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Aus: Ausgabe vom 30.07.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Konflikt in Osteuropa

Spiel mit dem Atomknopf

NATO will Russland anscheinend vor die Alternative Kapitulation oder Atomkrieg stellen. Zweifelhafte Erklärungen von NATO-Oberkommandierendem Donahue
Von Reinhard Lauterbach
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Das Kriegsbündnis marschiert: US-General Grynkewich (l.) tritt seinen Posten als NATO-Oberbefehlshaber an (Casteau, 4.7.2025)

Die NATO hat ihre Kriegsrhetorik in den Turbomodus geschaltet. Es geht dabei weniger um Donald Trumps an Moskau gerichtetes Ultimatum, binnen 50 Tagen für eine Waffenruhe in der Ukraine zu sorgen, das der US-Präsident am Montag auf zehn bis zwölf Tage verkürzt hat. War anfänglich die Rede davon, dass Russland die westliche Allianz Mitte des kommenden Jahrzehnts angreifen könnte, wurde diese Frist inzwischen von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und NATO-Generalsekretär Mark Rutte auf 2029 vorverlegt. Und Donald Tusk, Regierungschef Polens, hat den Zeithorizont jetzt nochmals verkürzt: Schon 2027 könne Russland die NATO überfallen, so der polnische Premier nach Gesprächen mit dem NATO-Oberbefehlshaber Alexus Grynkewich.

Woher Grynkewich diese Ahnung nimmt, blieb sein Geheimnis. Warum Tusk die Panikmeldung prominent verbreitete, kann man sich denken. 2027 ist das Jahr, in dem Tusks Regierung sich turnusmäßigen Parlamentswahlen stellen muss – einstweilen ohne große Erfolgschancen. Da bietet es sich an, die russische Sau durchs polnische Dorf zu treiben und sich damit Ruhe an der Heimatfront zu verschaffen – und jede innenpolitische Kritik in die Nähe russischer »Hybridkriegführung« zu rücken. So kurz, so banal aus Tusks Sicht.

Wie wenig Substanz solche Tatarenmeldungen vermutlich haben, wird noch aus einem anderen Aspekt deutlich: Wenn Tusk seine Weisheit tatsächlich vom NATO-Oberbefehlshaber bezogen haben sollte, würde dies bedeuten, dass Russland die Ukraine im Laufe dieses oder spätestens des kommenden Jahres besiegt. Denn dass Russland die NATO angreifen würde, während der Krieg in der Ukraine noch im Gange ist, war bisher von allen militärischen Fachleuten ausgeschlossen worden. Ist das also ein Eingeständnis der absehbaren eigenen Niederlage durch die Hintertür – und gleichzeitig ein medialer Entlastungsangriff an anderer Stelle?

Vielleicht. Darauf deutet die auch in dieser Zeitung schon analysierte Ansprache von US-General Christopher Donahue Ende Juni in Wiesbaden hin. Vor einem Publikum aus Militärs und Industrievertretern prahlte der Chef der NATO-Landstreitkräfte in Europa damit, dass die Kriegsallianz inzwischen die Mittel habe, russische »Zugangskontrollblasen« wie das Gebiet Kaliningrad von Land aus zu stürmen und innerhalb »ungeahnt kurzer Zeit auszuschalten«.

Dass Donahue keine Details ausplauderte, ist klar und gehört zum Geschäft. Aber seine angeblich aus dem Ukraine-Konflikt geschöpften Erfahrungen sind genau vor dem Hintergrund des dortigen Krieges nicht unbedingt Argumente für seine Behauptung. Heute seien »Landoperationen in ungeahnter Geschwindigkeit« möglich? Die Dominanz der Drohne auf dem Gefechtsfeld, die größere mechanisierte Bewegungen beider Kriegsparteien lähmt, deutet eher auf das Gegenteil hin. Und die Ukraine habe bewiesen, dass man »von Land aus eine überlegene Marine ausschalten« könne? Auch zweifelhaft und jedenfalls nicht aus dem ukrainischen Szenario ableitbar. Ja, die Ukraine hat Russlands Schwarzmeerflotte empfindliche Verluste zugefügt und ihr faktisch das Heimatmeer als Operationsraum bestritten. Aber sie tat das aus einer nicht unmittelbar umkämpften Position an Land heraus, nicht im Zuge von Kampfhandlungen, die das Ziel hätten, russische Marinebasen sozusagen durch die Hintertür, von der Landseite her, zu erobern.

Aussagen von NATO-Prominenten wie den zitierten sind überdies zweischneidig. General Donahue sagte es den Industrievertretern in Wiesbaden gewissermaßen ins Gesicht: Wir haben Ihnen gesagt, was wir brauchen, Ihre Aufgabe ist es, zu liefern. Um Bertolt Brecht zu zitieren: »Ja, mach nur einen Plan …« Wenn der Bedrohungszeitraum so sehr verkürzt wird, dass er mit den öffentlich bekannten Lieferfristen selbst für technisch durchentwickelte Systeme wie die »Patriot«-Raketenwerfer in Konflikt gerät, kann sich auch das gutwilligste Publikum die Frage stellen, ob das überhaupt noch zu gewinnen sei. Zumal, wenn Spezialisten wie Bundesmaskenminister Jens Spahn als schlimmste Folge eines russischen Angriffs ausmalen, dass »wir Russisch lernen müssen, wenn wir uns nicht verteidigen wollen«. Wenn man eine Schraube zu weit festdreht, kann sie plötzlich durchdrehen.

Einen Effekt haben Reden wie die von Donahue bereits gehabt: Prominente russische Politiker wie der Abgeordnete Leonid Sluzki haben angemerkt, dass der Westen mit dem Atomkrieg spiele, wenn er über eine Eroberung der Kaliningrader Region nachdenke. Ein Angriff auf russisches Staatsgebiet sei eine der Voraussetzungen, die die russische Nukleardoktrin für den Einsatz von Atomwaffen nenne.

Zusammengefasst ergibt sich aus dem überhitzten Gerede über vermeintliche russische Angriffspläne auf NATO-Territorium schon im übernächsten Jahr und angeblich vorliegende Konzepte für einen »Blitzkrieg« gegen Kaliningrad der Eindruck, dass hier gepokert und provoziert werden soll – um von einer absehbaren Niederlage der NATO in der Ukraine abzulenken. Wenn es nicht schlimmer ist und man das Risiko eines Atomkriegs in Europa tatsächlich eingehen will.

Hintergrund: Baltikum und NATO

Dass die baltischen Staaten 2004 der NATO beigetreten sind, hat an ihrer Geographie nichts geändert. Nach wie vor sind sie zu Land über NATO-Territorium schlecht zu erreichen, die Eisenbahnen fahren auf russischer Breitspur, und durch das Nadelöhr im »Suwalki-Korridor« an der polnisch-litauischen Grenze führt nur eine einzige größere Straße. Entsprechend stellen Estland, Lettland und in geringerem Umfang Litauen ihre Verteidigungspläne auf Partisanenkrieg und hinhaltende Kämpfe an der Grenze um. Mehrere hundert Bunker sollen gebaut werden, um die Zeit zu überbrücken, bis die größeren Verbündeten eintreffen.

Wenn sie denn eintreffen. Ein Interview des niederländischen Admirals Rob Bauer, ehemals Chef des NATO-Militärausschusses, mit der Welt von Ende Juni ließ aufhorchen: Selbst wenn Russland »eine kleine Offensive« gegen Estland führen sollte, müsse dies ja nicht automatisch den »Bündnisfall« auslösen, so Bauer. Dann könne man immer noch im Bündnis beraten, ob man den großen Krieg auslösen soll. Rechtlich ist Bauer zuzustimmen: Artikel 5 des NATO-Vertrags sieht keine automatische Reaktion vor, sondern nur die, die jeder Bündnisstaat für erforderlich hält – im Lichte seiner Bedürfnisse.

Die baltischen Staaten sind sich dieser strategischen Ungewissheit bewusst. Eine Studie des polnischen »Instituts für Oststudien« vom vergangenen Jahr listete als Krisenvorsorge unter anderem auch Pläne für eine großangelegte Evakuierung der baltischen Bevölkerungen in Richtung Westen und Süden auf. Der Teile davon jedenfalls, die sich mit den neuen Staaten identifizieren. Der estnische Verteidigungsminister Hanno Pevkur weiß auch, was mit dem Rest passieren soll. 2024 schlug er vor, mit Russland sympathisierende Mitmenschen lieber gleich aus dem Lande zu drängen: Wer nicht bereit sei, Estnisch zu lernen und das Staatsbürgerexamen abzulegen, der habe in Estland nichts mehr zu suchen. Es handelte sich immerhin um ein Viertel der Bevölkerung. (rl)

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  • Leserbrief von Silke B. aus Hamburg (30. Juli 2025 um 10:55 Uhr)
    Zwar hat der Autor den Begriff »Tatarenmeldung« offenbar nicht erfunden: ich selbst kannte ihn nicht, las diesen Begriff heute das erste mal und lese, es sei ein Begriff, den die Presse für Falschmeldungen/übertriebene Meldungen benutzt. Ich empfinde den Begriff allerdings als diskriminierend und die Presse sollte sich mal einen anderen Begriff dafür aussuchen. Gerade in der heutigen Zeit, in der bereits zu viele Feindbilder aufgebaut werden und der Tatar wieder Thema wird.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (30. Juli 2025 um 09:33 Uhr)
    Russland hat in seiner gesamten Geschichte niemals kapituliert – nicht einmal gegenüber den Mongolen. Vielmehr verlagerte sich das politische Zentrum der damaligen Kiewer Rus nach Norden, wo später das Großfürstentum Moskau entstand. Wer ernsthaft glaubt, Russland ließe sich durch Drohungen zur Kapitulation zwingen, offenbart ein eklatantes Unverständnis der russischen Geschichte und politischen Kultur. Die Vorstellung, einem atomar bewaffneten Staat wie Russland die Alternative »Kapitulation oder Atomkrieg« zu stellen, ist nicht nur brandgefährlich, sondern schlichtweg grotesk. Solche Rhetorik im politischen Diskurs ist unverantwortlich – denn wer mit dem Atomkrieg spielt, riskiert nicht weniger als den Untergang der gesamten Menschheit. Das ist kein Ausdruck strategischer Stärke, sondern ein Symptom von Panik und Orientierungslosigkeit.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (30. Juli 2025 um 04:00 Uhr)
    Fortsetzung Leserbrief: Im Gegensatz zu Herrn Spahn können die Russen zwischen Politik , Krieg und Sprachkenntnissen unterscheiden. Einerseits hat nach öffentlichen Umfragen in Russland Deutschland die USA als Gegner Nr. 1 überrundet. Andererseits treffe ich hier auf der Straße, beim Einkaufen, bei vielen anderen Begegnungen- , häufig auch bei russischen Behörden Menschen an, die hoch erfreut sind, ein paar Worte deutsch zu sprechen, wenn sie am Akzent bemerken, dass ich Deutscher bin. Sie fangen sofort an, deutsch zu sprechen und wollen ihre Schulkenntnisse ein wenig auffrischen. Und das nach dem 2. Weltkrieg und der Dauerhetze gegen Russland, über die sie per Fernsehen und Radio ja informiert werden. Wäre das umgekehrt in Deutschland ebenso denkbar für Russen, denen man sämtliche Flug- und Bahnreisen sowie Buchungen für Ferienaufenthalte gesperrt hat, sogar Häfen für den Freigang von Seeleuten. Unter anderem wegen solcher Unterschiede des menschlichen Umgangs lebe ich sehr gern hier.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (30. Juli 2025 um 03:36 Uhr)
    »Zumal, wenn Spezialisten wie Bundesmaskenminister Jens Spahn als schlimmste Folge eines russischen Angriffs ausmalen, dass «wir Russisch lernen müssen, wenn wir uns nicht verteidigen wollen». Bismarck sprach sehr gut Russisch und war stets um ein ausgeglichenes, gutes Verhältnis zu Russland bemüht, obwohl da von beiden Seiten einige Kriege mehr geführt wurden als jetzt. Herr Spahn könnte beginnen, schon mal täglich 30 Minuten Chinesisch zu lernen, auch wenn China Europa militärisch nicht angreifen wird. Wahlweise könnte er auch das Buch «Joseph Fouché» von Stefan Zweig lesen, und daraus lernen, wie unerwartet sich die Zeiten ändern können. Man möchte doch immer schön im Mainstream schwimmen, nicht wahr? Wenn man so die veröffentlichten Gespräche von hohen Offizieren der Bundeswehr verfolgt oder Bundestagsreden, ja eigentlich auch die Alltagssprache in Deutschland, so muss man konstatieren, dass alle ganz fleißig Denglisch gelernt haben, weil sie meinten, sich gegen den kulturellen Imperialismus der USA nicht verteidigen zu müssen und so auf der Höhe der Zeit zu sein. So anbiedernd, wie die deutsche Sprache aufgegeben und verunstaltet wird, geschieht es beispielsweise in Frankreich nicht. Bisher kannte man in den letzten 100 Jahren im deutschen Mainstream nur zwei Varianten : Entweder betrachtete man andere Völker und ihre Kultur als minderwertig, unterlegen und sah auf sie herab, erklärte sie zu Untermenschen und führte Krieg mit der halben Welt. Oder man warf sich anbiedernd als Vasall zu Boden. Ein gesundes Nationalgefühl ( «.... Und nicht über und nicht unter andern Völkern wolln wir sein») gab es dafür in der DDR, wo man sich der UdSSR kulturell und sprachlich nie so anglich und anbiederte, wie die BRD den USA. Der Unterschied: Die Russen erwarteten das auch gar nicht. Sie hatten und haben immer noch größte Hochachtung vor deutschen kulturellen Traditonen.
  • Leserbrief von AG (30. Juli 2025 um 02:55 Uhr)
    Donahue ist Experte für Terroroperationen. https://lc.nato.int/about-us/biographies/commander Von Kontinentalkriegen mit 2 Millionen Mann hat der Herr noch weniger Ahnung als ein gewisser Mr. Cavoli. Er ist schlicht überfordert. Aber da er nicht weiß, dass er nichts weiß, ist er sich seines Mangels nicht bewusst und es treibt ihm nicht die Schamesröte ins Gesicht, wenn er solch Gewäsch von sich gibt - insgesamt ist Letzteres die wichtigste Kompetenz im Zeitalter der Lüge als Ausdruck von »policy« und »governance«. Er kann Bullshit in die Kameras reden ohne sich wie ein Idiot vorzukommen, exzellente Voraussetzung für Schmierenkomödiantentum. Alles in allem ist die NATO-Katastrophe von Kursk der beste Beweis, wie grausam vermessen und verantwortungslos es in Straßburg oder Ramstein zugehen muss - zuständig für jenen militärstrategischen Offenbarungseid übrigens Mr. Donahue. Verluste der AFU in Kursk bis 9. April 2025 laut russ. Vert.Ministerium: »72.990 Soldaten, 405 Panzer, 2.260 gepanzerte Fahrzeuge, 597 Artilleriegeschütze« Von den Morden an Zivilisten nicht zu reden. Diese Zahlen wurden berichtet von RIA News, die in der BRD blockiert wird, denn Meinungs-und Informationsfreiheit gilt nur für Meinungen und Informationen die deutsche Behörden für richtig befinden. Auf welcher Basis sie diese sakrale Expertise erworben haben, wird nicht offenbart. Schade eigentlich. Auch ich wäre gerne erleuchtet. Und was geschieht mit jenen Beamten, die mit der bösen russischen Desinformation in Kontakt geraten um uns dann zu beschützen - kommen die in Quarantäne? p.s. Die deutsche Presse kann die Berichte gerne in Zweifel ziehen. Aber dafür müsste sie sie wenigstens berichten. Stellt sich zudem die Frage: Warum sollten die Zahlen falsch sein? Die Russen werden nicht davon ausgehen, dass ihre Veröffentlichungen bei uns irgendeine PR-Wirkung entfalten à la Russiagte (hi-hi-hi-hi). - denn ist ja vom Russen, und der - um Adenauer zu zitieren - »lücht« ja bekanntlich.

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