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Kaputt

Von Helmut Höge
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Wir fluchen, wenn irgend etwas sehr schnell kaputtgeht. Aber wenn man dem marxistischen Erkenntnistheoretiker Alfred Sohn-Rethel glauben darf, gibt es zumindest für den Neapolitaner ein »Ideal des Kaputten«. Denn wenn er sich einen neuen Motorroller kauft, ist ihm das reibungslose Funktionieren der Maschine unheimlich. Erst wenn der Roller einen Schaden hat, den er mit einem Gummiband oder ähnlichem reparieren kann, hat er das Gefühl, dass er die Maschine wirklich beherrscht. Der Neapolitaner denkt konstruktiv.

Das deutsche Ideal des Kaputten ist eher destruktiv, es findet seinen Ausdruck im »Wutraum«. Der erste entstand in Halle (Saale), der zweite in München, der dritte in Berlin (hier heißt er natürlich Crashroom). In diesen Aggressionsabfuhr-Startups schlagen vorwiegend Frauen alles kurz und klein. Sie müssen dafür zwischen 100 und 200 Euro zahlen, je nachdem, welche Dinge sie zertrümmern wollen. »Bei manchen Leuten kann die Aggression durch so etwas allerdings noch gesteigert werden«, warnt die US-Psychologin Jennifer Hartstein. Und denkt dabei nicht zuletzt an die zahlreichen Schnellfeuergewehre in den Händen ihrer Landsleute – und wie schnell man damit nicht nur Dinge, sondern vor allem Menschen zerstören kann.

Es gibt ein drittes Ideal des Kaputten: das »Macht kaputt, was euch kaputt macht« aus dem gleichnamigen Song der Kreuzberger Gruppe Ton Steine Scherben – der Bandname als Handlungsanweisung: grölen, Pflastersteine ausbuddeln, Geschäfte oder Banken entglasen.

Dahinter steht die Marxsche Analyse des Kapitalismus, der eine so »ungeheure Warenansammlung« hervorbringt, dass die Beziehung zwischen den Menschen und den von ihnen hergestellten Dingen sich umkehrt. Mit Marx gesprochen: auf der einen Seite »sachliche Verhältnisse der Personen«, auf der anderen »gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen« – beides miteinander verklammert. Nämlich dadurch, dass sich erst im Akt des Tausches Gesellschaft – abstrakt – herstellt. Zwar ist der »Tauschakt« sozial, aber die daran Beteiligten handeln solipsistisch.

Zum Beispiel in der Supermarktfiliale von Kaufland, wo wir unser als »Ware Arbeitskraft« verdientes Geld gegen »Waren des täglichen Bedarfs« eintauschen – bei der Kassiererin, deren Befindlichkeit uns in dem Moment und überhaupt eher gleichgültig ist. Wir verkörpern hier das »sachliche Verhältnis zu den Personen«, während unsere Gedanken in diesem Tauschakt bei den »gesellschaftlichen Verhältnissen der Sachen« sind, die wir einkaufen.

Aber noch stehe ich nicht an der Kasse in der Schlange, sondern allein an der Käsetheke und überlege, welchen Käse ich denn diesmal kaufen will. Die Käsefachverkäuferin sagt zweimal: »Der nächste bitte!« Ich entschuldige mich: »Ich habe Sie gerade nicht gehört, ich werde wohl langsam alt.« Die Käsefachverkäuferin antwortet: »Das Alter spielt keine Rolle, außer man ist ein Käse.« Sie grinst, ich lächele sie an und gucke genauer hin. Sie hat einen weißen Kittel an, in dem sie aussieht wie eine Zahnärztin. Die Schriftstellerin A. L. Kennedy würde sie »Käseärztin« nennen.

Wir reden weiter miteinander, zunächst über Weichkäse, einkaufsbezogen, dann übers Wetter und Urlaubstage am Meer. Man könne noch baden, meint sie und sieht mich mit strahlenden Augen an. Das lenkt mich so ab, dass ich bald wieder nicht hinhöre. Als ein neuer Kunde Käse verlangt, verabschiede ich mich, treffe sie aber wenig später vor der Einkaufspassage wieder, ohne Kittel, sie hat Feierabend. Ich lade sie in ein nahes Café ein. »Warum nicht«, sagt sie.

So kann einem der Konsumentendialog im Kaufland kaputtgehen. »The act is social, the minds are private«, sagt Sohn-Rethel über den Kaufakt. An der Käsetheke war es mal umgekehrt.

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