Wandernde Pole
Von Felix Bartels
Die Umwelt kann ja nichts für die Umweltschützer. Das klassenindifferente Generationskonfliktgefasel einer Greta Thunberg mag dazu provozieren, sich vom Thema überhaupt abzuwenden, doch sollte man das Feld gerade deswegen nicht der Romantik von links überlassen. Und immerhin das lässt sich von diesen Leuten lernen, dass neben Klassenkampf auch ein allgemeines Bewusstsein vom Verhältnis des Menschen zur Natur nötig bleibt. Was wir tun auf der Erde, hat Auswirkung. Selbst auf vermeintlich konstante Naturgrößen.
Die irdischen Pole etwa verlagern sich, und nicht bloß naturläufig, auch durch menschliche Aktivitäten. Eine Studie der Harvard University hat jetzt die Auswirkung weltweit gebauter Staudämme auf die Polwanderung untersucht. Ökonomisch allzumeist notwendig, halten Stauseen große Mengen Wassers zurück, womit sich die Gewichtsverteilung auf der Erdoberfläche verändert. Seit 1835 habe sich demnach die Erdachse um 1,13 Meter verschoben. Und zwar historisch zunächst nach Osten, später nach Westen.
Die geographische Lage der Pole ist durchaus nicht statisch, sie ändert sich mit der Verteilung von Eisschilden und Gletschern, den Wassermassen der Ozeane und dem Vorkommen von Grundwasser. Mit Faktoren also, die im Zuge fortschreitender Kultivierung der Erde stärkerer Veränderung unterliegen als in früheren Zeitaltern. »Wenn wir Wasser hinter Staumauern zurückhalten, fehlt dieses Wasser in den Ozeanen«, erklärt Erstautorin Natasha Valencic in der Fachzeitschrift Geophysical Research Letters. Damit sinke der globale Meeresspiegel, und die Masseverteilung des Wassers auf der Erde ändere sich.
Um das Ausmaß dieses Effekts zu ermitteln, haben Valencic und ihre Kollegen Zeitpunkte der Fertigstellung, Lage und Füllmengen für 6.862 große Staudämme ausgewertet, deren Wassermasse 70 Prozent aller Stauseen weltweit ausmacht. Zusammengerechnet enthalten sie genügend Wasser, den Grand Canyon zweimal zu füllen. Nach Berücksichtigung aller bereits bekannten Einflüsse auf die Wanderung der Pole blieb tatsächlich eine Restdynamik übrig. Die nachweisbare Bewegung von 1,13 Metern scheint sich zudem seit den 1950er Jahren beschleunigt zu haben. »Die mittlere Driftrate ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dreimal schneller als in der ersten«, schreiben Valencic und ihr Team.
Der Verdacht auf einen Zusammenhang mit dem Staudammbau festigt sich zudem durch die erwähnte hakenförmige Wanderung der Pole zunächst nach Osten, dann nach Westen mit dem zeitlichen Wendepunkt um 1954. Diese geographische Struktur entspricht der historischen Entwicklung, denn vor 1954 lagen fast alle Staudämme und größeren Stauseen in Nordamerika und Europa, also im westlichen Teil der Nordhalbkugel. Die enormen dort aufgestauten Wassermassen verlagerten die Erdkruste ein kleines Stück Richtung Äquator, also vom Nordpol weg. Relativ zur Erdkruste schien der Pol dadurch nach Osten zu wandern. Seit 1954 hat sich diese Entwicklung jedoch umgekehrt: »Das aufgestaute Wasservolumen ist seither zwar etwas globaler verteilt, aber es dominierten Staudammbauten in Asien und Ostafrika«, berichten Valencic und ihr Team.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (22. Juli 2025 um 14:04 Uhr)Grandiose Leistung der Vermessung der Welt! Der Erdumfang ist ungefähr vierzig Millionen Meter. Leute, die eine Veränderung / Abweichung von einem Meter nachweisen können, nötigen mir Respekt ab.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (22. Juli 2025 um 11:25 Uhr)Die Austrocknung des Mittelmeers während der Messinischen Salinitätskrise war ein geologisch gewaltiges Ereignis – ganz ohne menschliches Zutun –, das eine deutlich größere Verschiebung der Erdachse verursacht haben dürfte als alles, was wir heute mit moderner Messtechnik erfassen. Ebenso haben wohl andere Naturphänomene wie gewaltige Vulkanausbrüche oder Meteoriteneinschläge sowohl die Achslage als auch die Rotationsgeschwindigkeit der Erde beeinflusst. Die Entleerung und spätere Wiederflutung des Mittelmeerbeckens stellte eine der massivsten Massenumverteilungen der Erdgeschichte dar – mit erheblich größerem Einfluss auf das Gleichgewicht des Planeten als gegenwärtige Prozesse wie Staudammbauten oder das Abschmelzen von Gletschern. Mein Eindruck ist, dass die moderne Forschung dazu neigt, die Auswirkungen menschlicher Eingriffe in den Vordergrund zu stellen – oft mit einem unterschwelligen moralischen Appell. Dabei wird mitunter übersehen, dass die Erde als Ganzes – als dynamisches, sich selbst organisierendes System – stets im Wandel war und bleibt. Die »Gaia« Erde hat uns nicht nur Lebensraum geschaffen, sondern bewiesen, dass sie in der Lage ist, tiefgreifende Umbrüche zu verkraften – und sich dabei immer wieder neu zu justieren.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (21. Juli 2025 um 22:47 Uhr)Danke für diesen interessanten Hinweis. Was sind die Konsequenzen dieser Verschiebung der Erdachse? Hat dies auch Auswirkungen auf die magnetischen Pole? Betreffs den Seitenhieb auf Greta Thunberg: freilich gibt es politische Unterschiede. Ich habe jedoch großen Respekt, denn wer von uns hätte sich durchgerungen, dazu noch unter leicht autistischer Bedingungen, diese Überzeugung und Bewegung (FFF) aufrechtzuerhalten? Greta hätte sich längst, wie manche OpportunistInnen, für Parteien, Organisationen etc. einspannen lassen können. Im Gegenteil, sie war an Bord der Flottille nach Palästina. Um sich ein differenziertes Bild von ihr zu machen, gibt es diese 2 Filme: Greta Thunberg: Rebel with a Cause von Jordan Hill (in verschiedenen Sprachen) und Greta Thunberg: A Year to Change the World Kurz: wir brauchen viel mehr Gretas!
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vom 22.07.2025