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Aus: Ausgabe vom 26.07.2025, Seite 12 / Thema
Kolonialismus

»Pardon wird nicht gegeben«

Vor 125 Jahren hielt Kaiser Wilhelm II. die berüchtigte »Hunnenrede«. Seine Soldaten zogen aus, um den antikolonialen Widerstand in China niederzuschlagen
Von Kai Köhler
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Kaiser Wilhelm II. auf der Gangway des Truppentransportschiffes »Batavia«, von wo aus er seine Soldaten zur rücksichtslosen Kriegführung anhielt (Bremerhaven, 27.7.1900)

Am 27. Juli 1900 waren in Bremerhaven deutsche Soldaten angetreten, die kurz vor ihrer Einschiffung standen. Ziel war China, dort sollten sie einen antikolonialen Aufstand niederschlagen. Ihr Kaiser war angereist, und er ermunterte sie zu schrankenloser Gewalt. Der zentrale, berüchtigte Abschnitt seiner Rede lautet:

»Kommt ihr vor den Feind, so wird er geschlagen, Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.«

China als Halbkolonie

Wie konnte es dazu kommen, dass diese Drohung nicht lachhaft wirkte? Schließlich war China bis weit ins 18. Jahrhundert hinein den europäischen Mächten ebenbürtig und wurde damals auch so wahrgenommen. Doch gerade der ökonomische Erfolg in dieser Zeit hatte zu starkem Bevölkerungswachstum geführt und in der Folge zur Übernutzung von Böden. Dazu traten Naturereignisse: Dürren, Änderungen von Flussläufen mit Folgen für das Bewässerungssystem, also Hungersnöte. Es kam zu umfangreichen Revolten, ab 1850 zu Bürgerkriegen, die mehrere Millionen Todesopfer zur Folge hatten.

Zu den inneren Problemen war bereits die kolonialistische Gefahr getreten. Getreu der Freihandelsideologie erzwang England im Ersten Opiumkrieg (1840–1842) die Öffnung des chinesischen Markts, besonders für den Import des vornehmlich in seiner indischen Kolonie angebauten Rauschgifts; nicht unzutreffend ist das England des 19. Jahrhunderts als Narco-Staat bezeichnet worden.

In den folgenden Jahrzehnten verlor der chinesische Staat Schritt für Schritt die Verfügung über seine Politik und Ökonomie. Imperialistische Mächte hatten die Hand auf chinesischen Zolleinnahmen. Sie errichteten eine Kette von Handelsvorposten, wo allein sie die Herrschaft ausübten und die chinesische Bevölkerung in einer Art Apartheitssystem diskriminiert wurde. Auf der anderen Seite waren Angehörige dieser Staaten, wenn sie sich in China aufhielten, nicht den dortigen Gesetzen unterworfen. Im Konfliktfall konnten sie sich darauf verlassen, dass sich die für sie zuständigen europäischen Diplomaten auf ihre Seite stellen würden.

Diesen Freifahrtschein nutzten insbesondere Missionare. Ihre – zahlenmäßig überschaubaren – Bekehrungserfolge verdankten sie nicht zuletzt ihrer Strategie, sich bei Streitigkeiten in Dorf oder Kleinstadt auf die Seite ihrer neugewonnenen Schäfchen zu stellen und dann deren Interesse mit Hilfe des nächsten Konsuls gegen die örtlichen Behörden durchzusetzen. Mission und koloniale Herrschaft förderten sich gegenseitig.

Der chinesische Staat, an der Spitze die kaiserliche Herrschaft der Qing-Dynastie, geriet so in eine Zwischenposition. China erschien den imperialistischen Ländern als zu großer Brocken, um umstandslos als Kolonie beherrscht zu werden. Auch hätte Streit, wer den bekäme, erhebliche Risiken bedeutet. So einigte man sich, wenn auch nicht konfliktfrei, auf eine gemeinsame halbkoloniale Durchdringung des Landes. Damit blieb der chinesische Staat immerhin erhalten. Doch musste er dafür die imperialistischen Interessen gegen die eines Großteils der eigenen Bevölkerung durchsetzen.

Im Jahr 1900 war – über die Konzessionsgebiete hinaus, die unmittelbar unter ausländischer Kontrolle standen – ein Großteil Chinas fremdes Einflussgebiet. Frankreich hatte sich den Süden gesichert, der an seine indochinesischen Kolonien anschloss. Großbritannien kontrollierte den Bereich am Unterlauf des Jangtsekiang. Japan hatte 1895 Taiwan annektiert und war in der Provinz Fujian, die der Insel gegenüberlag, präsent. Die Mandschurei war in einen russischen nördlichen und einen japanischen südlichen Teil aufgespalten. Die USA verfügten über kein besonderes Territorium, profitierten jedoch ökonomisch von der China abgepressten Meistbegünstigungsklausel. Diese besagte, dass ein Zugeständnis, das China einem ausländischen Staat machte, auch für alle anderen galt.

Deutschland war als Staat spät in China aufgetreten. Die Ermordung zweier deutscher Missionare 1897 war willkommener Anlass, ein bereits zuvor erkundetes Gebiet an der Bucht von Jiaozhou (­Kiautschou) zu besetzen. Chinesische Truppen zogen sich kampflos zurück, und ihre Regierung sah keine andere Möglichkeit als die, das Ergebnis des Angriffs zu akzeptieren. Sie schloss mit dem Deutschen Reich einen auf 99 Jahre angelegten Pachtvertrag. Faktisch entstanden war aber eine deutsche Kolonie. Der deutsche Einfluss reichte weit über das an sich kleine Gebiet hinaus. Bereits im Jahr nach der Besetzung begannen die Arbeiten an einer Eisenbahnlinie nach Jinan, der Hauptstadt der Provinz Shandong. Wie vergleichbare Projekte anderer Kolonialmächte sollte sie der ökonomischen Unterwerfung des Hinterlands dienen. Gegen den Bau gab es Widerstand, weil Ackerland weit unter Wert abgegeben werden musste und weil Ahnengräber zerstört wurden. Dieser Widerstand wurde militärisch zerschlagen, wobei deutsche Befehlshaber die chinesischen Amtsträger vor Ort dazu zwangen, sie zu unterstützen.

Die »Boxer« als Widerstand

Die innere Verfassung Chinas Ende des 19. Jahrhunderts war katastrophal. Das kaiserliche Regime hatte die Verfügung über die wichtigsten seiner Einnahmequellen verloren, konnte wesentliche staatliche Funktionen nicht mehr erfüllen und verlor infolgedessen Legitimität. Provinzbehörden fehlte es an Mitteln, das Bewässerungssystem instand zu halten. Folge war eine Ausweitung der Hungersnöte, die vermutlich Millionen Opfer forderten.

Angesichts von Geldmangel und umfassender Not bestand auch kein staatliches Gewaltmonopol mehr. Zahlreiche bewaffnete Milizen kontrollierten mehr oder minder umfangreiche Gebiete. Es handelte sich um Räuberbanden, Wehrverbände von Dorfbewohnern und Terrorgruppen von Grundbesitzern; diese Funktionen konnten sich im unübersichtlichen Gegeneinander schnell verschieben.

In dieser Lage traten die »Boxer« auf; diese westliche Bezeichnung geht darauf zurück, dass die Gruppen Kampfkünste ausübten, die freilich mit »boxen« nur wenig zu schaffen hatten. Chinesisch wurden sie zunächst »Yihequan« (Fäuste der Gerechtigkeit und Harmonie) genannt, später »Yihetuan« (Verband für Gerechtigkeit und Harmonie). Bei letzterer Benennung soll es hier bleiben.

Die Yihetuan waren in ihrem Ursprung und überwiegend auch später eine Bauernbewegung. Die Mehrzahl der Bauern gehörte zu den Verlierern der sozialen Umwälzungen und nahm entsprechend eine antimoderne Haltung ein. Der radikale Traditionalismus der Yihetuan richtete sich vor allem gegen zum Christentum bekehrte Chinesen, die in ihrer Abwendung von Clan und Ahnenkult die Grundlagen der Dorfgemeinschaft gefährdeten. Feinde waren zudem die »fremden Teufel«, an deren Spitze die Missionare. Wirksame ideologische Grundlage war ein Gemisch aus Kampfkunstlehren und volkstümlichem Mystizismus. Der Glaube, durch bestimmte Riten von Kugeln nicht verwundet werden zu können, führte später zu vermeidbaren Verlusten. Die Überlebenden kamen statt zur Einsicht zu dem weiteren Irrtum, die Gefallenen hätten die Riten nicht gründlich genug ausgeführt.

Die Bewegung der Yihetuan entstand ab 1898 in der Provinz Shandong und weitete sich bis ins Frühjahr 1900 im Nordosten des Landes rasch aus. Die Haltung des kaiserlichen Regimes war zunächst negativ. Jede Regierung betrachtet eine von unten gegründete Guerilla mit Skepsis, sogar wenn es ein gemeinsames Interesse gegen ausländische Feinde gibt. Eine Revolte kann sich ja stets gegen alle Herrschenden richten.

Im Falle Chinas kam hinzu, dass die beiden Opiumkriege (1840–1842 und 1856–1860) mit Niederlagen geendet und die Position der Kolonialmächte gestärkt hatten. Die Skepsis, ob abergläubische Bauerngruppen erfolgreicher agieren konnten als das Kaiserreich, war berechtigt. Reaktionärer Klassenstandpunkt und kühle Analyse der Kräfteverhältnisse sprachen dagegen, diese Revolte zu unterstützen.

Ohnehin war die Regierung in der Frage gespalten, ob sie die ehemals erfolgreichen traditionellen Herrschaftsmethoden bewahren oder den Staat modernisieren sollte, um irgendwann wieder eigenständig agieren zu können. Das buntscheckige Bild, das die Armee im Jahr 1900 bot, steht dafür, dass dieser mit großer Härte am Hof ausgetragene Konflikt letztlich ungelöst blieb. Neben Einheiten mit vormodernen Waffen standen Truppenteile, die auf dem aktuellen technischen Stand waren; Krupp hatte geliefert. Auf welche Seite würde sich diese Streitmacht schlagen?

Am 11. Januar 1900 erkannte ein kaiserlicher Erlass die Yihetuan als Abteilungen der Selbstverteidigung an. Die ausländischen Mächte verlangten ultimativ die Rücknahme dieses Edikts und drohten für den Fall, dass die Yihetuan nicht liquidiert würden, mit einer Intervention. In den folgenden Monaten hingegen breitete sich die Revolte Richtung Beijing aus. Im Mai und Juni zerstörten die Yihetuan Eisenbahn- und Telegraphenverbindungen zwischen Beijing und der Hafenstadt Tianjin, dem Einfallstor imperialistischer Kräfte. Ab dem 11. Juni waren die Rebellen in Beijing präsent, demolierten dort Kirchen, massakrierten chinesische Christen und bedrohten das Gesandtschaftsviertel. Gegenseitiges Morden war nun üblich; aus dem Gesandtschaftsviertel ließ der deutsche Botschafter, Clemens Freiherr von Ketteler, auf chinesische Soldaten schießen, ungeachtet der Ermahnung seines klügeren britischen Kollegen, dies sei den Umständen nicht angemessen und daher auf spätere Zeiten zu verschieben.

Immer noch war am kaiserlichen Hof umstritten, ob man die Yihetuan unterstützen oder sie nur zwangsläufig dulden und bei nächster Gelegenheit loswerden sollte. Die Entscheidung wurde von außen herbeigeführt. Am 10. Juni 1900 brachen gut 2.000 Soldaten aus verschiedenen Kolonialstaaten unter dem Kommando des britischen Vizeadmirals Edward Hobart Seymour aus dem ebenfalls umkämpften Tianjin nach Beijing auf. Nun erwies sich die Zerstörung der Infrastruktur durch die Yihetuan als nützlich. Der Vormarsch stockte; unter beachtlichen beiderseitigen Verlusten zwangen die Yihetuan und chinesische Regierungstruppen die Angreifer zum Rückzug.

Diese Kämpfe und die Erstürmung der chinesischen Taku-Forts am 17. Juni führten zunächst zum Sieg der konfliktbereiten Kräfte am Hof. Ein Kampf gegen ausländische Interventionstruppen war ohnehin nicht mehr zu vermeiden. Am 19. Juni erging ein Ultimatum an die Ausländer in Beijing, binnen 24 Stunden abzuziehen. Am Folgetag brach von Ketteler zum chinesischen Außenamt auf, um eine Verlängerung dieser Frist zu erreichen.

Auf dem Weg dorthin wurde er erschossen. Dies gehört in die Abteilung: gut gemeint, doch schlecht gedacht. Der Tod eines Diplomaten, wie schurkisch auch immer der gewesen ist, gibt Gegenschlägen eine scheinbare Legitimation. Kurzfristige Wirkung war, dass die Ausländer in Beijing dem Versprechen eines friedlichen Abzugs nicht mehr glaubten und sich im Gesandtschaftsviertel verschanzten. Eine Belagerung begann.

Internationale Gewaltordnung

In dieser Lage also hielt Wilhelm II. seine Rede – möglicherweise unter dem Eindruck der Falschmeldung der Londoner Daily Mail, alle Ausländer in Beijing seien getötet worden. Dennoch war dem Außenminister Graf von Bülow sofort klar, dass der kaiserliche Aufruf zum Mord an Kriegsgefangenen und die Identifikation der Deutschen mit den Hunnen eine fatale Außenwirkung haben konnte. In seinen Erinnerungen bezeichnete er die Rede als »vielleicht die schändlichste«, die Wilhelm II. jemals gehalten habe. Kurzfristig verpflichtete er die anwesenden Journalisten darauf, eine von ihm redigierte, entschärfte Textfassung zu verbreiten.

Sein Plan scheiterte. In mehreren norddeutschen Zeitungen erschien der mitstenographierte Originaltext. Kaisertreue Zeitungen suchten dem durch bewusste Verfälschungen entgegenzuwirken. Wilhelm II. habe nicht gesagt »Pardon wird nicht gegeben«, sondern »Pardon wird euch nicht gegeben«. Die Aufforderung zu schrankenloser Gewalt erschien so als Warnung vor der Gewaltbereitschaft des Gegners. Andererseits machten sich Nationalliberale wie Friedrich Naumann, heute Namenspatron der FDP-Stiftung, Sorgen: »Was sollen wir tun, wenn es 50.000 Chinesen einfällt, sich uns zu ergeben? Dann bewachen und ernähren wir diese gelben Brüder und sind dadurch kampfunfähig!«¹ Entsprechend hielt er die »ganze Zimperlichkeit für falsch«.

Die Soldaten hatten jedenfalls verstanden. Aufschriften wie »Pardon wird nicht gegeben« oder »Rache ist süß« schmückten die Eisenbahnwaggons, in denen sie zu den Häfen gefahren wurden. Nur war, als sie in China anlangten, die Hauptarbeit bereits erledigt. Nach Seymours Scheitern war ein Expeditionskorps der Kolonialmächte Großbritannien, Russland, Japan, USA, Frankreich Italien und Österreich-Ungarn, gefolgt von einer kleinen vor Ort verfügbaren deutschen Abteilung, bis Beijing vorgestoßen und hatte am 14. August das Gesandtschaftsviertel entsetzt. Parole der Imperialisten war schon damals das internationale Recht – also das Ergebnis der zuvor gegen China eingesetzten Gewalt.

Übrigens war im Gesandtschaftsviertel, eine beschränkte Anzahl von Toten abgerechnet, die Sache so arg nicht verlaufen. Der kaiserliche Hof hatte bei der Belagerung die verfügbare schwere Artillerie nicht eingesetzt, statt dessen den Eingeschlossenen Lebensmittel geliefert. Die Yihetuan hätten vielleicht eine Chance mit entschlossener Unterstützung der gesamten staatlichen Macht gehabt, einschließlich der Gouverneure in den mittleren und südlichen Provinzen, die sich aber für neutral erklärten. Regional begrenzt, war der Aufstand leicht niederzuschlagen.

Das Gros der deutschen Truppen erreichte Ende August und Anfang September Beijing – immer noch rechtzeitig, um sich am Plündern zu beteiligen. Die Stadt war teilweise zerstört, und die Straßen waren voller ermordeter Chinesen. Es ist schwer zu entscheiden, welche der beteiligten Armeen am schlimmsten gewütet hat. Manche gingen systematisch und hierarchiebewusst vor: Die Briten trugen die Beute zusammen und veranstalteten tägliche Auktionen, deren Ertrag je nach Rang verteilt wurde. Andere Mächte ließen ihren Soldaten wochenlang freie Hand. Die befreiten Diplomaten beteiligten sich ebenso wie Missionare. Vergewaltigungen waren ebenso Normalität wie Massenhinrichtungen. Bereits an ihrem dritten Tag in Beijing erschossen Angehörige des deutschen 1. Seebataillons 76 Chinesen, pikanterweise unter dem Vorwurf der Plünderung. Die Opfer mussten vor ihrem Tod ihre Gräber ausheben.

»Das macht uns Spaß«

Die folgenden Monate brachten zahlreiche »Strafexpeditionen«. Bei Streifzügen durch das Umland hofften Offiziere auf Gefechte, die ihre Karrieren befördern sollten. Nur selten trafen sie auf wirkliche (und militärisch hoffnungslos unterlegene) Feinde. Als praktischer Vorwand für vorgebliche Aufstandsbekämpfung erwies es sich allerdings, dass die deutschen Soldaten, wie auch die der anderen Interventionsmächte, zwischen Zivilisten und »Boxern« kaum unterscheiden konnten. Zu dieser Schwierigkeit in jedem Volkskrieg kamen Unfähigkeit und mangelnder Wille, sich mit den Verhältnissen vor Ort zu befassen. Die Folge waren Massaker. In der Stadt Lianxiang, in der sich »Boxer« verschanzt hatten, wurde die gesamte männliche Bevölkerung getötet. Anschließend wurde der Ort angezündet. Die Befehle zielten auf die Beseitigung von »Boxernestern«, ohne die Mittel dafür festzulegen. Das gab Offizieren vor Ort Handlungsspielräume, die sie – rassistisch im Namen der Zivilisation – exzessiv nutzten. Die Vertreter der »regelbasierten Ordnung« waren schon damals ein übles Gesindel.

Die Mannschaften standen ihnen nicht nach. Dafür erwarteten sie Zustimmung in der Heimat, wie diese Briefauszüge belegen: »Für mich macht es eine Freude, so die Chinesen zu töten, denn am 26. August haben wir 80 Mann gefangen genommen, aber die mußten sich selbst das Loch machen, wo sie rein sollten und sind dann mit Zöpfe zusammengebunden worden und auch die Füße und auf beiden seiten vom Loch war ein Pfahl eingegraben und eine Leine angebunden kwer rüber, und dann die Kerls mit die Zöpfe angebunden.«² Oder: »Das Bateileon ist verteilt worden um die Thore zu suchen da wir nun rein kommen haben wir alle was uns in Weg gekommen ist, niedergeschossen und in Brand gesteckt. Das war sehr schön, da habe ich meinen Zorn ausgelassen. Die Kerls habe ich durchgestochen, daß das Bajonett hinten naus geschaut hat, das macht uns Spaß.«

Das Parlament redet

Der sozialdemokratische Vorwärts druckte diese und andere Texte unter dem Titel »Hunnenbriefe« ab und brachte so den Kaiser mit Massakern in Verbindung; vor 125 Jahren war die SPD noch keine Partei des deutschen Militärs. Der Reichstag trat erst im November 1900 wieder zusammen. August Bebel bezeichnete für die Sozialdemokratie den chinesischen Aufstand als berechtigte Verteidigung: »Die chinesischen Boxer, meine Herren, sind von ihrem Standpunkt aus Patrioten.«³ Um die Verantwortung Wilhelms II. für Massaker zu belegen, zitierte er aus einem Soldatenbrief: »Alles, was uns in den Weg kam, ob Mann, Frau oder Kind, wurde abgeschlachtet. Nun, wie da die Weiber schrieen! Aber des Kaiser Befehl lautet: Keinen Pardon geben! – und wir haben Treue und Gehorsam geschworen, und das halten wir auch.«

Das linksliberale Lager gab sich abwägend, verfehlte also wie stets die Substanz der Sache. Eugen Richter von der Freisinnigen Volkspartei beklagte, dass ein im Prinzip richtiger Einsatz in China mit zuviel »Tamtam« betrieben worden sei und forderte, dass der Kaiser künftig seine Reden mit den Ministern abstimmen müsse. Das katholische Zentrum verteidigte den angeblich segensreichen und kulturbringenden Einsatz der Missionare, als habe China dringend auf Kultur warten müssen, und bedauerte Gewaltexzesse. Die Nationalliberalen meinten, in China habe die nationale Ehre Deutschlands wiederhergestellt werden müssen. Noch weiter rechts rechtfertigte man den Kaiser, lobte man die Disziplin und Zurückhaltung der deutschen Truppen. Bei den geschilderten Übergriffen handele es sich um Einzelfälle, wenn nicht gar um Angebereien. Vielleicht aber seien die »Hunnenbriefe« überhaupt gefälscht.

Die Parlamentsdebatte war typisch, insofern sie nicht dem Austausch von Argumenten diente, sondern für die Öffentlichkeit bestimmt war. Entsprechend führte sie dazu, dass die militärische Führung in China ihr Vorgehen – zum Ärger untergeordneter Offiziere – abzuschwächen versuchte. Doch war der Effekt kurzfristig. Kurz darauf wandte Deutschland in den Kolonialkriegen in Südwestafrika (1904–1908) und Ostafrika (1905–1907) verschärfte genozidale Mittel an. Es ist verschiedentlich diskutiert worden, ob diese Kriege die faschistischen Völkermorde vorbereitet haben. Gegenargument ist, dass die Zahl der beteiligten Einheiten zu gering war, um einen prägenden Einfluss auf das ganze Militär auszuüben.

Immerhin lassen sich personelle Kontinuitäten zu späteren Kämpfen feststellen. Arnold Lequis war in China 1900/01 Kompaniechef und Stabsoffizier während des Genozids an den Herero. Im Dezember 1918 kommandierte er, mittlerweile als Generalmajor, die Garde-Kavallerie-Division, die von den Sozialdemokraten Friedrich Ebert und Gustav Noske gegen die Revolution aufgeboten wurde, um das Berliner Stadtschloss, in dem sich Einheiten revolutionärer Matrosen aufhielten, zusammenzuschießen.

Lequis war für den Zweiten Weltkrieg zu alt. Das gilt nicht für Wilhelm Ritter von Leeb, der bei den »Strafexpeditionen« in China als Leutnant einen Zug, beim Angriff auf die Sowjetunion 41 Jahre später als Generalfeldmarschall die Heeresgruppe Nord kommandierte. Als solcher musste er sich nicht mehr mit dem Ausmorden einzelner Dörfer begnügen, sondern konnte die Einkesselung Leningrads befehlen, mit dem Ziel, die Bevölkerung verhungern zu lassen.

In China übten diese Offiziere, aufgehetzt vom Kaiser, ein erbarmungsloses Vorgehen gegen Zivilisten ein. Dafür gab es freilich auch andere Gelegenheiten, etwa den Terror, den deutsche Truppen 1914 gegen angebliche Freischärler im überfallenen Belgien ausübten. Die Propaganda der Entente-Mächte erinnerte sich gerne an die Rede Wilhelms II. und titulierte nun die Deutschen als »Hunnen«. Sie selbst, deren Truppen in China auch nicht weniger gewütet hatten, wählten das vornehmere Mittel der Seeblockade, das auf seiten der Mittelmächte eine sechsstellige Zahl von Hungertoten forderte.

Das nach monatelangen Verhandlungen am 7. September 1901 unterzeichnete Abkommen griff tief in die chinesische Souveränität ein. Von eher symbolischer Bedeutung war die Bestimmung, dass China ein Mahnmal für den getöteten deutschen Gesandten errichten und eine demütigende Sühnemission nach Berlin entsenden musste. Für zwölf Mitglieder von Kaiserhaus und Regierung war die Todesstrafe ebenso vorgesehen wie künftig für alle Beteiligten auslandsfeindlicher Gruppierungen. Das Schleifen von Befestigungsanlagen sollte eine antikolonialistische Verteidigung unmöglich machen. Dazu kam ein – bald missachtetes – Einfuhrverbot für Waffen.

Gravierend waren auch die ökonomischen Bestimmungen. Während auf der einen Seite ausgeweitete Handelsprivilegien der Kolonialmächte die Einnahmen der chinesischen Regierung weiter schmälerten, legte das »Boxerprotokoll« auf der anderen Seite monströse Zahlungen zur »Entschädigung« der Aggressoren fest. Erst 1942, in der Bündniskonstellation des Zweiten Weltkriegs, wurden die letzten dieser Regelungen außer Kraft gesetzt.

Neue Stärke

Das Protokoll garantierte, dass chinesische Reform- und Modernisierungsbestrebungen auf kaum überwindbare Hindernisse stießen. Ohnehin hatte die Niederlage unterminiert, was als Legitimation der herrschenden Dynastie übriggeblieben war. So beseitigte die Revolution 1911/12 die Monarchie. Dem Versuch Yuan Shikais, der als Gouverneur von Shandong die »Boxer« unterdrückt hatte, 1916 eine neue Dynastie zu errichten, folgte mehr als ein Jahrzehnt, in dem Warlords ihre Kämpfe ausfochten. Mit der Invasion Japans in die Mandschurei 1931 und in den Hauptteil Chinas 1937 intensivierte sich der Krieg.

Inzwischen war 1921 mit der Kommunistischen Partei eine Kraft entstanden, die den antiimperialistischen Kampf der Yihetuan aufgriff, aber frei von mystizistischem Wunderglaube und Verklärung der Vergangenheit war. Die Partei hatte auch keine Illusionen, was den Klassencharakter der Bourgeoisie und der Großgrundbesitzer anging, die in der chinesischen Republik herrschten. Entsprechend war klar, dass ihr Zweckbündnis mit der Guomindang als deren erfolgreichster Fraktion bei der Verteidigung gegen Japan den Krieg nicht lange überdauern würde. 1949 gelang auf dem chinesischen Festland die Revolution.

China heute ist wiedererstarkt. In den Interventionsstaaten von damals, außer in Russland, hört man heute Äußerungen, die denen Wilhelms II. in der »Hunnenrede« entsprechen. Zwar verzichtet man auf die ganz groben Töne und den damit verbundenen Skandal. Aber das Ziel ist und bleibt die Unterwerfung Chinas. Wenn wieder einmal die Bundesmarine vor Taiwan kreuzt, weiß man in Beijing, was man davon zu halten hat.

Anmerkungen

1 Zit. nach Bernd Sösemann: Die sog. »Hunnenrede« Wilhelms II. Textkritische und interpretatorische Bemerkungen zur Ansprache des Kaisers vom 27. Juli 1900 in Bremerhaven. In: Historische Zeitschrift, Band 222 (1976), S. 343–358

2 Zit. nach Dietlind Wünsche: Feldpostbriefe aus China. »Jeden Zehnten mindestens Kopf ab in den aufrührerischen Gegenden ...« In: Mechthild Leutner, Klaus Mühlhahn: Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900–1901. Berlin 2007, S. 153–161

3 Zit. nach Ute Wielandt: Die Reichstagsdebatten über den Boxerkrieg. In: Ebd., S. 164–172

Kai Köhler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 9. und am 10. Juli 2025 in zwei Teilen über den Roman »Stalingrad« von Theodor Plievier: »Angebot an alle« und »Im Kampf gegen Asien«

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