Gegründet 1947 Sa. / So., 26. / 27. Juli 2025, Nr. 171
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 25.07.2025, Seite 12 / Thema
Libyen

Eine Nation im Umbruch

Zwischen Modernisierung und Krieg – Libyen im Januar 1989. Eine Reportage
Von Sabine Kebir
12-13.jpg
Der Rückgriff auf billige Arbeitskräfte aus dem Ausland zeigt ein Missverhältnis an. In der Fabrik in Rabta wurden Gastarbeiter aus Korea, Thailand und dem Sudan eingesetzt (7.1.1989)

Anfang 1989 fragte mich eine Gruppe friedensbewegter Grüner, die damals gar nicht selten waren, ob ich als Journalistin an einer Freundschafts- und Informationsreise teilnehmen wolle, zu der der libysche Staat eingeladen hatte. Anlass war die drohende Kriegsgefahr. Libyen errichtete damals eine Chemiefabrik, von der es hieß, dort werde Giftgas hergestellt, um damit Israel anzugreifen. Man munkelte, dass die Chemiefabrik bombardiert werden würde. Die 6. US-Flotte patrouillierte bereits vor der libyschen Küste.

Ich sagte zu. Ein Visum, hieß es, bräuchten wir nicht. Alle vorab gemeldeten Personen würden es in Libyen auf dem Flugplatz bekommen. Damals hatte ich einen bundesdeutschen Europapass und meinen noch gültigen DDR-Pass. Sollte ich letzteren zum Einsatz bringen? Die noch existierende DDR hatte gute Beziehungen zu Libyen. Ich nahm den Pass mit, entschied mich dann aber, in Tripolis den Europapass vorzulegen, um im Falle von Schwierigkeiten nicht von der Gruppe getrennt zu werden. Diese bestand aus einigen Journalisten, darunter auch ein Mann von der Taz und eine Frau vom DKP-Blatt UZ. Es gab auch einige Kameraleute. Die meisten Teilnehmer waren Mitglieder der Grünen Jugend.

Die Visaformalitäten waren rasch erledigt. Dann wurden wir mit einem Bus nach Tripolis gefahren, durch steppenartiges Gelände, in dem viel Müll und sogar alte Autokarossen herumlagen. Gab es in diesem sich rasch entwickelnden Land noch keine Müllentsorgung? Doch der Flugplatz und auch das Hotel, in dem wir untergebracht wurden, waren modern und sauber.

Demokratieexperimente

Am ersten Tag besichtigten wir das Zentrum von Tripolis, natürlich immer mit Begleitern. Sonderlich beeindruckt war ich nicht, da kaum historische Substanz zu sehen war. Das gut geplante Programm der Reise erscheint mir rückblickend interessanter als damals. In meinen Aufzeichnungen, aus denen im Folgenden zitiert wird, hatte ich festgehalten: »Der Aufzug der 6. US-Flotte erzeugte zwar Mobilisierung in Libyen, aber keine Panik. Der Alltag ist zur Zeit eher von der Diskussion der Basisvolkskongresse über die Ausführungsbestimmungen einer am 12. Juni 1988 in Kraft getretenen neuen Charta der Menschenrechte bestimmt. Libyen versucht den Übergang von der Herrschaft der oft zur Willkür neigenden Revolutionskomitees zum Rechtsstaat. Die Charta machte bereits die Eröffnung kleiner und mittlerer Privatbetriebe möglich, beendete das bislang absolute Handelsmonopol des Staates, verallgemeinerte das bis zum vorigen Jahr eingeschränkte und willkürlich gehandhabte Reiserecht und sieht in naher Zukunft auch Presse- und Meinungsfreiheit vor.«

Um uns das System der Volkskongresse vorzustellen, wurden wir zu zwei Basisversammlungen gefahren. »Das libysche Rätesystem ist teils lokal, das heißt in Stadtteilen organisiert, aber auch auf Betriebsebene, in den Universitäten usw. Sie tagen zweimal im Jahr einen Monat lang, um neue Gesetze und neue ökonomische und außenpolitische Orientierungen zu beraten. Die Diskussionsbeschlüsse werden von gewählten Vertretern in die übergeordneten Kongressstrukturen weitergegeben und dort erneut in Abstimmungen eingebracht. Um den Frauen die Teilnahme an diesem politischen System zu ermöglichen, mussten nach Geschlechtern getrennte Versammlungsmöglichkeiten geschaffen werden. So finden die Volkskongresse für Frauen am frühen Nachmittag und für Männer am frühen Abend statt. Wo es möglich ist, gibt es auch gemischte Volkskongresse.

Die Teilnahme an dieser Form von Basisdemokratie ist freiwillig, wird aber doch wohl von relativ vielen Menschen wahrgenommen. Wie unsere Journalistengruppe beim Besuch der Kongresse feststellte, fiel auf, dass die mittlere Generation am wenigsten vertreten war: In der Männerversammlung waren vorwiegend ältere Männer zwischen 40 und 60 Jahren anwesend, bei den Frauen dominierte die Jugend von 15 bis etwa 30 Jahren. Uns wurde erklärt, dass die hier weitgehend fehlende mittlere Altersgruppe zumeist in Betrieben zu Volkskongressen organisiert ist. Angst zu sprechen hatte offensichtlich niemand. In unserer Anwesenheit wurden vom Publikum heikle Fragen zur Weiterleitung an die übergeordneten Kongresse gestellt, wie die, ob in Zukunft Angehörige von Oppositionellen benachteiligt bleiben sollen und ob Verhaftete misshandelt werden dürfen.

Als der Muezzin zum Gebet rief, wurde eine Pause eingelegt. Ein Teil der Männer zog sich in die Moschee zurück, ein anderer Teil trank Tee im Hof. Offensichtlich gehört die persönliche Handhabung der religiösen Sitten zu den Freiheiten des heutigen Libyen. Die Gretchenfrage aller bisherigen historischen Erfahrungen mit Rätesystemen, wo denn nun die reale Machtkompetenz der Volkskongresse genau anfängt und endet, konnte auch hartnäckigstes journalistisches Bohren nicht klären. Klar wurde lediglich, dass die Volkskongresse in den mit modernster Hochtechnologie von ausländischen Gesellschaften errichteten Großbetrieben nicht das eigentliche Sagen haben, sondern die Techniker und Ingenieure. Das hier zu vermutende potentielle Spannungsfeld mag aber in der Tat bislang wenig zum Tragen gekommen sein, da die Arbeiter durch die guten Löhne noch wenig Problembewusstsein entwickelt haben. Hinzu kommt der hohe Ausländeranteil in der libyschen Arbeiterklasse.«

Es war nicht anzunehmen, dass die Auswahl dieser Basisgruppen für unseren Besuch zufällig oder gar repräsentativ war. Aber ganz manipulierend zusammengestellt war sie auch nicht. Immerhin wurde deutlich, dass wir keine Funktionärsversammlungen vor uns gehabt hatten, sondern mehrheitlich einfache Leute. Und die vielleicht inszenierten, aber zumindest strittige Punkte berührenden Fragen wiesen doch auf eine gewisse Liberalisierungsbereitschaft der Regierung hin. Dass es im Land aber auch sehr Unzufriedene gab, machte ein Zwischenfall klar, der vor oder nach der Männerversammlung stattfand. Jedenfalls muss die Anregung dazu von einem Versammlungsteilnehmer ausgegangen sein, der wusste, dass eine deutsche Journalistengruppe erwartet wurde. In der Nähe des Busses warf sich ein ärmlicher Mann vor uns nieder und schrie, dass das libysche Volk stark unterdrückt werde. Er war wirklich sehr verzweifelt, weinte.

Modernisierung mit Hürden

»Die Liberalisierungsbestrebungen sind im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten zu sehen, die Libyen angesichts des dramatischen Rückgangs seiner Einnahmen aus dem Erdölgeschäft hat (sie sanken von 20 auf vier Milliarden Dollar pro Jahr). Steigende Preise und verminderte Importe haben den Lebensstandard der libyschen Familien gesenkt. Auf den Märkten der Altstadt von Tripolis, die dank der Liberalisierung des Handels wieder zu einem gehörigen orientalischen Basar wurden, überzeugte ich mich, dass bislang keine Situation entstanden ist, die Anlass zu Brotunruhen wäre, wie es sie kürzlich in Tunesien oder Algerien gab. Ein Kilo Tomaten kostet 0,3, ein Kilo Apfelsinen 0,4 und ein Kilo Kartoffeln 0,5 Dinar. Einen Hidschab, das meistgetragene Frauengewand, bekommt man für 20 Dinar. Die niedrigsten Arbeiterlöhne liegen bei 130 bis 150, mittlere Löhne bei 250 und hohe Löhne zwischen 400 und 500 Dinar. Alle Libyer wohnen mietfrei.

Erhebliche Probleme sind auch aus der raschen Verstädterung erwachsen. 60 Prozent der Bevölkerung leben heute in Tripolis und Bengazi. Zwar kann nach wie vor jede Familie eine Wohnung beziehen. Aber ob die bislang praktizierte Mietfreiheit erhalten bleiben kann und sollte, ist fragwürdig: Der Zustand vieler neuer Häuser und Siedlungen in Tripolis ist erschreckend. Sie sind von Abfall umgeben, der von der Plastiktüte bis zu auch hier herumliegenden Autoleichen reicht. In den Straßen und selbst in den Vorgärten fallen viele vertrocknete Bäume auf: Sie werden nicht gegossen, obwohl die Hauptstadt keine Wasserprobleme haben soll. Als Nomade ist man eben daran gewöhnt, dass Gott die Bäume gießt oder nicht gießt.«

Wir besichtigten die medizinische Fakultät in Tripolis. Man sah dort auch viele Mädchen, etwa die Hälfte im Hidschab. Unsere Gruppe blieb wohl nicht dicht beieinander, und ich landete plötzlich in einem Saal, wo Studenten das Sezieren an sehr verwest wirkenden Leichenteilen übten – ein schockierender Anblick. Der war wohl auch nicht eingeplant, jedenfalls wurde ich schnell wieder hinausgetrieben. Es war jedoch ein interessantes Detail zu diesem Land, denn ich hatte es bislang nicht für möglich gehalten, dass in muslimischen Ländern Menschen seziert würden. Eigentlich darf im Islam die Totenruhe nicht gestört werden.

Wie wir auf einer mehrtägigen Reise Richtung Osten feststellen konnten, »wirkten die ländlichen Gegenden außerhalb von Tripolis wesentlich besser. Wir fuhren an gepflegten Orangen- und Olivenhainen sowie wohlbegossenen Gemüseplantagen vorbei, zuweilen auch an Treibhäusern. Die Wohnsiedlungen machen im Vergleich zur Hauptstadt einen sauberen, ja geradezu schmucken Eindruck.«

Zunächst besuchten wir eine Fabrik der Leichtindustrie, in der vor allem Gastarbeiter aus Asien, besonders aus Bangladesch, arbeiteten. Man schenkte uns hier hergestellte Filzstifte, die sich als unglaublich langlebig herausstellten. Einen nutze ich noch heute gelegentlich als Marker. Dass Libyen – wie die reichen Golfländer – Gastarbeiter einstellte, erschien mir bedenklich, denn es offenbarte ein Missverhältnis zwischen den Konsumbedürfnissen der Bevölkerung und ihrer Arbeitsbereitschaft, bzw. auch der Lohnpolitik. Allerdings war es sicher nicht einfach, eine Gesellschaft, die eben noch aus frei umherziehenden Nomaden bestand, in eine moderne Arbeitsgesellschaft zu transformieren. Während des Umbruchs 2011 zeigte sich, wie viele Gastarbeiter es weiterhin in Libyen gab. Weil die Wirtschaft zusammenbrach, wurden sie sofort entlassen, gerieten zwischen die Fronten und kamen monatelang nicht aus dem Land.

Industrie versetzt Wasser

1989 konnte man sich fragen, ob die zum Teil gigantischen neuen Industrieanlagen wie das Stahlwerk in Misrata, damals das größte in ganz Afrika, in absehbarer Zeit rentabel gemacht werden können. Für Libyen, dessen Bevölkerung stark wuchs, war das zweitrangig. Man strebte eine weitgehende Autarkie der Landwirtschaft an. Ermöglichen sollte sie »vor allem der große ›Man Made River‹, der zunächst im Osten entstehende, später aber auch für andere Landesteile geplante Pipelinefluss, mit dem diluviales Wasser, das seit Jahrmillionen unter der Sahara ruht, über Tausende Kilometer Fruchtbarkeit erzeugen würde. Das ökologisch nicht unbedenkliche Riesenprojekt – es gibt unter anderem Befürchtungen, dass das diluviale Wasser teilweise den Nil speist und dann dort fehlen wird – wird mit ›Know-how‹ und Arbeitern aus Südkorea realisiert.«

Ziel unserer Reise war dieses gigantische Wasserröhrenprojekt, das zum Transport von aus 300 Metern Tiefe gebohrtem Wasser in die Küstenregionen und zur Entwicklung der Landwirtschaft in Steppen- und Wüstengebieten genutzt werden sollte. Wir kamen bis Breda, wo die Röhren produziert wurden, und stießen dann auch noch nach Süden bis in die Sahara vor, wo die Rohre zur Pipeline montiert wurden. Damals wurden riesige kreisrunde Sprinkleranlagen für den Gemüseanbau geplant und später auch realisiert. Obwohl es keine militärische Anlage war, wurde das ganze System 2011 von der NATO bombardiert. Daniela Dahn schrieb im November 2021, dass das Netzwerk des »Man Made River« zuvor auf insgesamt 4.000 Kilometer angewachsen war, 150.000 Hektar Land bewässerte und Trinkwasser in die Städte pumpte. Heute ist Libyen auf die unökologische Entsalzung von Meerwasser und auf Lebensmittelimporte angewiesen.¹

Endlich stand auch unser Besuch bei der inkriminierten Chemiefabrik in Rabta an. Fotografen und Kameraleute blieben unter Protest im Hotel, da sie ihre Geräte nicht mitnehmen durften. »Konnte man indes aus der Bannung der Bildermacher die Hoffnung ableiten, dass vielleicht doch eine Besichtigung des Betriebsgeländes geplant war? Uns war beim Besuch der Medizinischen Fakultät in Tripolis gesagt worden, dass die Fabrik selbst jetzt von Pharmastudenten, Ärzten und Krankenpflegern besetzt sei, dass es Studentendemonstrationen von Freiwilligen gegeben hätte, deren Forderung, an der Besetzung teilzunehmen, unerfüllbar war, da in Rabta bereits zu viele Menschen versammelt seien.«

Beim letzten Tageslicht langten wir vor der uns aus dem Fernsehen bekannten versteppten Berglandschaft von Rabta an. Die angebliche Chemiewaffenfabrik war bereits in Schatten getaucht. »Vor uns lagen Hunderte, wenn nicht Tausende von Militärzelten, leichte bis mittelschwere Flakanlagen, rechts auf einem Hügel eine Radaranlage. Das allein ist jedoch kein Beweis für die etwaige militärische Bedeutung des Werks von Rabta. Mit Radar und Flak wurden auch die anderen libyschen Industrieanlagen, die wir besichtigen konnten, geschützt: die Erdölraffinerien, das Stahlwerk von Misrata, die von den Südkoreanern errichtete Anlage zur Herstellung der Rohre für den ›Man Made River‹.

Wir werden in ein großes Zelt gebeten und zu Brause und Keksen eingeladen. Jedem ist klar: Wir müssen die völlige Dunkelheit abwarten, um uns hier umzuschauen. Diese ließ freilich nicht mehr lange auf sich warten. Wir dürfen nun Zelte besichtigen, in denen sich Familien aus der näheren Umgebung von Rabta mit Kind und Kegel offenbar schon seit mehreren Tagen niedergelassen haben, um ebenfalls durch ihre physische Anwesenheit einen Angriff moralisch zu erschweren. Am offenen Feuerchen wärmt man sich, kocht Tee. Es sind einfache Leute, Bauern. Ein Lehrer gibt sich zu erkennen. In Libyen scheint niemand daran zu zweifeln, dass in der Fabrik ausschließlich pharmazeutische Produkte hergestellt werden sollen. Allerdings ist der Informationsstand der Bevölkerung niedrig: Ausländische Presse wird in dem Land nicht vertrieben, direkte Informationen sind so nicht zugänglich, alles kommt nur gefiltert über die nationalen Medien an die Öffentlichkeit. So sagt denn auch eine einfache Frau zu mir: ›Wir begreifen nicht, was die Amerikaner von unserem Ghaddafi (der Revolutionsführer Muammar Al-Ghaddafi, der von 1969–2011 Staatsoberhaupt bzw. Regierungschef Libyens war, jW) wollen. Er hat uns Brot gegeben, er hat uns Wohnungen gegeben. Nun will er für uns hier Medikamente machen lassen, und warum denn nicht?‹

Danach werden wir in ein anderes großes Zelt geführt, in dem sich das libysche Fernsehen aufs Filmen vorbereitet. Eine Kundgebung mit einigen Funktionären und unablässig Parolen skandierenden Jugendlichen wird hier stattfinden. Bei uns regt sich noch einmal journalistischer und studentischer Unmut, denn nun ist dem letzten klargeworden, dass wir die Fabrik selbst nicht zu sehen bekommen werden. Aber des Rätsels eigentliche Lösung hätte eine solche Werkbesichtigung ja wohl auch nicht bringen können. Dass sie im angebrochenen Zeitalter der Glasnost nicht stattfand, kostete Libyen jedoch Sympathiepunkte.

Zwar hat sich das Land nicht erst auf der kürzlich in Paris stattgefundenen Weltkonferenz gegen C-Waffen verpflichtet, sie nicht herzustellen, sondern bereits in der schon am 12. Juni 1988 verabschiedeten Charta der Menschenrechte. Aber Libyen wird sich auch erst für die Kontrolle von Fachleuten öffnen, wenn die internationale Gemeinschaft dafür ein für alle Länder gleichermaßen verbindliches Reglement eingeführt hat.«

Ob die Bauern – es waren wohl Nomaden – sich in Rabta freiwillig als menschliche Schutzschilde zur Verfügung gestellt hatten? Ich empfand ihre Anwesenheit angesichts der vor der libyschen Küste patrouillierenden 6. US-Flotte, deren Absichten niemand kannte, als ein gruseliges Spiel mit Menschenleben. Ich selbst war froh, aus dieser gefährlichen Zone bald wieder abfahren zu können.

Friedenszeichen

Abends im Hotel erklärte der Journalist von der Taz, warum eine Werksbesichtigung uns kaum Aufklärung gebracht hätte: Eine moderne Chemiefabrik könne binnen weniger Stunden von der Pharmaproduktion auf die Herstellung von Giftgas umgerüstet werden. Es lag aber auf der Hand, dass eine Medikamentenproduktion in Libyen den großen westlichen Pharmakonzernen ein Dorn im Auge war, weil sie ihr Marktmonopol nicht nur hier, sondern womöglich in ganz Afrika bald gefährdet sahen. Das konnte der wahre Grund sein, die Fabrik zu bombardieren – und sei es, um nachahmungswillige Länder abzuschrecken. Um den Konflikt beizulegen, entschloss sich Ghaddafi wenig später, die Fabrik abreißen zu lassen.²

In den letzten Tagen in Tripolis hat man uns unter anderem in eine Schule gefahren und die paramilitärische Ausbildung von Mädchen vorgeführt. Dass Frauen systematisch militärisch geschult wurden, gab es damals nur in Israel. Kurz vor der Abfahrt erwartete uns noch etwas ebenso Interessantes: »Als ein Großteil der internationalen Medien ein Klima geschaffen hatte, das einen Raketenangriff gegen die Chemiefabrik von Rabta in den Bereich des Möglichen rückte, entschloss sich Ghaddafi zu einem Friedenszeichen gegenüber dem amerikanischen Volk, das wohl auch als Wink für den neuen Präsidenten (George Bush sen.) gedacht war. Kurz vor Weihnachten wurde dem Vatikan vom libyschen Volksbüro in Rom signalisiert, dass Libyen bereit sei, die sterblichen Überreste des amerikanischen Piloten Captain Lawrence seiner Familie zurückzugeben, dessen Flugzeug bei Bombenangriffen im April 1986 abgeschossen worden war. Die Übergabe an einen Unterhändler des Vatikans fand am 13. Januar im Hof der bombardierten Villa von Ghaddafi statt. Unter militärischen Ehren wurde der Sarg dem Bischof von Tripolis, Monsignore Giovanni Martinelli, anvertraut. Anwesend waren auch vier Kinder Ghaddafis, die 1986 hier eine Adoptivschwester verloren hatten.«

Unsere Journalistengruppe wohnte der Übergabe des Sargs vor Ghaddafis Sommerhaus bei. Das Haus, das bombardiert worden war, diente als öffentliches Mahnmal, um an die Aggressivität des Imperialismus zu erinnern. Monsignore Martinelli segnete den Sarg und hielt eine Ansprache. Ich fand diese Inszenierung politisch schlau und wichtig, weswegen ich beschloss, eine Kurzreportage für den SFB zu machen. Mit meinem Sony-Aufnahmegerät registrierte ich die Ansprache des Bischofs und stellte ihm noch ein paar Fragen. Die anderen Journalistenkollegen, einschließlich der Frau von der UZ, fanden nicht, dass die Zeremonie berichtenswert sei.

Mit unserem Bus folgten wir dem Auto, das den Sarg zum Flugplatz transportierte. Dort wartete bereits ein italienisches Militärflugzeug. Wir konnten beobachten, wie der Sarg an Bord gebracht wurde und das Flugzeug in Richtung eines US-Stützpunkts abflog – wahrscheinlich auf einen der Flugzeugträger der 6. Flotte.

Kleines Nachspiel

Den Beitrag für den SFB konnte ich tatsächlich unterbringen – heute undenkbar, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine solche Friedensgeste publik macht. Der damalige Leiter des »Journals nach 5«, Klaus Schulz, war jedoch für so etwas immer aufgeschlossen. Es gelang mir auch, für eine ebenfalls im SFB ausgestrahlte Sendung Johannes Wendts einen Beitrag über den »Man Made River« zu machen und interviewte dazu Professor Wolfgang Kling von der Technischen Universität. Der sprach sehr objektiv darüber, hob den Nutzen für Libyen, aber auch das ökologisch Bedenkliche des Projekts hervor.

Diese Journalistenreise hatte ein seltsames Nachspiel. Ich bekam eine Einladung in das Kreuzberger Lesben-Café »Die Beginen«, wo ich im Rahmen einer Reihe über Frauen in arabischen Ländern über die Frauen in Libyen sprechen sollte. Nachdem ich mir noch einige Informationen beschafft hatte, sah ich mich dazu in der Lage. Ich hatte Fotos mit, die die Frauen bei der Volkskongressveranstaltung zeigten und die militärisch geschulten Mädchen. Auch hatte ich Propagandafotos, unter anderem von Ghaddafis Ehefrau mit dem Kind, das bei der Bombardierung seines Hauses getötet worden war. Nach der Veranstaltung bat mich eine Frau, ob ich ihr die Fotos leihweise überlassen würde. Sie fände Ghaddafi toll und wolle sie sich in Ruhe ansehen. Obwohl ich die Negative bereits vernichtet hatte, da ich mit keiner journalistischen Auswertung mehr rechnete, überließ ich ihr die Fotos. Die Frau hat mich wenig später mit ihrem großen, schwarzen Hund besucht, ohne die Fotos mitzubringen – sie wollte sie noch eine Weile behalten. Beiläufig erzählte sie mir, dass ihr Freund bei einer Bundesbehörde in Bonn arbeite. Erst jetzt dämmerte mir, dass ich ausgeforscht worden war und die Fotos wohl an den BND verloren hatte.

Anmerkungen

1 Nach dem Entwicklungsindex der UNO nahm das Land 2010 den ersten Platz in Afrika und den 53. in der Welt ein, 2021 war es nur noch der 105. Siehe Daniela Dahn: »Das Wort ›Fluchtursachen‹ ist aus dem Vokabular des Westens gestrichen«, Der Freitag, 18.11.2021, S. 1

2 Ein Artikel in der Taz vom 3.1.1992 bleibt bei der Giftgasthese: https://Taz.de/!1688651/

Sabine Kebir schrieb an dieser Stelle zuletzt am 12. Mai 2025 über die Schauspielerin und ­Intendantin Helene Weigel: Die »Chineserin«

75 für 75

Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.

 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Die Straßenkontrollen sehen nicht danach aus, dass die Ruhe wied...
    15.05.2025

    Nachwehen des NATO-Kriegs

    Libyen: In Tripolis sind erneut Kämpfe ausgebrochen. Führender Milizenchef getötet
  • Sarkozy soll seinen Wahlkampf 2007 mit Geldern von Ghaddafi fina...
    29.03.2025

    »Pakt der Korruption«

    Frankreich: Staatsanwaltschaft fordert sieben Jahre Haft für ehemaligen Staatschef Sarkozy
  • Die Beteiligung am Sturz Ghaddafis schützt Sarkozy nicht vor Str...
    08.01.2025

    Riesiger Geldschrank

    Frankreich: Expräsident Sarkozy wegen Millionenspende aus Libyen für Wahlkampf 2007 vor Gericht

Regio:

                                                                 Aktionsabo: 75 Ausgaben für 75 Euro