Ideologischer Rollback
Von Werner Seppmann
In den kommenden Tagen erscheint im Kasseler Mangroven-Verlag der posthum veröffentlichte Band Werner Seppmanns (1950–2021) »Der Schlaf der Vernunft. Der Rechtsextremismus und das Versagen der Intelligenz«. Wir dokumentieren daraus mit freundlicher Genehmigung des Verlags einen redaktionell bearbeiteten Auszug. (jW)
Der Aufstieg des Rechtsextremismus könnte als weniger dramatisch eingeschätzt werden, wenn wirksame Kulturen des weltanschaulichen Widerspruchs als Gegengewicht zu den rechten Formierungen existierten, es eine gesellschaftlich verankerte Kultur intellektueller Widerständigkeit und sozialen Selbstbestimmungsbegehrens gäbe. Verbreitet sind bei Künstlern, Literaten, Wissenschaftlern und Intellektuellen zwar Ablehnungshaltungen gegenüber rechts, das heißt, es existiert ein antifaschistischer und antirassistischer Konsens, der (mit Ausnahme in einigen subkulturellen Nischen) aber meist kaum mehr als eine Konvention mit geringer Ausstrahlung darstellt, weil er nur noch selten mit gesellschaftskritischen Positionen und einer nachdrücklichen Oppositionshaltung verbunden ist: Jede Vorstellung einer historischen Alternative bleibt ausgeklammert; gerade dann, wenn sozioökonomische Widerspruchsturbulenzen und irrationalistische Exzesse thematisiert werden. Die unvermeidliche Konsequenz dieser Haltung ist die Hinnahme des Gegebenen auch in seinen krisenhaften und »pathologischen« Erscheinungsformen. Es wird dadurch ein Beitrag zur kollektiven Selbsttäuschung geleistet, dass andere Zustände zwar wünschenswert, aber nicht mehr möglich wären. Diese Situation ist Ausdruck einer geistigen Klimaveränderung, die in der Bereitschaft großer Teile der Intelligenz kulminiert, ihren Kritikanspruch gegen intellektuellen Relativismus und affirmative Grundhaltungen einzutauschen.
Scheinbar radikal
Bei Lichte, das heißt ohne den herrschenden intellektuellen Opportunitätsdruck betrachtet, ist postmodernes Denken intellektueller Dadaismus, der durch seine bilderstürmerische Gestik den Schein von Radikalität erzeugt, auch so manche bürgerlich-philosophische Selbstgefälligkeit aufspießt, aber dabei nicht nur über das Ziel hinausschießt, sondern den Willen erkennen lässt, jeglichen rationalen Interpretationsmodus zu destruieren, gerade auch den kritischen, der in der Lage wäre, die sozialen und kulturellen Paradoxien der späten bürgerlichen Gesellschaft zu durchschauen.
Die ideologischen Anpassungsleistungen wurden, weit über die resignative Weltbildarbeit einer nihilistischen ästhetischen Praxis hinausreichend, durch den Terraingewinn eines postmodernen Denkens ermöglicht, das seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts als »Brandbeschleuniger« intellektueller »Rückwärtsorientierungen« fungiert. Explizit positionierte es sich als Gegenprogramm zur klassischen Aufklärungstradition, aber auch zu den Prinzipien eines methodischen Denkens: »Die Ausgangsthese des Postmodernen Wissens besagt, daß es mit der Legitimationskraft der Meta-Erzählungen (womit primär der Marxismus gemeint ist) vorbei ist, dass wir an sie nicht mehr glauben. Die drei großen Meta-Erzählungen der Moderne – die aufklärerische von der Emanzipation der Menschheit, die idealistische von der Theologie des Geistes und die historische von der Hermeneutik des Sinns – sind zu Gestalten der Vergangenheit herabgesunken, bilden keine Kraft der Gegenwart mehr.«¹
Trotz aller Differenzierung in Detailfragen verbindet die Denker der Postmoderne eine Reihe theoretischer Auffassungen, philosophischer Orientierungen und weltanschaulicher Fixierungen. Hinsichtlich dieser verbindenden Programmpunkte sind die Namen »Schall und Rauch«, weil die Positionen austauschbar sind. Es gibt bei Baudrillard, Deleuze, Derrida, Foucault, Lyotard oder auch Vattimo mehr als nur ein verbindendes »Grundrauschen«. Was die Postmoderneprotagonisten auch verbindet, ist ihre Argumentationspraxis, bei der Rituale der Wiederholung dominieren, ohne substantiell auf die vorgetragenen Bedenken und Argumente einzugehen. Insgesamt werden die grundlegenden Standpunkte kaum begründet; gearbeitet wird meist mit apodiktischen Setzungen.
Dass Wolfgang Welsch ausdrücklich von einer »Ausgangsthese« des Postmodernismus spricht, trifft insofern den Kern der Sache, dass alle seine Grundorientierungen mit nur geringem Reflexionsaufwand postuliert werden: Jede Emanzipationsvorstellung hätte sich überholt und wissenschaftliche Wahrheitsbemühungen seien hinfällig geworden. Ausgangspunkt dieser Überzeugungen ist die Behauptung einer prinzipiellen Ununterscheidbarkeit von Realität und Illusion, Wahrheit und Lüge. Aber auch das Bemühen, soziale Gleichheit zu realisieren, habe sich als vergebliches Unterfangen erwiesen: Alle Versuche sozioökonomischer Regulierung hätten ihr Ziel verfehlt. Statt Emanzipation habe der historische Fortschritts- und gesellschaftliche Gestaltungswille nur neue Widersprüche erzeugt. Nach einem programmatischen Satz des postmodernen Vordenkers Lyotard seien deshalb »die Begriffe der Emanzipation, aber auch der Freiheit, sowie des Guten und Bösen (…) irrelevant« geworden.² Es gehört zu den »Leistungen« des Postmodernismus, »eine Sklavenideologie für das neoliberale System zu erfinden. Er kritisierte Sexismus, Rassismus, Kolonialismus und patriarchale Gewissheit in der Wissenschaft – wobei er jedoch den Anspruch aufgab, das System zu stürzen, das diese Phänomene hervorgebracht hatte. Statt dessen betrachtete er die neue Realität der Atomisierung und des hemmungslosen Konsums als unvermeidlich.«³
Unmögliche Erkenntnis
Auch Luhmann, der es strikt abgelehnt hat, den Postmodernisten zugerechnet zu werden, plädiert für einen solch gleichermaßen normativen wie methodologischen Nihilismus mit der Behauptung, dass angesichts der Komplexität der »modernen Informationsgesellschaft eine überzeugende Unterscheidungsfähigkeit nach moralischen Maßstäben«⁴ unmöglich geworden sei. Die grundlegenden Behauptungen des postmodernen Denkens, dass intellektuelle Unterscheidungs- und normative Bewertungsverfahren obsolet geworden wären, »fundieren« in der Überzeugung, dass ebenso objektive wie intersubjektiv vermittelbare Erkenntnis nicht mehr möglich sei, weil die sozialen und kulturellen Zustände kontingent und relativ, unscharf und mehrdeutig geworden seien: »Unbestimmtheiten erfüllen unsere Handlungen, Ideen und Interpretationen.«⁵ Weil die Erkenntnismöglichkeiten im entwickelten Kapitalismus sich verkompliziert hätten (was durch die Dominanz fetischisierter Bilder über die Sozialverhältnisse tatsächlich auch der Fall ist), soll auf begreifendes Erkennen und begriffliche Analyse grundsätzlich verzichtet und statt dessen mit der Akzeptanz dieser »Kontingenz« dem Prinzip der Beliebigkeit die Referenz erwiesen werden.
Fast immer sind die theoretischen Fixierungen des postmodernen Denkens von einem Schein der Plausibilität ummantelt. Das ist auch hinsichtlich der Frage verdinglichter Bewusstseinsstrukturen der Fall, die für die Lebensverhältnisse und Reflexionsformen in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften von prägender Bedeutung sind. Verdinglichtes Bewusstsein ist von der Vorstellung geprägt, dass die technologischen Apparaturen und Anordnungen es wären, von denen die Menschen beherrscht würden.
In der Gleichsetzung von Verdinglichung und Technik liegt insofern ein richtiger Kern, weil in den Arbeitsprozessen personale Herrschaft durch technologische Organisationsformen zunehmend überlagert wurde. Dadurch konnte der ideologische Schein sich verfestigen, dass »die Maschinen uns beherrschen würden«, Unterwerfungsstrukturen und -handlungen den Sachzwängen der Technik entsprechen würden. Marx hat diese Alltagstäuschung als ideologische Verblendung entlarvt: »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht (…) darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer von ihnen existierendes gesellschaftliche Verhältnis von Gegenständen (…) es ist aber nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.«⁶ Es sind Verselbständigungsprozesse als eine Realität eigener Arbeit, die aber nicht jenseits des sozialen Verhaltens existieren. Es sind menschliche Aktivitäten, die eine über den Handlungssubjekten »stehende, fremde gesellschaftliche Macht«⁷ produzieren. Durch ihre Wechselwirkung etabliert sich ein von den Ausgangsbedingungen unabhängiger Prozess.
Menschen, nicht Sachen
Aber auch in marxistisch inspirierten Kontexten wird immer noch »Verdinglichung« in einem entgegengesetzten Sinne, also im verzerrten Modus des Alltagsbewusstseins, als Herrschaft der »Dinge« über die Menschen begriffen. Das verbindet sie mit Heideggers Verständnis, der der Technik (dem »Gestell«) eine Subjektfunktion zuspricht. Das ist faktisch die direkte Gegenposition zu Marx, der, wie das Fetisch-Kapitel eigentlich unmissverständlich zeigt, »unter sachlicher Herrschaft nicht die Herrschaft von Sachen über Menschen versteht, sondern die Herrschaft von Menschen über Menschen durch sachliche Mittel.«⁸
Auch das postmoderne Verständnis dieses für die spätkapitalistischen Verhältnisse zentralen Aspektes der gesellschaftlichen Bewusstseinsformen konzentriert sich auf diesen brüchigen Schein einer »Eigendynamik« der Technik. Es handelt sich um eine Fixierung, die, wie gesagt, einen Teil der Problematik durchaus erfasst, diesen Teilaspekt aber verabsolutiert: »Verdinglichung« wird eben nicht als ideologischer Schein mit realer Grundlage, sondern als unüberschreitbare »Faktizität« verstanden und somit dem technologisch-sozialen Prozess eine präjudizierende Wirkung zugeschrieben.
Postmodernes Denken hätte seinen Siegeszug nicht antreten können, wenn es nicht einen Teil der angesprochenen Komplexe und Fragestellungen richtig erfasst hätte. Aber regelmäßig werden Teilaspekte für das Ganze genommen und dadurch ihre tatsächliche Bedeutung verfehlt. Beispielsweise sind, wie postmodernistisch betont wird, »wahr«, »richtig« und »falsch« wandelbare Kategorien – aber diese Einsicht eignet sich zur Begründung eines Erkenntnisrelativismus, denn theoretische Fixierungen sind relativ immer nur in Bezug auf objektive Gegebenheiten!
Gemessen an der Tradition erkenntnistheoretischen Denkens, also angesichts der philosophischen Beschäftigung mit der Frage, wie Erkenntnis und Wahrheit möglich sind, macht es sich der Postmodernismus in einer schon geradezu peinlichen Weise einfach, in dem er den systematischen Verzicht auf ein Wahrheitsstreben, durch einen »oszillierenden Charakter der Sprache«, die in einer Vielzahl von Möglichkeiten ausufern würde und deshalb »letztlich dunkel« bleiben müsste, legitimiert: »Insofern ist die Sprache ähnlich instabil wie die Welt, die sie zu beschreiben trachtet.«⁹ Deshalb, so die weitere Schlussfolgerung, könne es ihr nicht gelingen, diese intellektuell zu durchdringen und theoretisch auf den Begriff zu bringen.
Tatsächlich ist es umgekehrt, als postmodernistisch kolportiert wird, denn durch die »Flexibilität« sprachlicher Artikulation wird Verständigung überhaupt erst möglich. Es werden mit den gleichen Begriffen zwar unterschiedliche Dinge bezeichnet, aber aus dem Kontext ihres Gebrauchs besteht kein Zweifel daran, dass mit dem »Ball« einmal eine Tanzveranstaltung und das andere Mal ein Sportutensil gemeint ist. Aus den Kontexten ergeben sich semantische Eindeutigkeiten und in der Regel keine irritierenden Vieldeutigkeiten, die geeignet wären, aus ihnen eine Unerkennbarkeit der Welt zu deduzieren. Die von Derrida behauptete »Iterabilität« der Sprache, was so viel wie »Unergründlichkeit« und irreversible Verzerrtheit bedeutet, existiert (jedenfalls als »Normalform«) nicht.
Keine Wahrheiten
In der Regel dient eine solche, oft geradezu erbarmungswürdige Argumentationspraxis dazu, Kernauffassungen kritischen Denkens zu destruieren, beispielsweise indem die Erkenntnis, dass Denken durch seine Vermittlung zu gesellschaftlichen Vorgängen einen verzerrten Charakter haben kann, eine prinzipielle Fehlleitung allen Denkens »abzuleiten« versucht wird. Aber, dass Vorstellungen und Theorien innerhalb eines spezifisch sozioökonomischen Kontextes entstanden sind, sagt noch nichts über deren Plausibilität und Wahrheitsgehalt aus. Denn es gehört zur Dialektik der gesellschaftlichen Bewusstseinsformen¹⁰ die Tatsache, dass eben nicht nur das verzerrte Denken in soziale Vermittlungsverhältnisse eingebettet ist, sondern spezifische gesellschaftliche Konstellationen auch zur »Horizonterweiterung« im wahrsten Sinne des Wortes beitragen können.
Erkenntnisfortschritte können über ihre Entstehungszeit hinaus ihre Gültigkeit behalten, als allgemeiner Erkenntnisgewinn gelten. Wer wollte bestreiten, dass die Lehrsätze des Pythagoras, obwohl sie im Kontext einer elitären Sklavenhaltergesellschaft entstanden sind, einen epochenüberschreitenden »Rationalitätsgewinn« darstellen?
Dort, wo der Postmodernismus bis zu Nietzsches Thematisierung erkenntnistheoretischer Fragestellungen vordringt, übernimmt er bereitwillig dessen negatorische, jedes Erkenntnisbemühen als illusorisch deklarierende Haltung. Er wird geprägt von dessen Agnostizismus, nicht nur im Sinne einer Unerkennbarkeit der Welt, sondern auch der Ununterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge. Mit Nietzsche wird postmodernistisch die menschliche Existenz mit Selbsttäuschung und Illusionismus gleichgesetzt: »Der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens und gleichsam auf den Rücken eines Tigers in Träumen hängend.«¹¹ Einen Unterschied zwischen Wahrheit und Selbsttäuschung gibt es nicht. Die erkenntnisnihilistischen Sprachinszenierungen (Nietzsche stilisiert sich als Kämpfer gegenüber den kollektiven Selbsttäuschungen und den Lügensystemen von Jahrtausenden!) hindern weder Nietzsche noch den Postmodernismus, für die eigene Rede mit absolutem Geltungsanspruch aufzutreten.
Es sind strikte Gegenpositionen zu Hegel, die Nietzsche formuliert, die jedoch jenseits von dessen Begründungs- und Reflexionsniveaus angesiedelt sind. Ohne Frage: Erkennen ist ein komplizierter, oft langwieriger Prozess, oft mit Phasen des Irrtums und der Desorientierung durchsetzt – und niemals können wir uns des erreichten Reflexionsniveaus ganz sicher sein. Ein absoluter Erkenntnisnihilismus lässt sich dadurch jedoch nicht begründen. Erkenntnis ist ein historischer Prozess, in dessen Kontext sich ein harter Kern von Erkenntnissen herausgebildet hat, deren Validität wahrscheinlich ist, weil weitere Folgerungen mit hoher Plausibilität daraus abgeleitet werden können. Die Erkenntnis, dass die Erde eine Kugel, der Mond ein Erdtrabant und die Sonne ein Feuerball ist, lassen sich widerspruchsfrei in andere Erkenntnisse über die Funktionsgesetze unseres Sonnensystems einordnen.
Ignoranz und Verdrängung
Die den realitätsadäquaten Wissenschaftsprinzipien entgegengesetzten Dogmen des Relativismus und der Beliebigkeit werden vom Postmodernismus dadurch legitimiert, dass soziales und historisches Geschehen vom Prinzip »Entwicklung« geprägt und ständiger Veränderung unterworfen wäre.¹² Mit diese Feststellung soll nicht nur ein destruktiver Erkenntnisnihilismus legitimiert, sondern auch die eigene Position als eines »Dienstleistungsintellektuellen« gerechtfertigt werden, der bereit ist, seine Fahne in fast jeden Wind zu halten und den unterschiedlichsten Interessen dienlich zu sein: »Wie es nun steht, ist das Höchste, was man erhoffen kann, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können.«¹³ Schon in den Begründungstexten des Postmodernismus war von den »Qualitäten« des neuen Dienstleistungsintellektuellen die Rede, der sich von »der Obsession Totalität«, also einem umfassenden Analyseansatz und Kritikanspruch »befreit« hätte und über »Geschmeidigkeit, Toleranz, und ›Wendigkeit‹« verfügen würde.¹⁴
Vor allem ist ein »solides« Nichtwissen bzw. eine entwickelte Fähigkeit zur Ignoranz und Verdrängung die Voraussetzung eines reibungslosen Funktionierens des angepassten Intellektuellen. Wenn er an den in den imperialistischen Hauptländern verbreiteten Selbstlügen festhalten, keinen Eindruck eines fundamentalen Dissenses mit dem herrschenden Denken aufkommen lassen will, muss er sich »neutral« gegenüber den schreienden Widerspruchsentwicklungen stellen, ignorieren, dass immer noch in vielen Teilen der Welt die Mehrwertaneignung durch Raub und strenge Arbeitsorganisationsformen vorherrschen, es »verborgene Stätten der Produktion« (Marx) gibt, deren Existenz höchstens dann zur Kenntnis genommen wird, wenn marode Fabriken zusammenstürzen.
Wenn er seine Haltung eines »fröhlichen Positivismus« nicht gefährden will, muss er den engen Zusammenhang von Metropolenreichtum und globalem Elend ignorieren. Noch immer leben fast 70 Millionen Menschen in Verhältnissen der Sklaverei. Skandalös ist, dass dies keine unzeitgemäße Randerscheinung, sondern organisches Element der globalen Mehrwertproduktion ist. Sicherlich wird heute niemand mehr in den Bergwerksschacht zurückgestoßen, wenn er die Leiter heraufsteigt, ohne die vorgeschriebene Tagesausbeute abliefern zu können, wie es in den peruanischen Silberminen im 16. und 17. Jahrhundert an der Tagesordnung war. Aber wer heute zu den »Minderleistern« zählt, wird aus den gesellschaftlichen »Normalitätszonen« ausgestoßen, ist zu einer Randexistenz verurteilt, durch die er Schaden nicht nur an seiner Seele, sondern auch an seinem Leib nimmt: Er ist nicht nur öfter krank als die Privilegierten in den höheren Sozialetagen, sondern stirbt im statistischen Durchschnitt auch zwölf Jahre früher.
Verantwortung adé
Weil Postmodernes Denken auch geeignet ist, die Ursachen dieses Weltzustandes zu verdrängen, entlarvt es sich als Ideologie. Zwar ist es ist nicht so, dass dem postmodernen Intellektuellen die wesentlichen Widersprüche unbekannt wären. Er »fundiert« seine Glaubwürdigkeit, dass er durchaus die Finger in die Wunden spätimperialistischer Gesellschaften legt, aber niemals seine Haltung der »Alternativlosigkeit« ablegt. Er legitimiert sie, durch den Verzicht auf theoretische Durchdringung, durch den Verzicht auf eine Erklärung von Widerspruchsentwicklungen. Dies gelingt ihm automatisch, weil er sich ihnen nur mit einem Modus der Beschreibung zuwendet. Dadurch bleibt er der Oberflächliche der gesellschaftlichen Zustandsformen verhaftet.
Wird der Entstehungskontext des Postmodernismus in Rechnung gestellt, wird offensichtlich, in welch intensiver Weise er Reaktion auf sozio-ökonomische Krisentendenzen ist und seine Argumentationsmuster subjektive Reaktionen darauf sind, dass die individuelle Situation für viele Geistes- und Kulturarbeiter »ungemütlicher« geworden ist. Es spiegelt sich in den Einstellungswandlungen »in der Tat die Erfahrung der modernen Politökonomie. Ein nachgiebiges Ich, eine Collage aus Fragmenten, die sich ständig wandelt, sich immer neuen Erfahrungen öffnet –das sind die psychologischen Bedingungen, die der kurzfristigen, ungesicherten Arbeitserfahrung, flexiblen Institutionen, ständigen Risiken entsprechen.«¹⁵
Im Rahmen dieser soziokulturellen Formierungen ist der postmoderne »Dienstleistungsintellektuelle« entstanden, der den affirmativen Zeitgeist mit pseudokritischer Ummantelung artikuliert und dabei immer dem jeweils aktuellen Trend auf der Spur ist, denn beständige Wechsel der Argumentationsmuster sind notwendig, weil parallel zur Dynamik der Gesellschaftsentwicklung die Halbwertzeit intellektueller Trends und Moden immer geringer wird. Beständig müssen neue Hüllen geschaffen werden, um machtkonforme Grundorientierungen verbreiten zu können.
Dieses postmoderne Denken hat den durch eine krisenhafte Sozialentwicklung tangierten Intellektuellen die Möglichkeit eröffnet, zwar an einem traditionellen Kritikanspruch festzuhalten, sich aber nur noch in der Form oberflächlicher Gesten der Distanzierung zu artikulieren. Bei wachsender Bereitschaft, jedem karriereschädlichen Dissens aus dem Wege zu gehen, steigt die Akzeptanz für die Grundmelodie des Postmodernismus, dass alles Wissen beliebig und die Sicht auf die Welt kaum mehr als schemenhafte Wahrnehmungen ermöglichen würde. Weil deshalb niemand Sicheres wissen könne und die soziokulturelle Entwicklungen unkalkulierbar und letztlich auch beliebig wären, wären objektivierbare und interpersonelle Erkenntnisse nicht mehr möglich. Damit habe auch eine traditionelle »Verantwortung« der Intelligenz ihre Basis verloren. Sie sei obsolet geworden, weil ohne einen festen »Untergrund« ein analytisches Weltverhältnis nicht mehr realisierbar wäre. Damit bleibe auch jedes Streben einer Befreiung aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant) illusionär. Diese weltanschauliche Positionierung assoziiert die Permanenz des Gegenwärtigen: »Heute (...) gibt es zum erstem Mal auf der Welt nicht einen einzigen Punkt, durch den das Licht der Hoffnung scheinen könnte. Es gibt keine Orientierungen mehr.«¹⁶
Anmerkungen:
1 W. Welsch: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Berlin 1994, S. 172
2 J.-F. Lyotard: Eine postmoderne Fabel über die Postmoderne oder: In der Megapolis: In: R. Weimann/H. U. Gumbrecht (Hg.): Postmoderne – globale Differenz. Frankfurt/M. 1991, S. 302
3 . P. Mason: Klare, lichte Zukunft. Eine radikale Verteidigung des Humanismus. Berlin 2019, S. 217
4 N. Luhmann: Ökologische Kommunikation. Opladen 1986, S. 249ff.
5 I. Hassan: Pluralismus in der Postmoderne. In: D. Kamper/W. Van Reijen (Hg.): Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne. Frankfurt am Main 1987, S. 159
6 K. Marx: Das Kapital. MEW, Bd. 23. Berlin 1962, S. 86
7 K. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. MEW, Bd. 42. Berlin 1983, S. 111
8 G. Hanloser/K. Reitter: Der bewegte Marx. Eine einführende Kritik des Zirkulationsmarxismus. Münster 2008, S. 17
9 H.-M. Schönherr-Mann: Postmoderne Perspektiven des Ethischen. München 1997, S. 16 u. 32
10 Vgl.: E. Hahn/Th. Metscher/W. Seppmann: Kritik des gesellschaftlichen Bewußtseins. Über Marxismus und Ideologie. Hamburg 2016
11 F. Nietzsche: Werke und Briefe. In: Werke Bd. 3, S. 311
12 Das ist prinzipiell zwar richtig, führt aber in die Irre, wenn diese Einsicht verabsolutiert und unberücksichtigt bleibt, dass ja auch die Veränderung eine Konstante ist.
13 B. Brecht: Leben des Galilei. Bukarest 1986, S. 126
14 J.-F. Lyotard: Grabmal des Intellektuellen. Graz/Wien 1985, S. 18
15 R. Sennet: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1998, S. 182
16 M. Foucault: Die Folter, das ist die Vernunft. Ein Gespräch Knut Boesers mit Michel Foucault. In: N. Born/J. Manthey (Hg.): Die Sprache des Großen Bruders. Reinbek 1977, S. 67
Werner Seppmann: Der Schlaf der Vernunft. Der Rechtsextremismus und das Versagen der Intelligenz. Mangroven-Verlag, Kassel 2025, 209 Seiten, 23 Euro
Werner Seppmann schrieb an dieser Stelle zuletzt am 13./14. und 15. Februar 2021 über die anhaltende Aktualität der Klassenfrage: »Theorien der Verschleierung« und »Spontane Solidarität«.
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Leserbrief von Franz Siklosi aus 64683 Einhausen (30. Juli 2025 um 16:02 Uhr)Wichtiges zur Genesis der Postmoderne. Es gab zuerst von den Neuen Linken eine Abrechnung gegen den Marxismus in Form der Kritik gegen die Sowjetunion. Gleichzeitig wurde der historische und dialektische Materialismus entsorgt. Eine zweite Abrechnung erfolgte gegen die Psychoanalyse, in Form der Entsorgung des Ödipuskomplex Sigmund Freuds. Ersetzt wurde alles durch das Konstrukt des Rizoms, der Abgesang an jede Art von historischer und gesellschaftlicher Entwicklung. Postmoderne ist subjektiver Idealismus. Alles ist nur Wahrnehmung, Identität, Gefühl. Begriffe kann man keinen Gegenstand mehr zuordnen. Es gibt keine begrifflich allgemein erfassbaren Gegenstände. Diskurse und die daraus abgeleiteten Erzählungen bestimmen die gesellschaftliche Hegemonie. Wahrheitsgehalt unintressant. Aus diesen erkenntnistheoretischen Grundlagen werden politische und gesellschaftliche Felder besetzt: Klassismus, Siedlerkolonialismus, die postmoderne Formen des Antirassismus, Gender und alle Formen angeblicher linker Identitätsdiskurse. Für die neoliberalen Imperialisten ist die Postmoderne eine Ideologie des linken Anstrichs. Wie kann man Imperialismus als fortschrittlich darstellen? Wie kann man links sein ohne Klassenkampf? Das ist Postmoderne.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (29. Juli 2025 um 11:45 Uhr)Ich gebe es offen zu: Artikel wie dieser verwirren mich mehr, als sie mir helfen, mich in meiner Zeit zurechtzufinden. Gewiss sind die Themenseiten der jW auch dazu da, Material für theoretische Diskussionen über Grundfragen unseres Denkens zu liefern. Da aber liegt dann genau der Kern der Sache: Wir müssen uns mehr mit dem beschäftigen, wie u n s e r Denken sein muss, um die Welt wirklich verändern zu können. Wir haben Fragen über Fragen, auf die wir kaum ausreichend Antworten finden, geschweige denn, dass wir diese Antworten massentauglich genug formulieren können. Wären die Themenseiten nicht besser genutzt, würden sie uns bei der Suche, dieser, unserer Antworten unterstützen? Vom »postmodernen« Denken - so viel scheint sicher - werden wir dabei keine Hilfe erwarten können. Es ist schon Vergangenheit, bevor es das Licht der Gegenwart überhaupt erblicken kann. Wir aber müssen dringend und zuallererst in die Gegenwart schauen. Anders ist keine Zukunft zu gewinnen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in André M. aus Berlin (28. Juli 2025 um 14:23 Uhr)Das Ergebnis der postmodernistischen Sause ist im Agieren z. B. der EU-Kommission deutlich zu erkennen: Selbstzerstörung mit individuell zurechtgezimmerten hochsubjektiven Annahmen (ohne vernunftgemäßen Bezug zur Realität), die Satrapen willigen ein. Höhlenbewohner der absonderlichsten Art. Es ist eine zutiefst westeuropäische (Inkl. Westdtl.) Art, die Realität um Gottes (oder sonstwas) Willen nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, gar Verantwortung tragen zu müssen, oder vernunft- und erkenntnisstrebend zu denken und zu handeln. Das Flagelantenhafte war schon immer sehr verbreitet im westlichen Denkerzirkus. Auch der LGBT...-Zirkus ist m. E. ein Ergebnis des postmodernistischen Unfugs. Denken kann so anstrengend sein, das muss doch auch einfacher gehen... Es ist beschämend anzusehen, eine riesige »Regenbogenfahne« anstatt einer Friedensfahne vor dem »Reichstag« auszulegen. Die Individualisierung und Subjektivierung passen so gut zum herrschenden Mehrwert- und Konsummodell. Darüber sollten sich diese »Aktivisten« mal tiefere Gedanken machen. Teile und Herrsche...
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (27. Juli 2025 um 22:45 Uhr)Die Science Busters legen überzeugend dar: »Wer nichts weiß, muss alles glauben«. Ideologischer Rollback oder konsequente Fortsetzung kapitalistischer Herrschaftssicherung mit aktuellen ideologischen Mitteln? Mit dem Foucaultschen Pendel - ob als Pendel oder als Roman - kann ich was anfangen, mit Michel Foucault nicht. Wenn man Vernunft als Folter interpretiert, entzieht man sich ihr, oder versucht es wenigstens. Vermutlich liegt genau da der Hase im Pfeffer. Ich halte die Behauptung: »Diese Situation ist Ausdruck einer geistigen Klimaveränderung, die in der Bereitschaft großer Teile der Intelligenz kulminiert, ihren Kritikanspruch gegen intellektuellen Relativismus und affirmative Grundhaltungen einzutauschen« weder für begründet noch zielführend. Mindestens müsste sie in einen historisch-materiellen Kontext eingebettet werden: Ich vermute, »Klimaveränderung« bezieht sich auf die Zeit nach 1968. Weiter, »dass die individuelle Situation für viele Geistes- und Kulturarbeiter ›ungemütlicher‹ geworden ist«, ist nicht neues. Für viele Geistes- und Kulturarbeiter wurde um 1933 herum die »individuelle Situation« sogar lebensbedrohlich. Es sei an Bücherverbrennungen und »deutsche Physik« erinnert. Große Teile der Intelligenz hatten nie einen Kritikanspruch, ob in der Kaiserzeit oder in der Zeit der Weimarer Republik (in der Bundesrepublik auch nicht). Wenn ich an eine »Legitimationskraft der Meta-Erzählungen … glauben« muss, bin ich von vornherein auf dem Holzweg. Ich sollte wissen, was ich glauben muss und was ich wissen kann; besser: was ich weiß. Da liegt die Schlussfolgerung nahe: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Dieses »Nichts« kann aber ganz schön viel sein, denn das Nichts ist nicht. Schlussbemerkung: Der Artikel offenbart (nach meiner bescheidenen Meinung) eine Achillesferse der marxistischen Linken, die eigene Sicht für allgemeinverbindlich und »den Marxismus« als wissenschaftliche Weltanschauung als sich historisch automatisch durchsetzend zu erachten.