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Aus: Ausgabe vom 30.07.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Geschichte und Gegenwart

Zweiter Nordischer Krieg

Russland bemüht für seinen Konflikt mit dem Westen weitreichende historische Vergleiche
Von Reinhard Lauterbach
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Klarer Verweis auf die Geschichte: Russland wird sich nie mehr von der NATO in die Enge treiben lassen (Denkmal für Peter den Großen in St. Petersburg)

Mancher mag genervt die Augenbrauen hochgezogen haben, als Wladimir Medinski, russischer Delegationsleiter bei den jüngsten Gesprächen mit der Ukraine, sich nach der ersten dieser Begegnungen mit – sinngemäß – folgenden Worten zitieren ließ: »Schauen Sie zurück auf den Großen Nordischen Krieg im 18. Jahrhundert. Er hat fast dreißig Jahre gedauert, und wir sind heute gerade mal im vierten Jahr der ›Spezialoperation‹ in der Ukraine. Auch wenn es wieder so lange dauert, wir werden auch diesmal wieder kämpfen.« Ging das nicht ein bisschen kleiner?

Aus Sicht russischer Strategen nicht unbedingt. Zur Erinnerung: Der »Große Nordische Krieg« wurde zwischen 1700 und 1721 zwischen Russland auf der einen und Schweden samt seinen europäischen Verbündeten auf der anderen Seite geführt. Es ging in ihm um die Herrschaft über den Ostseeraum; Schweden hatte sie durch seine Teilnahme am Dreißigjährigen Krieg an der Seite der protestantischen Reichsstände errungen, es hatte damals unter anderem Wismar, Stralsund und Stettin an der Südküste sowie Riga und Reval (Tallinn) an der Ostküste besetzt. Und versperrte Russland damit den Zugang zur Ostsee.

In einer ersten Kriegsphase hatte Schweden Ende des 17. Jahrhunderts die Region Ingermanland zwischen dem Ostende des Finnischen Meerbusens und dem Ladogasee an Russland verloren, und das nutzte die Gelegenheit, 1703 hier eine neue Stadt zu gründen: St. Petersburg. Der Krieg zog sich mit wechselndem Erfolg und immer wieder Winterpausen hin. Die entscheidende Schlacht fand 1709 bei Poltawa in der Ukraine statt. Dort vernichtete Russland das Expeditionskorps des Schwedenkönigs Karls XII., dieser konnte sich mit Mühe und Not auf das Gebiet der Türkei retten. Als 1721 ein Friedensvertrag geschlossen wurde, war Russland zugleich »ins Konzert der europäischen Mächte eingetreten«. Mit ihm war fortan in der europäischen Politik zu rechnen. Das Ergebnis war dem militärhistorischen Amt der Bundeswehr vor wenigen Jahren noch aktuell genug, um bei dem Potsdamer Historiker Stephan Lehnstaedt eine Studie über diesen Krieg zu bestellen, die auch bei der Offiziersausbildung der Bundeswehr verwendet wird.

Im Kern geht es aus russischer Sicht bei dem heutigen Stellvertreterkrieg in der Ukraine und der NATO-Aufrüstung im Ostseeraum darum, die machtpolitischen Errungenschaften des Landes von vor 300 Jahren rückgängig zu machen. Kaliningrad, 1945 von der USSR wegen des eisfreien Hafens von Königsberg im Unterschied zum größeren Rest Ostpreußens direkt annektiert, ist deshalb heute ein symbolischer Ort. Auch russische Experten hegen keine Illusionen darüber, ob die Region im Kriegsfall zu verteidigen wäre. Das wäre sie auf konventioneller Ebene nicht: auf drei Seiten von den NATO-Staaten Litauen und Polen umgeben, zur See das neue NATO-Mitglied Schweden an der Gegenküste. Es kann heute nur noch als Stolperstein vor dem großen Krieg aus russischer Sicht verstanden werden: Wer es angreift, weiß, was er riskiert. Die zu einem erheblichen Teil in Baltijsk bei Kaliningrad stationierte russische Ostseeflotte ist heute bereits in ihren Heimathäfen blockiert. Jede Bewegung ins offene Meer müsste sie sich erkämpfen. Mehr als ihre Haut teuer zu verkaufen, ist von ihr wohl nicht mehr zu erwarten.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (31. Juli 2025 um 11:56 Uhr)
    Schon zum 350. Geburtstag von Zar Peter dem Großen 2022 hatte Putin eine Parallele zwischen dem Ukraine-Krieg und dem Großen Nordischen Krieg gezogen. Schon im 18. Jahrhundert seien die russischen Rückeroberungen von der westlichen Staatenwelt nicht anerkannt worden, gleichwohl aber wirksam gewesen. »Everyone recognised it as part of Sweden« sagte Putin (http://en.kremlin.ru/events/president/news/68606), im Klartext: Es sei zweitrangig, ob der Westen die Realitäten im Donbass anerkenne oder nicht. Bei Medinski liegt der Akzent zwar etwas anders, eher mehr auf der Betonung der russischen Durchhaltefähigkeit. Die ist allerdings auch ohne den historischen Vergleich erkennbar. Der Vergleich dient nur der Bekräftigung des längst viele Male Gesagten und doch vom Westen konsequent Ignorierten, nämlich dass die westliche Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation Russlands vollkommen realitätsfremd ist. Wenn der Westen kleine Münze nicht versteht, muss man es ihm eben mit großer Münze zeigen, es zumindest versuchen. Hoffnung habe ich freilich nur wenig. Wenn Gaddhafi einen Aufstand im Osten seines Landes mit vielleicht Hunderten Todesopfern niederschlägt, war das dem Westen Grund oder Vorwand genug, einen Vernichtungskrieg gegen Libyen mit Zigtausenden Todesopfern (wenn nicht gar mehr) loszutreten. Wenn Kiew einen Aufstand im Osten seines Landes mit 14.000 Todesopfern niederzuschlagen versucht, soll das hingegen kein Grund sein, der Gewalt militärisch ein Ende zu setzen. Der Wert eines Menschenlebens bemisst sich im Westen eben je nach geopolitischer Ausrichtung sehr verschieden. Dieser Rassismus gehört klar gebrandmarkt und – nach russischer Lesart – auch bekämpft.

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