Zwischen Finden und Erfinden
Von Erich Hackl
Der neue Roman des Tessiner Autors Fabio Andina handelt von den im Titel genannten »Sechzehn Monaten«, die zwischen der Verhaftung des Tischlers Giuseppe Vaglio im März 1944 und seiner Rückkehr aus dem KZ Mauthausen im Juli 1945 liegen. Giuseppe bewohnt mit seiner Frau Concetta, den beiden Kindern Maria Pia und Benedetto sowie seinen und Concettas Eltern ein Haus in der Ortschaft Cremenaga, auf halber Strecke zwischen dem Lago Maggiore und dem Luganer See und in unmittelbarer Nähe zur Schweizer Grenze. Dorthin, an und über den Grenzfluss Tresa, führt Giuseppe immer wieder jüdische Flüchtlinge, bis er von einem Rivalen, dessen Beweggründe unklar bleiben, bei den deutschen Behörden angezeigt wird.
Ständiger Wechsel
Das Thema der Fluchthilfe, die nicht unentgeltlich erfolgt, dazu die Schilderung des Alltags im faschistischen, von deutschen Truppen besetzten Italien, der Einfluss eines bedächtigen Dorfpfarrers auf die Gewissensbildung seiner Gemeindekinder, die Sehnsucht der Einwohner nach einem Leben in Frieden und Freiheit, die Bedeutung, die sie der Verwandtschaft, der guten Nachbarschaft und dem gemeinsamen Musizieren beimessen, ihre Vertreibung aus dem Dorf in behelfsmäßige Quartiere im Hinterland – all das steckt in diesem Buch, das man deshalb gern lesen und weiterempfehlen möchte. Nicht einmal die karge, mitunter holprige Sprache, die Karin Diemerling unter Verzicht auf einen flüssigen Stil bewahrt hat, das ständige Wechseln der Erzählperspektive oder die Entscheidung des Autors, lieber seine Leser anzustrengen als die Geschichte übermäßig zu glätten, nehmen einem die Freude an dem Roman, der erst im Epilog seinen wahren Kern enthüllt: Fabio Andina will nicht irgendeine, sondern die Geschichte seiner Großeltern erzählen, und er tut dies auf einer überaus schmalen Datenbasis, weil Giuseppe sich bis zu seinem Tod – er starb, als Fabio zwölf Jahre alt war – über alles ausschwieg, was ihm während seiner Haftzeit widerfahren war.
Schlechte Quellen
Die Frage ist, ob er überhaupt in ein Konzentrationslager verbracht worden war. »Die einzigen Hinweise auf sein Schicksal«, schreibt der Autor, »waren das ›Arbeitsbuch für Ausländer‹ mit Reichsadler und Hakenkreuz, das er bei seiner Rückkehr in der Tasche hatte, sowie sein damaliger prekärer psychophysischer Zustand.« Aber in der nachgestellten »Zeittafel« behauptet Andina, dass sein Großvater am 24. Juni 1944 in Mauthausen »als politischer Gefangener registriert« worden sei und die Häftlingsnummer 1575 erhalten habe. Beide Angaben sind anzuzweifeln; nach Auskunft der KZ-Gedenkstätte Mauthausen ist auszuschließen, dass Giuseppe Vaglio als politischer Gefangener im KZ Mauthausen registriert wurde, dass er im Lager eine Häftlingsnummer erhielt (die von Andina genannte wäre für das Jahr 1944 überdies viel zu niedrig gewesen) und dass er dort ein Arbeitsbuch bekam (das nur zivilen Zwangsarbeitern, nicht jedoch KZ-Häftlingen ausgehändigt wurde). Über diese abschlägigen Informationen hat auch Andina verfügt. Warum hat er seinen Großvater trotzdem als politischen KZ-Häftling (mit einem roten Winkel und malträtiert von anderen, die den schwarzen Winkel der »Asozialen« trugen) ausgegeben? Aus Leichtsinn, d. h. mangelndem Verantwortungsbewusstsein realen Schicksalen gegenüber? Oder weil ihn das Kalkül antrieb, dass erst die große Fallhöhe seiner Hauptfigur, also die Spanne zwischen Idylle in der Familie und Hölle im KZ, dem Roman die nötige Spannung und seinem Protagonisten die gebührende Anerkennung bringen würde? Dabei steht außer Zweifel, dass Giuseppe Vaglio auch als Zwangsarbeiter – offenbar für die nach Schwarzbach-Suben im Böhmerwald, dem heutigen Černá v Pošumaví, ausgelagerte Firma Augsburger Holzindustrie Barent und Co. – jene körperlichen und seelischen Qualen erlitten haben könnte, über die er für den Rest seines Lebens schwieg. Plausibel klingt, was der Chefkurator der Gedenkstätte Mauthausen, Christian Dürr, als Möglichkeit in Erwägung zieht: dass Giuseppe Vaglio tatsächlich am 24. Juni 1944 mit einem Transport von mehreren hundert Gefangenen aus dem Durchgangslager Fossoli (Provinz Modena) in Mauthausen eintraf, dort aber nicht aufgenommen, sondern aufgrund seiner beruflichen Eignung an den holzverarbeitenden Betrieb in Schwarzbach weitergeschickt wurde.
Wo ist er bloß?
Der Roman ist mit einem der begehrten Schweizer Literaturpreise ausgezeichnet und von der Kritik begeistert besprochen worden, wegen der »erzählerischen Kraft« (Roman Bucheli in der NZZ), die die Frage, was in ihm erfunden und was real sei, obsolet mache. Dieses großzügige Urteil verwundert angesichts der Unschärfe, mit der Giuseppes Erlebnisse als Häftling, oder eben als Zwangsarbeiter, dargestellt werden. So anschaulich Andina das Familienleben in Cremenaga beschreibt, so schematisch wirken seine Schilderungen, so oft sich der Schauplatz in das Deutsche Reich verlagert. Dann entsteht beim Lesen der Eindruck, dass Giuseppe in einem ungeordneten, immer wieder unterbrochenen inneren Monolog an die geliebte Concetta Dinge erzählt, die wie angelesen, nicht wie erlebt wirken: »Irrwitzige Tage gehen in die nächsten, noch irrwitzigeren über. Sie vermischen und verwirren sich, machen mich glauben, dass die einzelnen Geschehnisse nicht chronologisch aufeinanderfolgen, weil das Davor und das Danach keine Verbindung mehr zueinander haben. Sogar die Gegenwart ist flüchtig, herausgerissen aus ihrem winzigen Zeitraum.« Ähnlich nichtssagend hat sich auch Andinas Landsmann Bruno Dössekker alias Binjamin Wilkomirski in der erfundenen Autobiographie »Bruchstücke« (1995) seine Kindheitserinnerungen an deutsche Vernichtungslager zusammengereimt. Man erfährt trotz der Fülle an mitgeteilten Einzelheiten nie, wo Giuseppe sich eigentlich aufhält. Mauthausen scheidet aufgrund der topographischen Details als Ankunftslager aus, das Sägewerk könnte überall sein, wo im Winter Schnee liegt, die Wachsoldaten tragen breitkrempige Hüte, und noch der Fußmarsch zurück nach Italien, gemeinsam mit einem vermutlich frei erfundenen Leidensgefährten, wirkt seltsam unwirklich, als stürzten über die endlich befreiten Zwangsarbeiter – oder KZ-Häftlinge, gemäß der Phantasie des Autors – nun erst recht alle Gefahren herein. So legt man das Buch, das man erwartungsvoll aufgeschlagen und in dem man begierig zu lesen begonnen hat, nach 210 Seiten ein wenig enttäuscht zur Seite.
Andinas Verlangen, das Leiden seines Großvaters mit künstlerischen Mitteln zu beglaubigen, gibt sich nicht nur in diesem Roman zu erkennen; es bildet auch das Gerüst eines Dokumentarfilms, dessen Kinostart für nächstes Jahr geplant ist: »Da Mauthausen a Cremenaga« (Regie: Villi Hermann, Buch: Fabio Andina). Für den Film ist Andina von Mauthausen nach Cremenaga zu Fuß gegangen, 800 Kilometer in 45 Tagen, und ich frage mich, was er mit diesem Gewaltmarsch eigentlich bezweckt hat.
Fabio Andina: Sechzehn Monate. Aus dem Italienischen von Karin Diemerling. Rotpunktverlag, Zürich 2025, 210 Seiten, 25 Euro
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