»Es braucht eine kämpferische Bewegung, einen politischen Bruch«
Von Carmela NegreteSpanien wird erneut von Korruptionsfällen erschüttert, die sowohl die konservative Volkspartei (PP) als auch den sozialdemokratischen PSOE betreffen. So soll eine Beratungsfirma des früheren rechtskonservativen Finanzministers Cristóbal Montoro vom PP über 50 Millionen Euro im bislang größten Korruptionsskandal seit dem Ende der Franco-Diktatur kassiert haben. Montoro soll sein Ministerium dafür bereitgestellt haben, damit Unternehmen Gesetze zu ihren Gunsten schreiben konnten. Ein mafiöses Netzwerk belastete dabei politische Gegner mit gezielten Steuerprüfungen. Lassen sich solche Korruptionsfälle auf die Gestaltung des politischen Systems nach dem Ende der Franco-Diktatur vor rund 50 Jahren zurückführen, insbesondere auf das Zweiparteiensystem, von dem bestimmte, oft mit der Diktatur verbundene Familien profitieren?
Zweifellos. In bezug auf das 1978 etablierte Regime und die Vererbung staatlichen Vermögens zeigt sich deutlich: Der bürgerliche Staat funktioniert weiterhin als ein Ausschuss. Wie Marx und Engels im »Kommunistischen Manifest« schrieben, handelt es sich um einen Verwaltungsrat der wirtschaftlichen und politischen Oligarchien. Es hat keine unabhängige Entwicklung einer neuen kapitalistischen Klasse gegeben. Vielmehr sind es Familien, die das Franco-Regime unterstützten oder von ihm profitierten, die heute in großen Teilen des Ibex 35 (Aktienindex der 35 wichtigsten spanischen Unternehmen, jW) vertreten sind – im Bauwesen, im Energiesektor, im Bankwesen und später in der Telekommunikation und den privatisierten Unternehmen.
Warum konnte die 2014 aus der 15.-Mai-Protestbewegung des Jahres 2011 hervorgegangene linke Partei Podemos angesichts der schweren Krise des Landes die Wählerschaft bislang nicht dauerhaft überzeugen?
Meiner Meinung nach liegt das an einer Kombination aus eigenen Fehlern und externer Einflussnahme – symbolisch, medial, atmosphärisch und in manchen Fällen auch in Form direkter Gewalt. Man denke etwa an faschistische Bedrohungen gegen Pablo Iglesias, Irene Montero und andere führende Persönlichkeiten von Podemos. Die Partei wurde von oben organisiert und speiste sich aus unterschiedlichen politischen Strömungen. Ein Teil davon strebte zwar einen tiefgreifenden Wandel an, hatte jedoch gleichzeitig einen Plan B: Falls der grundlegende Wandel nicht gelingen sollte, sollte wenigstens ein Generationswechsel innerhalb der politischen Klasse stattfinden. Eine Erneuerung innerhalb der Ordnung des Zweiparteiensystems und des postfranquistischen oligarchischen Kapitalismus. Das bedeutete, das Regime von 1978 – also eine parlamentarische Monarchie – in Grundzügen zu akzeptieren, einschließlich der Kontinuitätslinien aus dem franquistischen Staat, insbesondere im Justizwesen, in der Polizei und im Militär. Hinzu kamen strategische Fehler: Podemos unterschätzte, wie schwierig es sein würde, tatsächlich an die Macht zu kommen. Ihr populistisches Paradigma von »Oben gegen unten« mit der »Kaste« als Hauptfeindbild diente zwar als Mobilisierungsmotor, ließ aber Fragen nach Klasse, Republik oder radikaler Staatsveränderung in den Hintergrund treten. Man hoffte, in Erwartung besserer Zeiten im Raum der Ambivalenz überleben zu können, statt die politische Konfrontation mit dem System zu vertiefen, was bedeutet hätte, vorübergehend auf Regierungsbeteiligung zu verzichten.
Heute scheint Podemos hier einen Kurswechsel vollzogen zu haben und sich intensiver mit solchen Fragen auseinanderzusetzen als die um die Kommunistische Partei Spaniens gebildete Vereinigte Linke.
Die Vereinigte Linke hat sich weitgehend einem kleinen Teil der Bevölkerung untergeordnet – etwa fünf bis zehn Prozent –, der einer Vergangenheit nachtrauert, die es so nicht mehr gibt. Mit Ausnahme von Julio Anguita (Generalsekretär 1988–98, jW) hat keine Parteiführung ernsthaft versucht, das umzusetzen, was sie selbst als Demokratisierung des Staates bezeichnet. Das heißt, eine Vertiefung der Verfassung im Rahmen der parlamentarischen Mehrheiten. In diesem Sinne wurde die Partei gewissermaßen von innen heraus besiegt. Etwas ähnliches ist auch Podemos widerfahren. Es gab innerhalb der Partei einen Versuch, eine Symbiose zwischen der Logik des Staatsapparats und den oligarchischen, medialen, juristischen und politischen Interessen insbesondere des PSOE, aber auch des PP einzugehen. Man denke nur an die sogenannte »patriotische Polizei« und ähnliche Strukturen. Es ist eine politische Haltung, die man als »Logik des kleineren Übels« (Malmenorismo, jW) bezeichnen kann.
Welche Rolle spielt dieses Konzept des »kleineren Übels« heute?
Gramsci beschrieb das in seinen Gefängnisheften sehr treffend. Es geht nicht um ein moralisches oder individuelles Dilemma. Natürlich ist es auf persönlicher Ebene nachvollziehbar, zwischen zwei Übeln das kleinere zu wählen. Doch was Gramsci meint, ist ein politischer Zustand, in dem eine Bewegung ihre eigene Initiative verloren hat in einem antagonistischen Prozess, in dem sie nicht mehr in der Lage ist, aktiv einzugreifen oder Alternativen zu formulieren. Gramsci analysiert dies im Kontext des Faschismus, also einer Situation, in der die Gegenseite den Takt vorgibt und den politischen Raum dominiert. Der »Malmenorismus«, auch wenn er das Wort nicht selbst verwendet hat, beschreibt bei ihm die Haltung, den Ereignissen lediglich zu folgen, kleine Erleichterungen zu erhoffen, ohne die Struktur oder den Schwerpunkt des gegnerischen Projekts angreifen oder aufbrechen zu können. Es geht darum, keine Strategie des Bruchs zu entwickeln, keine realistische Vorstellung davon zu haben, wie ein repressives oder faschistisches Regime tatsächlich überwunden werden könnte.
Und was heißt das konkret?
Das bedeutet etwa die Akzeptanz eines Kriegsregimes bei gleichzeitiger Hoffnung, dass es wenigstens nicht von rassistischen Pogromen begleitet wird. Man tut so, als ob es möglich wäre, in einem solchen Rahmen politische Spielräume zu nutzen … Aber das ist eine Illusion. Denn in der konkreten politischen Praxis wird dabei nichts Fundamentales in Frage gestellt: nicht der Militarismus, nicht die Migrationspolitik, nicht die alltägliche Gewalt, nicht die extreme Ungleichheit, nicht die oligarchische Kontrolle über Einkommen, Eigentum und Boden, nicht die Macht der Finanzfonds usw. Und dennoch wird behauptet, innerhalb dieser Dynamik sei es möglich, kleine Fortschritte zu erzielen, die zumindest »weniger schlimm« seien. Das ist ein Trugschluss. Denn angesichts einer solchen strukturellen Dynamik, die enorme Zerstörungskräfte entfaltet, bleibt nichts verschont, und auch die Wahl verliert man am Ende.
Und was könnte diese Dynamik aufhalten?
Ganz sicher nicht die parlamentarisch-mediale Maschine, sondern eine kämpferische Bewegung, organisierter Widerstand, ein politischer Bruch. Wer diese Fragen nicht aus dieser Perspektive stellt, bleibt im Rahmen eines Systems gefangen, das ihn bereits besiegt hat, so wie es Podemos passiert ist. Meiner Meinung nach versucht Podemos, die nur noch den Namen und einige Personen mit der früheren Partei gemein hat, heute diesen Schlüssel für ein Agieren zwischen Gegenmacht, Bewegungen und Wahlplattform unter sehr schwierigen Bedingungen zu finden.
Inmitten dieser Korruptionsskandale will der sozialdemokratische Ministerpräsident Pedro Sánchez weitermachen und hat auch seinen linken Koalitionspartner Sumar mit dem Argument überzeugt, dass sonst die Rechten an die Macht kommen. Was wäre zu erwarten, wenn es dennoch Neuwahlen gibt?
In Spanien gibt es im Gegensatz zum übrigen Europa eine starke Politisierung, motiviert durch die Radikalität des Protestzyklus seit der 15.-Mai-Bewegung. Viele Menschen erkennen die Realität klar: Sie sind konfrontiert mit einer politischen Elite, die einen neuen kolonialen, genozidalen und suprematistischen Kurs des westlichen Kapitalismus unterstützt.
Das eigentliche Problem bei der Regierungsbildung besteht darin, dass ein Teil des linken Lagers versucht, sich als eine Art PSOE 2.0 zu positionieren, also als »linkes« Update einer Partei, die von Anfang an ein konstituierender Teil des Zweiparteiensystems war. Der PSOE war und ist der zentrale Akteur, der diese politische Architektur, die Monarchie, die oligarchische Kontinuität absichert. Dieser Teil des linken Lagers tappt erneut in die Falle der Opportunität und Anpassung, indem er erklärt, es sei zu schwierig, dieses System wirklich zu verändern, und statt dessen versucht, sich als modernisierter PSOE zu präsentieren. Wir erleben einen Kurswechsel nach rechts, verbunden mit dem völligen Verzicht auf jede revolutionäre Perspektive.
Die einzige Ausnahme, was relativen politischen Erfolg betrifft, ist Madrid. Die (linksgerichtete, jW) »Más Madrid« ist dort dem PSOE überlegen, das ist unbestreitbar. Aber zugleich ist »Más Madrid« gezwungen, sich an den PSOE anzupassen und letztlich mit ihm zusammenzuarbeiten, wenn sie eine reale Chance haben will, den PP abzulösen. Im Rest des Landes jedoch hat diese politische Operation zu einer politischen Katastrophe geführt. Viele Menschen wählen gar nicht mehr, oder sie wählen wieder den PSOE, aber aus Resignation, nicht aus Überzeugung. Die Umfragen zeigen, dass es eine Wählerschaft gibt, die den PSOE unter gar keinen Umständen wählen wird, schon gar nicht angesichts der Korruptionsaffären. Doch diese Menschen tragen nach wie vor den politischen Schaden einer systematischen Dämonisierung von Podemos in sich, durch die vor allem der frühere Generalsekretär Pablo Iglesias zum Sündenbock gestempelt wurde. Dieser Hass ist konstruiert, medienstrategisch aufgebaut und in mancher Hinsicht sogar schlimmer als die franquistische Hetze gegen Santiago Carrillo und die Kommunisten. Es handelt sich um ein geradezu industriell gefertigtes Sündenbockkonstrukt, das viele Menschen dazu gebracht hat, alle anderen Argumente auszublenden und nur noch zu sagen: »Aber Iglesias hat sich doch eine Villa gekauft.« Für diese Menschen gilt einfach: auf keinen Fall Podemos. Und das zeigt letztlich ein noch tieferes Problem: die Unfähigkeit zur Selbstkritik. Man hat geglaubt, der Wandel bestehe im Austausch einzelner Personen, nicht im Aufbau organisierter kollektiver Macht und strategischer Intelligenz, um das System selbst zu transformieren. Und deshalb gibt man am Ende demjenigen die Schuld, der nur das sichtbare Gesicht eines viel breiteren Projekts war.
Raúl Sánchez Cedillo ist Philosoph und Übersetzer und lebt in Madrid. Er ist Mitbegründer der Fundación de los Comunes (Stiftung der Gemeingüter), einer unabhängigen Plattform für die Förderung von kritischem Denken, und Moderator des linken Senders Canal Red
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