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Aus: Ausgabe vom 26.07.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Knetmasse Herz

Wir haben 15 Jahre auf Adam Elliots zweiten Langfilm »Memoiren einer Schnecke« gewartet. Es war nicht umsonst
Von Norman Philippen
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»Manchmal ist der Weg das Ziel, aber manchmal ist das Ziel auch nur eine Ausrede, um unterwegs zu sein« – Grace und Gilbert, noch unzertrennlich

Seit neulich habe ich einen zweiten Lieblingsanimationsfilm. Das war klar nach nur wenigen Minuten der »Memoiren einer Schnecke«, dem erst zweiten Stop-Motion-Langfilm des australischen Animators, Regisseurs, Drehbuchautors und Produzenten Adam Elliot. Der wurde schon vor 25 Jahren in dieser Zeitung ein Genie genannt, so dass ich das heute nicht selber tun muss. Dabei hatte Elliot damals nicht mehr als die drei Kurzfilme »Uncle« (1996), »Cousin« (1999) und »Brother« (2000) vorgelegt. Aber was heißt hier »nur«? Eine Mordsarbeit war deren Herstellung schließlich, die den damaligen Lobpreis allemal rechtfertigte.

Erschafft Elliot doch von den Protagonisten bis hin zum letzten der irrsinnig vielen Details seiner phantastischen Filme auf mehr als akribisch mühevolle Weise alles mit eigenen Händen aus Ton (englisch: »clay«). Bewegung um Bewegung, Bild für Bild. Da hierzu pro flüssig animierter Filmsekunde mindestens zwölf, besser aber zwei Dutzend Bilder vonnöten sind, ziehen zwischen Idee und Storyboard bis zum fertigen Kunstwerk schnell ein paar Jahre ins Land. So ist leicht verständlich, dass zwischen der Veröffentlichung meines bis dahin einzigen Lieblingsanimationsfilm »Mary & Max« (2009) und den »Memoiren« 15 Jahren vergingen. Die genutzt werden konnten, um Freunden zu sagen, sie sollten sich die herzverwundend schöne Außenseitergeschichte um die jahrzehntelange (Brief-)Freundschaft zwischen der zu Beginn achtjährigen Australierin Mary Daisy Dinkle und dem anfänglich 44jährigen, in New York City lebenden jüdisch-atheistischen Autisten Max Horovitz unbedingt mal ansehen. Dass deshalb jemand eine ganze Zugfahrt über Tränen vergoss, weil der Film im ICE-Filmportal gezeigt wurde, war nicht beabsichtigt, aber verständlich.

Die von Elliot selbst so getauften »Clayographies« erwischen eben nicht nur allzu Heißherzige kalt, respektive gehen denen zuverlässig nah, die etwas lieben können. Wie die Genrebezeichnung und Filmtitel bereits andeuten, erzählen die Tonbiographien stets Lebensgeschichten. Leidvolle, ganz unterschiedlich verschrobener Charaktere zumal, wie sie der als Kind von Garnelenzüchtern im australischen Outback aufgezogene Elliot wohl aus eigener Anschauung kennen dürfte. In »Memoiren einer Schnecke« sind dies die Geschichten der Zwillinge Grace und Gilbert Pudel. Nach dem Schlafapnoe-Tod ihres einst als Artist glücklichen, nach einem Unfall jedoch querschnittsgelähmten Vaters, der zudem seit dem Tod der Mutter der Zwillinge als Alkoholiker vegetierte, werden sie von zwei unterschiedlichen Familien adoptiert und also schmerzlich voneinander getrennt. Grace trifft es mit einem eher zu bemühten, kinderlosen, ratgeberliteratursüchtigen Swingerpärchen in einem Vorort von Canberra noch erträglich. Gilbert dagegen wird zu fanatisch religiösen Hühnerfarmern gegeben, also zwangsläufig immerzu wütender und depressiver. Wo es nur die Bibel zur Lektüre gibt, tröstet Gilbert nicht einmal mehr die mit Grace geteilte Liebe zur Literatur. Ihm bleiben allein die Briefe, mit denen die Zwillinge in Kontakt bleiben. Ob die beiden wieder zueinanderfinden, wie sie es sich schwören, steht hier nicht. Dass man es ihnen aber aufrichtig wünscht, obwohl sie nur aus Ton geknetet sind, sei gerne verraten. Schon weil sie für Knetkameraden so schöne Einsichten haben wie »Manchmal ist der Weg das Ziel, aber manchmal ist das Ziel auch nur eine Ausrede, um unterwegs zu sein.«

Daran, dass das US-amerikanische Magazin Variety von einem »gentle masterpiece of animated storytelling« spricht, das die Kunst des Innehaltens feiert, ist nichts falsch. Die Entscheidung der »Academy« aber, den Film bei den 97. Academy Awards nicht mit einem Oscar in der Kategorie »Bester Animationsfilm« zu ehren, muss man nicht richtig finden. Ebenso wenig die Existenz dieser Kategorie, die vielleicht davon ablenken soll, dass animierte Filme wie Elliots Clayographies solchen mit Darstellern aus Fleisch und Blut längst das Wasser reichen und davon womöglich mehr in die Zuschaueraugen treiben können, als jene, deren Protagonisten höhere Gagen einheimsen, als Elliot überhaupt an Budget zur Verfügung steht.

Doch sei es drum, für seinen Kurzfilm »Ernie Biscuit«, hat der Mann seinen Oscar längst erhalten. Und »Memoiren einer Schnecke« teilt sich nun wie gesagt den ersten Platz der Liste meiner persönlichen Lieblingsanimationsfilme mit »Mary & Max«. Mehr kann ein Knetfigurenkünstler ja wohl kaum erwarten.

»Memoiren einer Schnecke«, Regie: Adam Elliot, Australien 2024, 94 Min., bereits angelaufen

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