diplomatische Niederlage hinnehmen. Nicht Frankreich, das die Unterstützung aller anderen Staaten erhielt, war politisch isoliert, sondern das Deutsche Reich, das sich lediglich auf Österreich-Ungarn als Verbündeten stützen konnte. In der schließlich am 7. April 1906 unterzeichneten »Algeciras-Akte« wurde zwar die Handelsfreiheit garantiert, zugleich aber auch die Schaffung internationaler Institutionen zur Kontrolle Marokkos vorgesehen, in denen Frankreich besonders stark vertreten war. Die britisch-französische »Entente Cordiale« ging gestärkt aus der Konferenz hervor. Die kurzsichtige Drohpolitik, Frankreich in die Enge zu treiben, war gescheitert und führte nur zu einer Festigung der Bande zwischen den Entente-Partnern.

Das deutsche Kaiserreich hatte die Marokko-Krise provoziert, nicht weil es elementare wirtschaftliche Interessen in Marokko hatte, sondern um seinen machtpolitischen Anspruch in der Welt zu unterstreichen. Dabei gerieten die europäischen Mächte an den Rand eines Krieges. In Kreisen höherer Heeresoffiziere war ein Angriffskrieg gegen Frankreich erwogen worden, und fest steht auch, dass in der deutschen Reichsleitung die Frage des Krieges zur Debatte stand.

Das Deutsche Reich reagierte auf die Niederlage mit einer Verstärkung seines Flottenbaus und provozierte England so aufs neue. London antwortete mit dem Abschluss eines Abkommens mit St. Petersburg, in dem beide Mächte sich über ihre jeweiligen Einflusssphären in Vorder- und Mittelasien einigten. Deutschland hatte alles getan, um die anderen Großmächte einander näherzubringen. Die in Deutschland oft empfundene »Einkreisung« war selber ein Ergebnis der deutschen Außenpolitik. Als England sich um eine Verständigung mit Deutschland über eine Beschränkung der Flottenrüstungen bemühte, wurde es von Kaiser Wilhelm schroff zurückgewiesen. Kaiser Wilhelm II. hatte sich geweigert, »die Frage einer allgemeinen Rüstungsbeschränkung auch nur in den Bereich von Beratungen ziehen zu lassen oder ein Abkommen zu akzeptieren, Konflikte einem Schiedsgericht zur Schlichtung zu unterbreiten«.³

Der Stuttgarter Kongress von 1907 war der siebte und zugleich größte Kongress der II. Internationale. 886 Delegierte aus 25 Nationen hatten sich versammelt. Ein Schwerpunkt war wiederum die Kriegsverhinderung. »Militarismus und internationale Konflikte« stand als erster Punkt auf der Tagesordnung. Der Kongress analysierte eingehend die mit dem Wettrüsten neu entstandene Lage in Europa und diskutierte ausführlich, wie und mit welchen Kampfformen ein Krieg verhindert werden könnte. Die von der französischen Delegation eingebrachte Resolution von Jean Jaurès und Edouard Vaillant sah im Kapitalismus den Urgrund des Krieges. »Wie die Wolke das Gewitter, so trägt der Kapitalismus den Krieg in sich«, hieß es. »Aber Kriege entladen sich nicht wie Gewitter aus Spannungen elementarer Kräfte; sie entspringen einem menschlichen Willensakt und sind daher nicht unabwendbar. Sie können verhütet werden, wenn dem Willensakt der herrschenden Klasse ein Willensakt der Arbeiterklasse entgegengesetzt wird. Die Arbeiterklasse besitze die Kraft, die Katastrophe von Kriegen selbst in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung abzuwenden.«

Natürliche Gegnerschaft

Der Kongress einigte sich auf eine umfangreiche Resolution. »Kriege zwischen kapitalistischen Staaten sind in der Regel Folgen ihres Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkt, denn jeder Staat ist bestrebt, sein Absatzgebiet nicht nur zu sichern, sondern auch neue zu erobern, wobei Unterjochung fremder Völker und Länder eine Hauptrolle spielt. Diese Kriege ergeben sich weiter aus den unaufhörlichen Wettrüstungen des Militarismus (…). Daher ist die Arbeiterklasse, die vorzugsweise die Soldaten zu stellen und hauptsächlich die materiellen Opfer zu bringen hat, eine natürliche Gegnerin des Krieges.«⁴ Seit dem Brüsseler Kongress habe die Arbeiterklasse Aktionen in den verschiedenartigsten Formen unternommen, um den Ausbruch von Kriegen zu verhüten oder ihnen ein Ende zu bereiten, so die Verständigung der englischen und französischen Gewerkschaften nach der Faschoda-Krise zur Sicherung des Friedens, die Aktionen der sozialdemokratischen Parteien im deutschen und französischen Parlament und in den Massenversammlungen während der Marokko-Krise, das Eingreifen der sozialistischen Arbeiterschaft Schwedens zur Verhinderung eines Angriffs auf Norwegen sowie der Kampf der sozialistischen Arbeiter und Bauern Russlands und Polens, um sich dem vom Zarismus entfesselten Krieg gegen Japan zu widersetzen. All diese Bestrebungen, so betonte die Resolution, »legen Zeugnis ab von der wachsenden Macht des Proletariats und seiner wachsenden Kraft, die Aufrechterhaltung des Friedens durch entschlossenes Eingreifen zu sichern«.⁵

Auch der 8. Internationale Sozialistenkongress in Kopenhagen, der im Spätsommer 1910 tagte, hatte als zentrales Thema die drohende Kriegsgefahr der Großmächte. 896 Delegierte vertraten 24 Länder. Der Kongress stand unter dem Eindruck des verschärften Wettrüstens zur See, des Wettrüstens zwischen England und dem deutschen Kaiserreich. Ein neues Element der Kriegsgefahr sei entstanden: die Gefahr eines Seekrieges zwischen diesen beiden Großmächten um die Vorherrschaft über die Meere. Der Kongress verpflichtete die sozialdemokratischen und sozialistischen Parlamentsabgeordneten, eine weitere Aufrüstung mit allen Mitteln zu verhindern. Im Parlament sollten die dazu nötigen Gelder verweigert werden. Dagegen wurden die Abgeordneten aufgefordert, durch »immer erneuerte Anträge« die Abrüstung zu fordern. Aufrüstung schaffe keinen Frieden, sondern erhöhe nur die allgemeine Kriegsgefahr.

»Nach jedem Krieg wird es besser«

Im Sommer 1911 stand Europa abermals am Rande eines Krieges. Wieder war Marokko Ausgangspunkt der internationalen Krise. Frankreich hatte Unruhen in dem nordafrikanischen Sultanat zum Anlass genommen, erst Rabat und dann Fes zu besetzen. Mit seinen Truppen drang es bis tief ins Landesinnere vor. Das Deutsche Reich sah seine ökonomischen und politischen Belange im Lande bedroht. Der für die Außenpolitik zuständige Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Alfred von Kiderlen-Waechter, war bereit, Frankreich die Vorherrschaft über Marokko zu überlassen, wollte sich aber dieses Zugeständnis durch umfangreiche Gebietsabtretungen im französischen Kongo-Gebiet bezahlen lassen.

Um der deutschen Forderung Nachdruck zu verleihen, landete auf Kiderlens Betreiben am 1. Juli 1911 das Kanonenboot »Panther« im Hafen von Agadir. Zwei Wochen später trug die deutsche Regierung die Forderung nach Abtrennung von Französisch-Kongo offiziell gegenüber Frankreich vor, publizistisch unterstützt vor allem durch den Alldeutschen Verband. Kiderlen hatte sich persönlich bei dem Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß, um die Unterstützung bemüht. Die deutsche Führung unter Kaiser Wilhelm II. und Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg gedachte, Frankreich durch Drohgebärden an den Verhandlungstisch und zu den gewünschten Gebietsabtretungen zwingen zu können. Frankreich, der Unterstützung Großbritanniens gewiss, war jedoch zu keinen substantiellen Zugeständnissen bereit. Die Verhandlungen gerieten ins Stocken.

In Deutschland mehrten sich die Stimmen, die einen Präventivkrieg als einzigen Ausweg sahen. Auch außerhalb des Alldeutschen Verbandes war die Auffassung sehr verbreitet, dass der Krieg unvermeidlich sei. Die Alldeutschen waren sowieso seit langem der Auffassung, »dass der Widerstreit der deutschen Interessen mit denen der Nachbarnationen eines Tages durch die Waffe gelöst werden müsse«.⁶

Den Krieg sehnten sie herbei als den Erwecker aller guten und gesunden Kräfte im Volke: »Der Krieg ist uns Alldeutschen nun einmal nicht der große und blindwütige Zerstörer, sondern der sorgsame Erneuerer und Erhalter, der große Arzt und Gärtner, der die Menschheit auf ihrem Wege zur Höherentwicklung begleitet (…). Wehe dem Volke, das längere Zeit hindurch seiner heilenden und hegenden Hand entraten muss!«⁷

Aber auch die Entente-Mächte arbeiteten Pläne für den Ernstfall aus. Kaiser Wilhelm II. und Reichskanzler Bethmann Hollweg wollten es aber nicht wegen Marokko zum Krieg kommen lassen, und so konnte im letzten Augenblick der Ernstfall auf diplomatischem Wege abgewendet werden. In dem am 4. November 1911 in Berlin unterzeichneten Abkommen verzichtete Deutschland auf jede Art von politischer Einflussnahme in Marokko, erhielt aber die Zusicherung einer ungehinderten wirtschaftlichen Betätigung deutscher Unternehmen. Frankreich musste einen Teil des Kongos an Deutschland abtreten, erhielt dafür aber Gebiete aus deutschem Kolonialbesitz in Togo und Kamerun.

Nicht nur die Alldeutschen und die Rechtsparteien warfen der Reichsleitung daraufhin »Kleinmut« vor. Als Bethmann Hollweg am 9. und 10. November 1911 im Reichstag die deutsche Haltung verteidigte und den Gedanken an einen Präventivkrieg zurückwies, wurde er scharf angegriffen. Der Fraktionsvorsitzende des Zentrums, Graf Georg von Hertling, meinte, dass die Aufrechterhaltung des Friedens ein hohes Gut sei, »dass es aber zu teuer erkauft sei, wenn es nur auf Kosten unserer Weltgeltung geschehen kann«. Der Vorsitzende der Nationalliberalen, Ernst Bassermann, sprach von einer »Niederlage«, die Deutschland in der Marokko-Krise erlitten habe, und warnte das Ausland zugleich, »es möge sich darüber im klaren sein, dass wir unserer nationalen Ehre nicht zu nahe treten lassen, und dass, wenn es darauf ankommt, mit den Waffen Deutschland zu verteidigen, das Ausland ein einiges Deutschland finden wird«. Der Vorsitzende der Deutschkonservativen, Ernst von Heydebrand und der Lasa, meinte, dass mit Nachgiebigkeit kein besserer Platz in der Welt für Deutschland erkämpft werden könne: »Das, was uns der Frieden sichert, das sind nicht die Nachgiebigkeiten, sind nicht die Einigungen, nicht die Verständigungen, sondern das ist unser gutes deutsches Schwert und zugleich das Gefühl, dass die Franzosen wohl mit Recht haben werden, dass wir auch auf eine Regierung zu sehen hoffen, die gewillt ist, dieses Schwert zu gegebener Zeit nicht rosten zu lassen.« An die Adresse Englands gerichtet, fuhr er fort: Das deutsche Volk wisse nun, »wo sein Feind sitzt. Das deutsche Volk weiß jetzt, wenn es sich ausbreiten will auf dieser Welt, wenn es seinen Platz an der Sonne suchen will, den ihm sein Recht und seine Bestimmung zugewiesen hat, – dann weiß es jetzt, wo derjenige steht, der darüber zu gebieten haben will, ob er das erlauben will oder nicht.«⁸

Die Reichstagsrede August Bebels stand in einem diametralen Gegensatz zu dieser Kriegsrhetorik. Er warnte die Herrschenden vor weiteren Aufrüstungen und deren möglichen Folgen: Von allen Seiten werde weitergerüstet, »bis zu dem Punkte, dass der eine oder andere Teil eines Tages sagt: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende (…). Dann kommt die Katastrophe. Alsdann wird in Europa der große Generalmarsch geschlagen, auf den hin 16 bis 18 Millionen Männer, die Männerblüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen, gegeneinander als Feinde ins Feld rücken. Aber nach meiner Überzeugung steht hinter dem großen Generalmarsch der große Kladderadatsch (…). Er kommt nicht durch uns, er kommt durch sich selber. Sie treiben die Dinge auf die Spitze, sie führen es zu einer Katastrophe (…). Die Götterdämmerung der bürgerlichen Welt ist im Anzuge. Seien Sie sicher: Sie ist im Anzug! Sie stehen heute auf dem Punkte, ihre eigene Staats- und Gesellschaftsordnung zu untergraben, ihrer eigenen Staats- und Gesellschaftsordnung das Totenglöcklein zu läuten.« Das Protokoll verzeichnete »Lachen« und große »Heiterkeit« sowie den Zuruf von rechts: »Nach jedem Krieg wird es besser!«⁹

Anmerkungen

1 Zit. n. Gerhard Hirschfeld; Gerd Krumeich: Deutschland im Ersten Weltkrieg. Frankfurt/M. 2013, S. 13 f.

2 Zit. n. Julius Braunthal: Geschichte der Internationale, Bd. I. Berlin/Bonn 1978, S. 313

3 Ebd., S. 345

4 Zit. n. ebd., S. 370

5 Zit. n. ebd., S. 343 f.

6 Alfred Kruck: Geschichte des Alldeutschen Verbandes 1890–1939. Wiesbaden 1954, S. 66

7 Zit. n. ebd., S. 69

8 Zit. n. Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806–1933, Bd. 1. Bonn 2002, S. 312

9 Zit. n. ebd., S. 313

Bernhard Sauer ist Historiker. An dieser Stelle schrieb er zuletzt am 28. April 2025 über Hitlers »Lehren« aus dem Ersten Weltkrieg und die Verbrechen der Nazis: »Von langer Hand geplant«

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