Ein Leben für die Freiheit
Von Gerhard Folkerts
Mikis Theodorakis, Komponist, Dirigent, Sänger, Dichter, Widerstandskämpfer und Politiker wäre am 29. Juli 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass erinnert die Welt mit Liedern und Gedichten an einen Menschen, den auch Verfolgungen, Verbannung und Gefängnis nicht beugen konnten. »Ich bin in einer konkreten historischen Situation aufgewachsen, bin durch meine Epoche und das griechische Volk geprägt worden. Ich bin ein Kind der Agora. Ich wuchs auf während der Ereignisse von 1939, 1940, 1941, 1944, 1947, 1967. Das Thema der lebenden Toten hat große Auswirkungen auf das Leben eines Menschen.«
Theodorakis’ Familie stammt von Kreta. In Galatas, nahe Chania, steht das Haus der Großeltern und Eltern. Hier soll ein Theodorakis-Museum entstehen. Die Umbauarbeiten haben begonnen. Die Urgroßeltern lebten in Sfakia im Südosten Kretas und waren virtuose Musiker, bekannte Sänger, Lyraspieler und Widerstandskämpfer. Der enge Zusammenhalt der kretischen Familie ermöglicht Mikis Theodorakis in Welt- und Bürgerkriegszeiten das Überleben.
Bedingt durch die häufigen Macht- und Regierungswechsel in Griechenland und den Beruf des Vaters, der als Jurist im Staatsdienst unter dem erstmals vom Volk gewählten Präsidenten Venizelos arbeitet, muss die Familie ständig den Aufenthaltsort wechseln. Daher wird Mikis Theodorakis nicht auf Kreta oder in Athen geboren, sondern auf der griechischen Insel Chios, nahe der türkischen Küste. Die Ortswechsel bewirken, dass es ihm bis zum Studium nicht möglich sein wird, soziale Bindungen und Freundschaften zu knüpfen. In Patras aber erlebt er mit zwölf Jahren die Solidarität der Einheimischen mit Flüchtlingen aus Kleinasien, zu denen 1922 auch Mikis’ Mutter gehörte, die ihr Haus in Smirna, heute Izmir, zwangsweise verlassen muss. Später verfügen Mikis’ Eltern nicht über genügend Geld, um ihrem musikalischen Sohn ein Klavier zu kaufen. Daher bittet Mikis seinen Vater, ihm eine Violine zu beschaffen. Er erhält sie zusammen mit einem Musiklehrbuch, außerdem am Konservatorium Violin- und Musiktheorieunterricht.
Komponist werden
Hier kommt es zu Mikis’ erster direkter Begegnung mit der Kunstmusik. Als Zwölfjähriger sieht Mikis einen Film über Beethovens Leben und fasst den Entschluss, Komponist zu werden. Wie Beethoven seine 9. Sinfonie instrumentiert, besetzt Theodorakis später vier seiner fünf Sinfonien mit Vokalsolisten, Chor und Sinfonieorchester. Nur die 1. Sinfonie orchestriert er rein instrumental. Diese Sinfonie komponiert Theodorakis in Erinnerung an seine Jugendfreunde Karlis und Zannos, die auf beiden Seiten der Front im griechischen Bürgerkrieg ihr Leben verloren haben. Als Mikis’ Vater während der Metaxa-Diktatur 1939 nach Pirgos versetzt wird, es war einer von zehn Umzügen an einen fremden Ort, versinkt Mikis in völlige Einsamkeit. Einzig das tägliche zweistimmige Singen mit der Mutter, das Spiel auf der Violine und der Wunsch, Komponist zu werden, geben ihm Halt. Und er entdeckt in der Tausende Bücher fassenden Bibliothek des Vaters die Literatur von Solomos, Palamas, Platon, Sophokles, »die meine einzigen Kameraden wurden. Den Menschen machen die Freunde aus, die er wählt und die Bücher, die er liest.«
»In den ersten fünfzehn Jahren meines Lebens hatte ich die Welt bereits kennengelernt und mein Gesicht von ihr abgewendet. Ich fand keinen Gott. Ich fand keinen Menschen.« Auf der Suche nach dem Dialog mit den Hörern wählte er bis 1960 die klassische Liedform, »obwohl sich meine äußere Biographie immer im Zentrum der Ereignisse bewegte. In der einen Tasche Kafavis, in der anderen Brahms, verbrachte ich Illegalität, Kämpfe, Gefängnisse und Verbannung mit dem Kleinhändler, Klempner, Feldarbeiter, Fischer, die von der Existenz des Künstlers keine Ahnung hatten. Ich sah damals in der Kunst kein Mittel zur ›Harmonisierung der Gesellschaft‹. Das versuchte ich erst in den 60er Jahren durch die Verschmelzung von Volkslied und hoher Dichtung durch die Entwicklung verschiedener Liedformen zu erreichen, durch das Volksoratorium (Canto General, Axion Esti, Sadduzäer-Passion) und durch die Verbindung von Sinfonie- und Volksorchester. Zudem entdeckte ich mit dem künstlerischen Volkslied eine Kunstform für die Massen. Das Lied eröffnete mir einen geheimen Weg zur Seele des Menschen, und ich kommunizierte mit ihm. Für den Klerus der Macht bedeutete das eine große Gefahr. Im Tun war ich damals Marxist, im Denken Idealist.«
Für wen komponieren? Und wie sich musikalisch verständlich machen? Fragen, mit denen Theodorakis jahrzehntelang ringt, die sein künstlerisches und politisches Handeln prägen. »Der Mensch muss sich im Kunstwerk erkennen können. Für wen arbeitet der Komponist, für eine Handvoll eingeweihter Snobs oder für die eigene Unsterblichkeit? Ich lehne die Haltung jener Komponisten ab, die Werke komponieren, die nur von Fachleuten beklatscht werden. Der Kern des Problems liegt darin, ob man als Künstler in der Lage ist, die elementaren Konflikte und Widersprüche der Gesellschaft zu erfassen und zu verarbeiten.«
Die unterschiedliche kulturelle Entwicklung jedoch, hervorgerufen durch die geschichtlichen Ereignisse, bewirkt eine Ungleichzeitigkeit der Künste, die besonders in dem mehrere Jahrhunderte besetzten Griechenland die musikalische Entwicklung hemmte. Folglich dürfen griechische Kompositionen des 19. und 20. Jahrhunderts nicht mit westeuropäischer Musik verglichen werden. »In jenen Epochen, als in Deutschland Bach oder Mozart, in Italien Vivaldi oder Rossini, in Frankreich Couperin lebten, ›schrieben‹ unsere ›Komponisten‹ ihre Meisterwerke: die Trauergesänge von Mani (die mittlere Halbinsel im Süden der Peleponnes), die Rizitika (Tischgesänge des kretischen Volksliedes), die Lieder und Tänze von Roumeli (Zentralgriechenland, im 19. Jahrhundert die Bezeichnung für das Festland im Süden Griechenlands), Epirus (Regierungsbezirk im Nordwesten Griechenlands) und den Inseln. Nun waren aber unsere ›Komponisten‹ Hirten und Fischer, so dass ihre Technik nicht über die Grenzen der Naturinspiration hinausging.« Noch im 19. Jahrhundert existieren in Griechenland keinerlei Voraussetzungen für die Entwicklung einer eigenen Musikkultur. Sinfonieorchester, Chöre, Verlage, Konzerte, Konservatorien sind in der Provinz unbekannte Dinge.
Musik und Sprache
Fast 400 Jahre, von 1453 bis 1830, ist Griechenland, abgesehen von den Ionischen Inseln, türkisch besetzt. Wie konnte sich unter den Bedingungen einer Fremdherrschaft eine kulturelle Identität erhalten? Möglich war dies nur durch den Erhalt und die Pflege der griechischen Sprache, durch die Volkslieder und die Lieder der Kleften genannten Freiheitskämpfer gegen die Türken, durch die Rembetiko-Musik, die die Griechen von der Mittelmeerküste mitgebracht hatten, und durch die traditionelle Musik der griechisch-orthodoxen Kirche.
Theodorakis schreibt in seiner Autobiographie »Die Wege des Erzengels Michael«: »Von 1821 (Beginn des griechischen Freiheitskrieges) bis 1830 haben die Griechen die Revolution gegen die Türken gemacht. Man hat den Partisanen, den Revolutionshelden den Sieg gestohlen. Es kamen die Bayern, die Fremden. Man bildete drei Parteien, die deutsche, die englische und die russische. Die ausländischen Mächte haben den Griechen eine politische Klasse aufgezwungen, die korrupt war, und haben Fremde auf den Thron gesetzt. Dieses Unheil wiederholte sich 1944. Die Großmächte, Stalin, Roosevelt und Churchill, haben uns unsere Siege erneut gestohlen und uns eine politische Klasse aufgezwungen, mit einer amerikanischen, einer englischen und einer russischen Partei, und diese Klasse war korrupt, nicht aus dem Volk heraus gewachsen. Und so stahl man dem Volk wiederum seine Verantwortung und wollte es zu Zuschauern herabwürdigen. Ich gehörte zur Klasse der Patrioten, der Partisanen, der Revolutionäre.«
Nach dem Rückzug italienischer und deutscher Truppen besetzen die Engländer Griechenland und zerschlagen auf Befehl Churchills die nationale Befreiungsfront EAM, die »Hoffnung der Griechen für die Zukunft«. In seiner Dankesrede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Kreta, verliehen in Chania im Jahre 2007, führt Theodorakis aus, dass diese Hoffnung zu Recht bestand, da die EAM, die sich aus verschiedensten Parteien und Organisationen zusammensetzte, 90 Prozent des Landes kontrollierte. Der Vertrag von Varkiza legt dann 1945 fest, dass die Partisanen die Waffen abgeben, andererseits die Kollaborateure bestraft werden sollen. Doch Churchill fliegt nach Moskau, und es gibt zwischen ihm und Stalin eine Abmachung, die die Einflusssphären beider Länder festsetzt. Griechenland untersteht nun nach dem Gespräch mit Stalin der Einflusssphäre Englands, die Länder Bulgarien und Rumänien unterstehen der Einflusssphäre der Sowjetunion, Jugoslawien bleibt neutral. Als die griechische Regierung noch über eine Armee verfügte, hätten eine allgemeine Mobilmachung und ein Massenaufstand stattfinden und ein demokratisch-sozialistisches Griechenland errichtet werden können. Churchill erkennt dies, interveniert, und England löst mit Gewalt alle demokratischen Organisationen in Griechenland auf und zwingt damit die Griechen zum Bürgerkrieg. Auslöser wird der Blutsonntag am 3. Dezember 1944, an dem die Polizei in eine unbewaffnete Protestaktion in Athen schießt, die gegen die Abgabe aller Waffen protestiert. Der weiße Terror über Griechenland kehrt nun die Machtverhältnisse um. Kollaborateure, deren Ziel die Restauration der Monarchie ist, kontrollieren Griechenland. Jeder, der kein Royalist ist, wird von den Rechten als Kommunist angesehen und verfolgt. Als der englische Botschafter diese Entwicklung stoppen will, ruft ihn Churchill zurück. Kommunist zu sein sei ein größeres Verbrechen, als mit den Nazis kollaboriert zu haben.
Im nun unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sich anschließenden griechischen Bürgerkrieg studiert Theodorakis am Athener Konservatorium von 1945 bis 1950 Komposition. Zum ersten Mal hört er zu Beginn seines Studiums live den Klang eines Orchesters. Und er agiert aktiv im Studium gegen die ausländischen Besatzer. Im Untergrund komponiert er seine ersten Kammermusikwerke wie die elf Präludien für Klavier, das Klaviertrio für Violine, Violoncello und Klavier und das Sextett für Flöte, Klavier und Streichquartett. In einem unserer Athener Gespräche fragte ich Theodorakis, warum er nicht wie Bach, Chopin, Schostakowitsch zwölf oder vierundzwanzig Präludien komponiert habe. Er erwiderte: »Das ist einfach zu beantworten. Nachdem ich mein elftes Präludium geschrieben hatte, wurde ich verhaftet und nach Ikaria in die Verbannung geschickt.«
»Für diese Zeit und für mich war das Bewusstsein ausschlaggebend, dass wir bald den Kommunismus aufbauen würden, so dass ich ständig nach dem ihm entsprechenden musikalischen Ausdruck suchte – das war für mich die klassische oder sinfonische Musik. Ich wende mich an die immer weniger werdenden Menschen, die keine Angst haben, sich zu erinnern, die dem Vergessen widerstehen. Die meisten befinden sich zur Zeit in einer tiefen Hypnose. Diese Entwicklung begann 1949 zur Zeit der Niederlage. Seitdem wird die Geschichte einseitig geschrieben. Wir kämpften gegen die englische und später amerikanische Vorherrschaft. So blieb ich frei und unbeugsam.«
Keine Reue
Während seiner Studienzeit agiert Theodorakis im Untergrund, steht auf den Fahndungslisten der Machthaber, wird von seiner Familie, seinen Freunden und seinen Hochschullehrern versteckt, schließlich mehrmals verhaftet, zweimal auf die Insel Ikaria verbannt und 1949 auf die »Umerziehungsinsel« Makronisos gebracht. Hier in der Hitze der Trockeninsel sollen die Gefangenen gezwungen werden, mit ihrer Unterschrift unter der »Reueerklärung« antimonarchistische Ideen und Handlungen aufzugeben, den König anzuerkennen, ihren Idealen abzuschwören und zukünftig keine weitere politische Betätigung mehr auszuüben. Theodorakis widersteht auf Makronisos extremer Brutalität und unterschreibt nicht. Die Folterer zwingen ihn zu entscheiden, ob sie ihm den Arm oder das Bein brechen sollen. Als Musiker ist seine Entscheidung eindeutig. Die psychischen und physischen Folgen begleiten ihn bis an sein Lebensende.
Von Mitgefangenen auf Makronisos hört Theodorakis demotische und laizistische Musik und erfährt etwas über die Schönheiten des Rembetiko, der Musik der Unterschicht, einer ihm bisher unbekannten Musikwelt. Es entsteht der Grundstock einer einzigartigen Volksliedsammlung. In seiner Autobiographie schreibt Theodorakis: »Der Lärm des Sturms ist einzigartig und apokalyptisch für das musikalische Gehör. Während des Sturms überwiegt das harmonische Element, viele Töne, die gleichzeitig erklingen. Das Rauschen des Meeres, der Brandung, war das Fundament. Darüber erhob sich das Brausen, das im Zentrum des Sturms existiert. Dann gibt es die verschiedenen Tonlagen der Winde. Ich entdeckte noch eine Dimension, als ich tausend Menschen des ersten Strafbataillons zugleich brüllen hörte. Dieser Klang war jedoch für den menschlichen Verstand unfassbar. Beeinflusst von diesen Erfahrungen schrieb ich meine 1. Sinfonie und ›Elegie und Klage für Vasilis Zannos‹«.
Das Ende des Bürgerkrieges ist auch das Ende von Theodorakis’ Qualen der Gefangenschaft auf Makronisos. In den Folgejahren sieht er es als eine seiner wesentlichen Aufgaben, die »Wunde Makronisos« zu schließen, Versöhnung zu erreichen zwischen den verfeindeten griechischen Volksteilen, aber auch zwischen den Völkern.
Griechenlands Fremdbestimmung durch ausländische Staaten nach venezianischer, osmanischer, italienischer, deutscher und englischer Besetzung, die Vertreibung der Griechen von der zuvor jahrhundertelang besiedelten türkischen Küste, die Erfahrungen im Bürgerkrieg, der Untergrundkampf, das Leben als Untergetauchter in Athen und als Partisan in den Bergen, die Ermordung der beiden Jugendfreunde, die auf beiden Seiten der Front der sich bis zum Tod bekämpfenden Bürgerkriegsparteien standen, die Dezemberereignisse in Athen 1944, die »Wunde Makronisos«, die Militärdiktatur Ende der 1960er Jahre, das Exil in Paris bis 1974, die Arbeit als Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung von Konstantinos Mitsotakis in den Jahren von 1990 bis 1992, in der Theodorakis sich für Kultur und Bildung, gegen Drogen und Terrorismus und für bessere Beziehungen zur Türkei einsetzt, die Wirtschaftskrise der 1980er und 1990er Jahre – all das prägt Theodorakis’ Leben, sein politisches Handeln und seine damit verbundene künstlerische Arbeit bis zu seinem letzten Lebensjahr.
Soziale Harmonie
All dies spiegelt sich in seinen Kompositionen wider: in der 1., 3. und 7. Sinfonie, im Theaterstück »Die Ballade vom toten Bruder«, zu dem Theodorakis nicht nur die Musik, sondern auch den Text schreibt. Das Oratorium »Canto General« kündet von der Unterdrückung und den Befreiungskämpfen der Völker Lateinamerikas. In Opern, Sinfonien und Liederzyklen gestaltet Theodorakis musikalisch die Trauer und das Leid der Mütter um ihre getöteten Söhne: in »Epitafios«, der 3. Sinfonie, bis hin zur letzten und fünften Schaffensphase, den Opern »Antigone«, »Elektra«, »Medea«, »Lysistrata« und »Karyotakis oder die Metamorphose des Dionysos«, in denen die Frage nach dem Zusammenleben der Menschen, nach Macht und Herrschaft gestellt wird. »Die Oper ›Lysistrata‹ enthält das, was ich mein ganzes Leben verkünde: Mein Ruf nach Versöhnung und Einheit. Das ist meine Philosophie. Zunächst die Union aller Griechen, danach die Vereinigung aller Bürger der Welt. Ich denke, das ist das, was universelle Harmonie ist, nämlich die soziale Harmonie.«
In allen fünf Schaffensphasen bildet das Lied den Schlüssel, um Theodorakis den Zugang zu den Menschen, zum Volk zu öffnen. »Eine Melodie besteht aus einem Gesicht und einer Seele. Ich habe die Seele der Melodien aufgegriffen, ihre Linie, das ›Bewusstsein‹ der Melodien. In meinen Werken ist die ganze byzantinische, demotische und laizistische Musik enthalten. Damit habe ich mich dem Volk vertraut gemacht. Es hat meine Musik abends gesungen und nicht einmal gewusst, wer sie geschrieben hat. Die Musik hatte sich vom Volk entfernt. Ich brachte sie ihm wieder. Die tragoudi (Lieder) haben für das Volk und im Volk eine enorme Bedeutung, wie die alten Choräle und die Kirchenmusik. Später habe ich versucht, die zwei Richtungen, die ich in mir erkannt hatte, zu verbinden, nämlich die Volksmusik und die sinfonische oder klassische Musik, und das hat mir eine neue Dimension gegeben. Wichtig ist, dass ich wie eine kollektive Stimme gewirkt habe. Ich halte den Augenblick der Trennung von den Wurzeln der nationalen Kultur für den Augenblick einer Krise. Diese Krise führt in die Sackgasse und zwingt zu Lösungen. Viele Lösungen sind möglich, aber sie können nicht überall die gleichen sein. Eine Rückkehr zu den Wurzeln war der westlichen Kultur unmöglich, denn nicht allein die Kunst, auch die Menschen sind ihren Wurzeln zu sehr entfremdet.« Uns erfüllt die Faszination und Schönheit, die von Theodorakis’ Musik ausgeht, mit neuen Klangwelten, unbekannten Emotionen und neuen Gedanken. Das Erlebnis seiner Musik gehört somit im 21. Jahrhundert zum kostbarsten Besitz der Menschheit.
Von 1954 bis 1959 studiert Theodorakis am Pariser Konservatorium Dirigieren bei Eugéne Bigot und besucht das Analyseseminar von Olivier Messiaen. Wie Boulez, Stockhausen und Xenakis studiert Theodorakis bei Messiaen Ästhetik, Rhythmus und Analyse. Hier lernt er Kompositionen von Schönberg, Varese und Werke von Gegenwartskomponisten wie Strawinsky und Cage kennen. Er schreibt seine Examensarbeit über das Ballett »Argon« von Strawinsky. Dadurch entdeckt Theodorakis die kompositorische Tetrachordtechnik, die später in »Axion Esti« und der »Sadduzäer-Passion« für seinen Kompositionsstil besondere Bedeutung erhalten wird. Warum studierte Theodorakis nicht in der Komponistenklasse von Messiaen? Die gab es noch nicht, denn Messiaen war von den französischen Behörden das Unterrichten in einer Komponistenklasse verboten worden, da man ihn »eines skandalträchtigen Modernismus« verdächtigte. Erst nach Theodorakis’ Rückkehr nach Griechenland erhält Messiaen in Paris eine Professur für Komposition.
Stimme des Volkes
Noch in Paris komponiert Theodorakis »Epitafios« nach einem Text von Jannis Ritsos und erreicht mit diesem volksliedhaften Liederzyklus die Gedanken und Gefühle des Volkes. »Romiosini«, »Die Geisel«, der »Mauthausen-Zyklus« entstehen in den 1960er Jahren und sind trotz zahlreicher Aufführungsverbote nicht mehr aus den Köpfen und Herzen der Griechen zu verbannen.
Die Junta verbietet nach dem Militärputsch 1967 per Militärerlass den Besitz von Noten, Schallplatten und jegliche Aufführung der Musik von Theodorakis. Als erster ruft der Komponist einen Tag nach der Machtergreifung der Obristen zum Widerstand auf. Er wird verhaftet, in das Oropos-Gefängnis am Stadtrand Athens gebracht und dann zusammen mit seiner Frau Myrto und den beiden Kindern Margarita und Yorgos in das kleine Bergdorf Zatouna auf der Peleponnes verbannt und dort streng bewacht. Hier komponiert er die »18 kleinen Lieder der bitteren Heimat« und die »Arkadia-Lieder«. Sie gelangen auf besonderem Wege zu den Griechen. Sie werden in den von Myrto eingenähten Knöpfen der Jacken und Mäntel der beiden zehn- und neunjährigen Theodorakis-Kinder, die ihre Großeltern in Athen besuchen dürfen, herausgeschmuggelt.
Internationale Solidaritätsaufrufe von Harry Belafonte, Leonard Bernstein, Dmitri Schostakowitsch, Hanns Eisler, Paul Dessau und Hans-Werner Henze tragen mit zur Befreiung und Ausreise ins Pariser Exil bei. Hier kommt es zur Begegnung mit Pablo Neruda, dem chilenischen Botschafter in Frankreich. Die ersten Teile von »Canto general« entstehen. Schließlich ermöglicht das Ende der Militärdiktatur nach fast acht Jahren eine triumphale Rückkehr von Theodorakis nach Griechenland.
Theodorakis’ ungebrochenes gesellschaftliches Engagement zeigt eine Einheit im künstlerischen wie im politischen Handeln. Im 20. Jahrhundert ist sie bei nur wenigen Komponisten zu finden. Seine Kompositionen eröffneten eine eigene neugriechische Klangwelt, die von den Menschen verstanden wird. Trotz der bedrückenden Situationen und schwierigen Lebensbedingungen in Weltkrieg und Bürgerkrieg gibt Theodorakis mit seiner Musik den Menschen immer wieder Stärke und Lebensfreude. Die Macht seiner Musik erreicht, dass die Menschen, egal welcher Herkunft und Kultur sie entstammen, zueinander finden. In den Stürmen der Geschichte sind Theodorakis’ Werke den Orientierungslosen ein Kompass, sie sind Ausdruck von Freude und Freundlichkeit, von Trauer und Zorn, und helfen, Hass und Vorurteile zu überwinden.
Wer das Glück hatte, ihm zu begegnen, spürte seine Menschenfreundlichkeit, seine Gesprächsbereitschaft, empfand die große Aura dieses Mannes, dessen künstlerisches und politisches Erbe zu bewahren ist. »Deutsche und Griechen haben etwas Wesentliches gemeinsam: Sie sind in der Vergangenheit in ihrem Land jeweils brutal behandelt worden. Die Griechen durch fast 400 Jahre türkische Unterdrückung, die Deutschen durch fehlende Demokratieausübung, was die Diskriminierung und Erniedrigung unterschiedlicher Gesellschaftsschichten zur Folge hatte. Einfühlung und Verständnis entgegenbringen, sich nicht mehr gegen, sondern für den Frieden entscheiden, für ein friedliches Miteinander zwischen den Völkern. Hört die Musik, lest die Literatur! Sie werden Euch viel erzählen. Die Musik kann die Welt nicht verändern. Aber sie ist einer der besten Wege, um zu verstehen, dass wir letztlich nichts dringender wünschen als Frieden.«
Gerhard Folkerts ist Komponist und Konzertpianist und setzt sich seit Jahren schwerpunktmäßig mit Mikis Theodorakis auseinander. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 29. Juli 2020 anlässlich von Theodorakis’ 95. Geburtstag: »Kompositionen des Widerstands«
75 für 75
Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas E. aus Schönefeld (29. Juli 2025 um 07:30 Uhr)Ich hatte das große Glück, Mikis Theodorakis in Berlin zu begegnen - im Jahr 1987. Die Herzenswärme, diese Menschlichkeit hat mich tief beeindruckt und vor allem geprägt. Schon als Kind malte ich Blumen für Mikis Theodorakis und schickte sie nach Athen. Diese Aktion der Kinder in der DDR war ein greifbares Symbol der Solidarität mit dem damals so geschundenen griechischen Volk. Seine Musik hat mich nie losgelassen. Eines seiner größten Werke ist der Canto General - nach den Worten Pablo Nerudas zeigte es einmal mehr, wie Theodorakis dachte und fühlte. Dieses Werk der Solidarität mit Lateinamerikas wurde in der DDR zu den unterschiedlichsten Anlässen aufgeführt. Ich hörte es im Palast der Republik, und die Schallplatte steht heute noch bei mir im Schrank. Auch die kleinen Lieder, Hymnen machten Mikis aus. In dem Lied »Nur diese eine Schwalbe« von Odysseas Elytis heißt es: »Stürme und Fröste und Opfer im geschundenen Land. Nötig wie Nahrung ist uns dennoch der Widerstand«. Wir sollten uns in der heutigen Zeit an viele Lieder und vor allem an die Inhalte erinnern. Viele sind aktueller denn je... Und vielen, herzlichen Dank an Gerhard Folkerts für diese wunderbare Darstellung des Lebens des für mich größten Griechen der Neuzeit.
- Antworten
Ähnliche:
- Cola Images/imago19.10.2023
Wider Versailles
- gemeinfrei09.09.2022
An der Schwelle zum Krieg
- wikimedia.org/NARA/Commons/public domain10.03.2017
Als der Krieg kalt wurde