Kiew will Protest besänftigen
Von Arnold Schölzel
Flucht nach vorn: Am Mittwoch vormittag lud der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij Vertreter des von ihm am Vortag entmachteten Antikorruptionsbüros (Nabu) und der Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP) zusammen mit Angehörigen des Sicherheitsapparats, die er beiden am Montag ins Haus geschickt hatte, zu einem Gespräch. Selenskij erklärte danach auf Telegram, es sei die Ausarbeitung eines Aktionsplans gegen Korruption beschlossen worden, der innerhalb von zwei Wochen vorliegen solle. Dazu stellte er ein Familienfoto des »Team Ukraine«, wie er seine Gesprächspartner nannte, und der Beschwörungsformel: »Wir alle haben einen gemeinsamen Feind – die russischen Besatzer.« Dem ließ er folgen. »Wir alle hören, was die Gesellschaft sagt.«
Zu den Demonstrationen Tausender Ukrainer in Kiew, Charkiw, Odessa und weiteren Städten am Dienstag abend äußerte der Präsident vorsichtshalber nichts, zumal für Mittwoch abend weitere Kundgebungen angekündigt waren. Am Dienstag hatte das Parlament in Kiew die Kompetenzen von Nabu und SAP per Gesetz stark eingeschränkt, indem es sie der Generalstaatsanwaltschaft unterstellte. Selenskij unterzeichnete diese Aufhebung der Unabhängigkeit sofort, daraufhin gingen die Protestierenden auf die Straßen. Zuvor hatten Geheimdienst und Polizei am Montag Dutzende Razzien bei Nabu- und SAP-Mitarbeitern mit zum Teil physischer Gewalt durchgeführt. Parallel hatten Regierung und Medien eine Kampagne gegen beide Behörden entfacht, wobei von Kollaboration mit Russland gemunkelt wurde. Belege dafür gab es nicht.
Ungeachtet der in Selenskijs Büro gezeigten Eintracht ließ allerdings Nabu nicht locker. Das Amt veröffentlichte nach dem Treffen auf seinem Telegram-Kanal einen Aufruf, das Gesetz zu seiner Entmachtung zurückzunehmen. Die Behörde arbeite rein im Interesse des ukrainischen Volkes.
Berlin, Paris, Brüssel und andere EU-Hauptstädte reagierten auf Selenskijs Anschlag gegen die von ihnen als Beweis für Demokratie in Kiew gepäppelten Ämter mit beachtlichem Stirnrunzeln. EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos kritisierte das neue Gesetz als »ernsthaften Rückschritt« auf dem Weg der Ukraine in die EU. Der deutsche Außenminister Johann Wadephul (CDU) zürnte, es belaste »den Weg der Ukraine in die EU«. Er veröffentlichte auf X ein Foto, das ihn mit den Chefs von Nabu und SAP zeigt, und griff laut Bild sogar zum Telefon, um seinen Amtskollegen in Kiew, Andrij Sibiga, zur Ordnung zu rufen. Laut Financial Times hatten der französische Präsident Emmanuel Macron und EU-Ratspräsident António Costa in Telefonaten mit Selenskij versucht, ihn von dem Entmachtungsgesetz abzubringen.
Ebenfalls am Mittwoch sollten in Istanbul (nach jW-Redaktionsschluss) die am 16. Mai und 2. Juni begonnenen Gespräche zwischen russischen und ukrainischen Delegationen fortgesetzt werden. Laut TASS sollte es dabei vor allem um die am 2. Juni wechselseitig überreichten Memoranden gehen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (24. Juli 2025 um 07:18 Uhr)Das Bild über dem Artikel illustriert eindrucksvoll, woher der Wind eigentlich weht, der Selenskij jetzt direkt ins Gesicht bläst: Er weht aus Westen. Weshalb sollten sich Demonstranten in Kiew sonst des Englischen statt des Ukrainischen für ihren Protest bedienen? Es wird wohl so im Handbuch für Farbenrevolutionen geschrieben stehen, wie jene Bilder auszusehen haben, die man für den Sturz ungeliebter Herrscher braucht. Viele junge Menschen müssen darauf zu sehen sein. Und natürlich die Texte in englisch. Damit die Auftraggeber sie auch lesen können. Wie penibel doch vorbereitet ist, dass der große Freiheitskämpfer Selenskij sich vom Acker scheren möge. Nicht, um weniger Korruption im Lande zu haben, denn dieses Titanenwerk vermag in der Ukraine niemand zu vollbringen. Sondern um jemanden an die Spitze zu hieven, der es vermag, einen längst verlorenen Krieg doch noch zu gewinnen. Also den feuchten Traum der Herrscher des »demokratischen Westens« doch noch zu verwirklichen, Russland endgültig erledigen und anschließend seine Reichtümer ungehindert fleddern zu können. Einen »Endsieg« also doch noch hinzukriegen. Das ist allerdings schon mehr als einmal in der Geschichte ordentlich schiefgegangen.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (24. Juli 2025 um 03:09 Uhr)»Der deutsche Außenminister Johann Wadephul (CDU) zürnte, es belaste ›den Weg der Ukraine in die EU‹.« Das stimmt schon, belastet dann aber nicht mehr, wenn man in der EU ist. Wie kommt man in der Ukraine dazu, Untersuchungen wegen Korruption durch den Generalstaatsanwalt niederzuschlagen? Ganz einfach. Man nimmt sich Deutschland zum Vorbild, wo die Staatsanwaltschaften Weisungen des Justizministers entgegegen nehmen müssen. Der ist ja auch immer unparteiisch, nie Mitglied einer Partei und kann als Einzelperson ganz demokratisch und zeitsparend in bestimmten Fällen Gerichte entlasten. Schließlich braucht auch die Staatsanwaltschaft Freiraum, sich den wirklich wichtigen Fällen zuzuwenden. Und welches die Fälle mit Priorität sind, kann sie eben nicht immer allein ohne Hilfe von oben beurteilen. Manchmal will sie weiter ermitteln und darf nicht. Manchmal sieht sie keinen Grund, aber muss ermitteln. In Anbetracht des hohen Amtes wurde bei Bundeskanzler Scholz von weiteren Ermittlungen Abstand genommen. Gilt das etwa für Selenkij und seine Mannschaft nicht? Da würde der aber sehr zürnen.
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