Da pocht das Herz
Von Maximilian Schäffer
»Life of Chuck« ist ein dermaßen seltsamer Film, man muss wirklich überlegen, wo man bei dieser bizarren Aneinanderreihung aus Bibelweisheiten, Showtanzeinlagen, CGI-Effekten und Endzeitgrusel anfangen soll, sich aufzuregen. Nicht, weil Seltsamkeit ein negatives Kriterium wäre, im Gegenteil: Das Bizarre sorgt etwa bei David Lynch, Alejandro Jodorowsky, Lars von Trier oder David Cronenberg für nachhaltigste Momente. »Life of Chuck« hingegen vergisst man gleich wieder. Horrorfilmregisseur Mike Flanagan hangelt sich an Stephen Kings gleichnamiger Novelle von 2020 entlang vor bis in die celestialen Sphären des Kitsches. Vermutlich absichtlich.
Existentiell wird sinniert über das sehr gewöhnliche Leben des krebskranken Charles »Chuck« Krantz, um dessen eine kleine Welt sich die große dreht. Wie gewohnt – im US-amerikanischen Kino gibt es keinen wichtigeren Dichter – wird Walt Whitman zitiert: »Do I contradict myself? / Very well then I contradict myself / I am large, I contain multitudes.« Jeder Mensch, noch der kleinste Bürger, ist groß und komplex, jedes Leben wertvoll und schön – das Wort zum Sonntag. Rückwärts erzählt, erfahren wir in drei Episoden, was menschlich ist: Liebe, Arbeit, Tod, Enttäuschungen, Entbehrungen. Tom Hiddleston spielt die Hauptfigur, allerdings taucht sie erst in der zweiten Geschichte auf.
Früh sterben Chucks Eltern, früh die Großeltern, früh stirbt auch Chuck an einem Gehirntumor, ohne Bemerkenswertes erreicht zu haben, unsichtbar geblieben für die Weltgemeinschaft. Ein tragisches Leben? So einfach ist es nicht. Obgleich die großen Leidenschaften des zum Tanz begabten Knaben in den sicheren Hafen der Finanzbuchhaltung einlaufen, bevor sie sich professionalisieren. Das Leben ist kein Wunschkonzert, eher ein Straßentanz zu entsprechender Musik. Da glitzern die Augen, pocht das Herz. Soviel Talent, soviel Schönes, aufgefressen vom Schicksal. Gesellschaft gibt es im Film nur anhand der unerlässlichen Pflicht, die Arbeit heißt.
Um den Zuschauer durch die lakonische Zirkusvorstellung zu geleiten, braucht es selbstverständlich einen überväterlichen Erzähler, der das Gebilde zusammenhält. So ernst ist das alles, so ernst nimmt sich »Life of Chuck« – handelt es sich möglicherweise um einen »guten« Film? Nein. Alles Interessante ist bereits im ersten Teil abgefrühstückt: riesige Schlucklöcher in der Erde, Internetausfall, mysteriöse Plakate, Massenselbstmorde. Danach gibt’s nur noch Sentimentalitäten und Stepptanz. Der Großvater, der Abschlussball, die Dokumentarfilmerstimme für Dumme. Jovial, gefällig, aufdringlich und gleichzeitig nicht bemerkenswert. Ein neues Werk für die Reihe »Filme für die Palliativstation«.
»Life of Chuck«, Regie: Mike Flanagan, USA 2024, 111 Min., bereits angelaufen
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