Bündnis gegen die Natur
Von Christian Stache
In diesen Tagen erscheint im Papyrossa-Verlag das Buch »System Update oder System Change? Glanz und Elend des Ökosozialismus« von Christian Stache, in dem er kritisch verschiedene Spielarten ökosozialistischer Theorie analysiert. Wir veröffentlichen daraus mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag die ersten Abschnitte des Kapitels »Umrisse eines ökologischen Kommunismus«. Das Buch kann bestellt werden unter www.papyrossa.de. (jW)
Die Hauptursache für die Naturzerstörung in der kapitalistischen Gesellschaftsformation sind die historisch besonderen sozialen Relationen der Klassen zueinander und zur Natur. Aus diesen sozioökonomischen Beziehungen resultiert eine bestimmte soziale Praxis der Klassen zueinander und zur Natur, die notwendig zur Destruktion der äußeren Natur und der inneren Natur des Menschen führt. Durch ihre stetige Reproduktion vergegenständlichen sich diese Beziehungen zu sozioökonomischen Strukturen. Diese Strukturen wiederum bestärken die Klassen darin, ihre Beziehungen zueinander und zur Natur und die damit verbundene destruktive soziale Praxis zu reproduzieren. Das wechselseitige Zusammenspiel der Klassenrelationen mit den sozioökonomischen Sozialstrukturen führt in der historischen Entwicklung zur langen sozialökologischen Krise, wie wir sie heute erleben.
Das Kapitalverhältnis zwischen der Klasse der Kapitalisten und der Klasse der Arbeiter bildet die grundlegende, übergreifende und alle anderen Sozialbeziehungen strukturierende soziale Relation der bürgerlichen Gesellschaft. Mit diesem Klassenverhältnis in der Produktion und in der Zirkulation geht zugleich eine für die kapitalistische Produktionsweise spezifische Überausbeutungsbeziehung des Kapitals zur Natur einher. Aber der Reihe nach.
Als Kapitalverhältnis bezeichnet Marx die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Kapitalistenklasse zwecks Aneignung von Mehrwert beziehungsweise Profit in der Produktion. Die sozioökonomische Ausbeutung und die damit verbundene Herrschaft sind vermittelt über den Verkauf und Kauf der Produkte gesellschaftlicher Arbeit und vor allem der Arbeitskraft als Waren auf dem Markt (MEW 23: 793; 25: 822). Die historischen Voraussetzungen dafür sind die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse: Die Kapitalisten verfügen über die Produktionsmittel, während die Lohnabhängigen doppelt »frei« sind. Um sich reproduzieren zu können, müssen sie ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen. Gleichzeitig sind sie politisch formal freie Individuen, so dass sie auf dem Markt als Anbieter und Käufer von Waren auftreten können. Das produzierte Gesamtprodukt der gesellschaftlichen Arbeit wird über diesen Verkauf und Kauf von Waren verteilt.
Überausbeutung der Natur
Die kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse beinhalten eine besondere soziale Relation der Klassen zur Natur. Das Kapital verfügt in Form monopolisierter Produktionsmittel über die Natur als sein Eigentum. Es handelt sich also zwischen Kapital und Natur um ein Eigentumsverhältnis. Die Angehörigen der Arbeiterklasse können zwar auf Basis der bürgerlichen Produktionsweise auch Teile der Natur oder einzelne Lebewesen besitzen, aber in der Regel nur als Waren zur Konsumtion (Kleingarten, Haustier). Als Mittel gesellschaftlicher Produktion unterhalten die Arbeiter hingegen keine direkte Relation zur Natur. Diese wird vermittelt über das Kapital hergestellt. Denn es führt in der Produktion Natur und Arbeiterklasse zusammen und stellt auf diese Weise die soziale Relation zur Natur her. Über die Gestaltung und den Zweck dieses Verhältnisses entscheiden also nicht die Arbeiter. Das Kapital als dominante gesellschaftliche Kraft integriert die Natur als Produktionsmittel in das Kapitalverhältnis, damit in die Produktionsweise und die bürgerliche Gesellschaftsformation. Dementsprechend ist es die Beziehung des Kapitals zur Natur, welche das gesellschaftliche Naturverhältnis im Kapitalismus bestimmt. Das bedeutet freilich nicht, dass es daneben keine anderen Beziehungen zur Natur gibt. Die Menschen z. B. können bis zu einem gewissen Grad als Konsumenten Entscheidungen treffen, die die Beziehung des Kapitals zur Natur bestärken oder abschwächen. Der Staat erlegt dem Kapital zudem Regeln zum Umgang mit der Natur auf, die ebenfalls in verschiedene Richtungen wirken können. Aber die Regulierungen sind dem Verhältnis des Kapitals zur Natur logisch und historisch nachgelagert. Ebenso wie das Konsumverhalten der Gesellschaften wirken sich staatliche Maßnahmen auf das gesellschaftliche Naturverhältnis aus, aber sie ändern den destruktiven Charakter dieser Beziehung nicht grundsätzlich.
Denn auf Basis der sozialen Relationen der Klassen zueinander und zur Natur wird die Natur im Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion notwendig despotisch überausgebeutet. Im Produktionsprozess eignen die Lohnarbeiter im Auftrag, im Interesse und unter der Leitung des Kapitals die Naturlebewesen, -stoffe und -ströme an und transformieren sie in stoffliche Bestandteile der Gebrauchswerte von Waren. Dabei abstrahiert das Kapital von den besonderen Qualitäten der Natur. Fühlende, bewusste, mit rudimentären Interessen und Vorstellungen ausgestattete Tiere werden ebenso ausgebeutet wie Öl, Gas, Lithium- und Uranvorkommen oder Regenwälder. Die relative Eigenständigkeit, die Eigengesetzlichkeiten und die Reproduktionserfordernisse der Natur werden zwar im Produktionsprozess berücksichtigt, aber nur soweit sie für die Herstellung der Waren unmittelbar erforderlich sind. Natürlich interessieren sich z. B. Schweinemäster für ihre Tiere, ihr Verhalten, ihren Metabolismus usw. Aber dies geschieht zuvorderst wegen der Konsequenzen für die aus den Schweinen zu produzierenden und möglichst profitträchtigen Fleischwaren.
Zudem widerfährt der Natur politisch, anders als im Ausbeutungsverhältnis zwischen den menschlichen Klassen, keine Anerkennung. Ökonomisch wird weder ihre Ausbeutung mit einer Art Lohn »vergütet«. Noch wird dafür Sorge getragen, dass die Natur, so wie sie in den Produktionsprozess eingeht, auch wiederhergestellt werden könnte. Dass Kapitalisten über die Naturstoffe, -ströme und Lebewesen verfügen können, wie es ihnen beliebt, d. h. despotisch, zeigt sich vielerorts konkret: Im Schlachtprozess wird Tieren ihr Leben genommen. Durch die Nutzung der kultivierbaren Böden werden selbige zusehends ausgelaugt – Düngung verschiebt das Problem nur, löst es aber nicht. Und auch die Regenwälder, denen Landfläche abgetrotzt und Holz abgerungen wird, werden nicht wiederhergestellt. In diesem spezifischen Sinn wird die Natur nicht nur ausgebeutet, sondern über ihre Grenzen und Reproduktionsfähigkeit hinweg überausgebeutet.¹
Diese Überausbeutung findet im Gesamtprozess kapitalistischer Produktion statt. Dessen Zweck ist weder die rationale Aneignung der Natur noch die Produktion von Gütern, die zu einem erfüllten Leben notwendig sind, sondern die beständige Akkumulation von Profiten. In der Praxis der Kapitalistenklassen fallen dabei subjektive Intention der Einzelkapitalisten, möglichst viel Kapital anzuhäufen, und ihre Funktion, als Personifikationen der sozioökonomischen Verhältnisse zu agieren, zusammen. Anders ausgedrückt, dadurch dass Kapitalisten individuell nach wachsenden Profiten streben, reproduzieren sie zugleich auch das Kapital als soziales Verhältnis. Die Konkurrenz unter den Kapitalisten, die Ausdruck ihres gleichzeitigen profitorientierten Handelns ist, gewährleistet, dass sie, sofern sie Kapitalisten bleiben wollen, weiterhin danach trachten, möglichst hohe Profite zu erzielen.
Irreversible Zerstörung
Der für das bürgerliche Naturverhältnis zentrale Aspekt bei der »leidenschaftlichen Jagd auf den Wert« (MEW 23: 168) ist die quantitativ stetig wachsende Einsaugung von Natur in den Produktionsprozess einer ebenso ansteigenden Warenmenge auf Basis der umrissenen despotischen Überausbeutungsbeziehung. In der kapitalistischen Produktionsweise müssen bei Entwicklung der Produktivkräfte beständig mehr Waren produziert werden, um die wachsenden Profite der Kapitalisten zu verkörpern. Dies hat zur Folge, dass das Kapital zunehmend mehr Natur in allen Formen (Stoffe, Ströme, ökologische Systeme, Lebewesen) als Produktionsmittel in den Produktionsprozess einbringen muss und zur Warenproduktion ausbeuten lässt. Der Umfang der Überausbeutung, d. h. die Menge der Natur, die verbraucht und belastet wird, nimmt also mit der Zeit zu. Dasselbe gilt für das Ausmaß, also für die Qualität und die Tiefe des Eingriffs in die Natur bei ihrer Überausbeutung. Etwa in der Tierproduktion geht es heute nicht nur darum, möglichst viele Tiere an einem Ort als Fleischproduzenten zu mästen. Gleichzeitig werden auch die Gene der Tiere manipuliert, so dass sie mehr Fleisch ansetzen. In anderen Fällen kippt der quantitative Eingriff in die Natur in qualitative Veränderungen. Bei diversen Ökosystembeziehungen führt die Überschreitung an den neuralgischen Kippunkten dazu, dass die Systeme irreversibel zerstört werden.
Ein an dieses Problem des »Wachstums« anschließendes und für das gesellschaftliche Naturverhältnis weiteres wesentliches Element im Akkumulationsprozess des Kapitals besteht darin, dass an den Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise beständig neue Prozesse ursprünglicher Akkumulation stattfinden. Mit dem Begriff wird bei Marx zunächst der historische Vorgang bezeichnet, mit dem das Kapitalverhältnis als Fundament der kapitalistischen Produktionsweise in England geschaffen worden ist (ebd.: 741 ff.). Darüber hinaus beschreibt er damit aber auch die bis heute andauernde Ausweitung des Kapitalverhältnisses an den Grenzen der Produktionsweise.
Damit ist auf der einen Seite die Trennung der Produzenten in nichtkapitalistischen Produktionsverhältnissen von ihren Produktionsmitteln gemeint, d. h. die Verwandlung dieser Produzenten in lohnabhängige Arbeiter. Zum anderen werden im selben Prozess Teile der Natur, die bisher noch nicht Eingang in den kapitalistischen Produktionsprozess gefunden haben, als Produktionsmittel für diesen erschlossen. Naturstoffe, -ströme, Ökosysteme und Lebewesen werden aus ihren natürlichen oder nichtkapitalistischen Zusammenhängen gerissen, zum Privateigentum des Kapitals gemacht und als neue Produktionsmittel in die kapitalistische Produktion integriert.
Ursprüngliche Akkumulationen haben heute ökonomische Ursachen, sie werden aber mit Hilfe ziviler und gewaltsamer Mittel von wissenschaftlicher Erkenntnis über staatliche Regelungen bis hin zu staatlich-militärischer Enteignung durchgesetzt. Dies geschieht etwa bei der Vertreibung von Subsistenzbauern von ihrem Grund und Boden. Ein anderes Beispiel ist die Biopiraterie, bei der pflanzliche Gene und indigenes Produktionswissen durch Unternehmen politisch-ökonomisch monopolisiert und rechtlich patentiert werden.
Im Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion wird die Natur zwar maßgeblich im Produktionsprozess des Kapitals angeeignet. Die Zerstörung erstreckt sich aber auch auf die Sphäre der Zirkulation und auf die Produktion und Zirkulation nachgelagerte individuelle Konsumtion der produzierten Waren. Zu den bereits genannten Abstraktionen des Kapitals von der Natur kommt hinzu, dass das Kapital von den Folgen absieht, die Produktion, Zirkulation und individuelle Konsumtion der hergestellten Waren für die Natur als Quelle und Senke (ein Ökosystem, das Kohlenstoffdioxid aufnimmt und speichert, jW) hat – solange die Kapitalakkumulation als solche nicht bedroht ist. Dies zeigt sich etwa an der Vernichtung riesiger Mengen Waren, die noch nutzbar wären, am weiterhin wachsenden Verbrauch von Waren, die ökologisch schädlich sind, und natürlich beim Ausstoß von klimarelevanten Gasen bei der Verbrennung fossiler Energieträger.
Die skizzierte sozialrelationale Eingliederung der Natur in das Kapitalverhältnis ist in letzter Instanz die Ursache für die kapitalistische Naturzerstörung. Sie führt schließlich zu einem »unheilbaren Riß (…) in dem Zusammenhang des gesellschaftlichen und durch die Naturgesetze des Lebens vorgeschriebnen Stoffwechsels« (MEW 25: 821) mit der Natur. Aber sie wird in der realen kapitalistischen Entwicklung von den entsprechenden Denk- und Kulturformen abgesichert und unterstützt. Dies geschieht etwa durch die Reproduktion des Dualismus von Natur und Gesellschaft im Alltagsverstand und in den Wissenschaften, durch die an die Produktionsstruktur angeschlossene Konsumkultur vom motorisierten Individualverkehr über karnivore Lebensweisen bis hin zur Ausbildung von Identitäten über den Besitz von Waren oder die Konsumtion von Waren als Kompensation für unerfüllte Bedürfnisse.
Auch der Staat trägt zum destruktiven Naturverhältnis bei. Er besitzt zwar als ideeller Gesamtkapitalist unter anderem die Funktion, die natürlichen Produktionsbedingungen zu bewahren. Er muss also auch dafür sorgen, dass etwa der Zugang zu ausreichenden Energieträgern vorhanden ist. Aber er tut dies nur, soweit es für den grundlegenden Erhalt der gesellschaftlichen Kohäsion nötig und soweit es komplementär zur sozioökonomischen Überausbeutung der Natur als Teil der Bereitstellung seiner eigenen ökonomischen Grundlage möglich ist. Die Form des Erhalts der natürlichen Produktionsbedingungen ist zudem nicht zwingend an die Reproduktion der Natur gebunden, wie sie ist. Sie kann z. B. auch durch den Zugriff auf Energieträger im Ausland gewährleistet werden oder über die künstliche Reproduktion von Naturstoffen. Über den genauen Grad staatlichen Naturschutzes entscheiden letztlich die historischen Klassenkämpfe um die Durchsetzung der verschiedenen Hegemonieprojekte der Klassenbündnisse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft.
Die »praktische Brüderschaft«
Die Klasse der Kapitalisten verübt in der kapitalistischen Gesellschaftsformation die zuvor umrissene Überausbeutung und Zerstörung der Natur. In der Praxis sind vor allem Teile des industriellen Kapitals hauptverantwortlich. Marx bezeichnet als industrielles Kapital, im Unterschied zum Handels- und zinstragenden Kapital, jene Kapitalisten, deren Lohnarbeiter den Mehrwert schaffen. Zu den Teilen, die die größten Schäden an der Natur anrichten, gehören z. B. die Energie-, Bergbau-, Automobil-, Rüstungs-, Chemie-, Fleisch- und Agrarindustrie. In ihren Produktionsprozessen wird die Natur als Quelle angeeignet und überausgebeutet. In den Kreisläufen des industriellen Kapitalisten und durch die Konsumtion ihrer Waren wird die Natur auch als Senke überbeansprucht. Schließlich verwandelt diese Gruppe industrieller Kapitalisten andere Lebewesen, Naturstoffe und -ströme sowie Ökosysteme, die bislang nicht Teil des Gesamtprozesses kapitalistischer Produktion gewesen sind, in Waren und ihr Privateigentum. Dies geschieht etwa beim Landgrabbing oder bei der Patentierung von Tiergenen.
Die industriellen Kapitalisten handeln allerdings nicht allein. Unter anderem über die Kreditfinanzierung der industriellen Naturausbeutung, die Beteiligung an Industrieunternehmen, den Weiterverkauf naturschädlicher Waren, die Spekulation mit Rohstoffen und unzählige andere Prozesse sind auch Gruppen der beiden anderen großen Kapitalfraktionen, des zinstragenden und des kommerziellen Kapitals, in die Naturzerstörung eingebunden. Großbanken und -händler sind zudem über ihre Produktionsprozesse direkt an der Naturausbeutung beteiligt, beispielsweise über die riesigen Mengen Energie, die ihre Server verbrauchen.
Während Kapitale in unterschiedlichen Branchen und Teilen globaler Wertschöpfungsketten in unterschiedlichem Maße für die Naturausbeutung verantwortlich sind, besitzen die Kapitalisten der verschiedenen Fraktionen ein Gesamtinteresse nicht nur an der Ausbeutung der Arbeiterklasse, sondern auch an der Überausbeutung der Natur. Dies rührt zum einen daher, dass die Höhe der Profitraten jedes Einzelkapitals infolge des allgemeinen Ausgleichs zu einer Durchschnittsprofitrate von der möglichst effizienten und wachsenden Ausbeutung von Arbeit und Natur insgesamt bestimmt wird. Vor diesem Hintergrund begünstigen zum anderen auch Maßnahmen zur Senkung der organischen Zusammensetzung des Kapitals und zur Vermeidung von Krisen, etwa die Inwertsetzung zusätzlicher Naturstoffe und -ströme, alle Kapitalisten, wenn auch nicht immer alle in gleichem Maße. Daher ist vom Standpunkt der gesamten Kapitalistenklasse eine möglichst kostengünstige Überausbeutung der Natur im Produktionsprozess und an den Grenzen der Produktionsweise zulässig und notwendig. Es ist also nicht zuviel gesagt, wenn man die Kapitalistenklasse in Anlehnung an Marx als eine »praktische Brüderschaft« (MEW 25: 263) beziehungsweise als »wahren Freimaurerbund« (ebd.: 208) nicht nur gegenüber der Arbeiterklasse, sondern auch gegenüber der Natur bezeichnet.
Eine Frage der Hegemonie
Die Verantwortlichkeit für die Naturzerstörung beschränkt sich aber nicht nur auf die sozioökonomischen Kerngruppen der herrschenden Klasse. Die Klassen erstrecken sich in der Gesellschaft ausgehend von der Ökonomie über die Politik auf alle Felder der Gesellschaft. Innerhalb des bürgerlichen Hegemonieprojekts sind sich dessen Trägerklassen ökonomisch, politisch und ideologisch-kulturell unter anderem einig über das Privateigentum an Produktionsmitteln, inklusive der Natur, den bürgerlichen Staat mit repräsentativer Demokratie als politischer Herrschaftsform und spezifische Ideologien, wie z. B. individualistisch verstandene »Freiheit«. Aber auf dieser Grundlage ringen verschiedene Bündnisse von Klassenfraktionen um die konkrete Ausgestaltung der sozialen Entwicklung. Diese konkurrierenden Hegemonieprojekte innerhalb des bürgerlichen Blocks und ihre Repräsentanten in der Zivilgesellschaft und im Staat tragen ebenfalls Verantwortung für die lange sozialökologische Krise der kapitalistischen Gesellschaftsformation.
Zu den Hegemonieprojekten zählen Wissenschaftler ebenso wie Journalisten, Kulturschaffende und nicht zuletzt Politiker. Der Grad ihrer Verantwortung richtet sich nach ihrer jeweiligen konkreten Praxis auf dem Feld des gesellschaftlichen Naturverhältnisses in Politik, Wissenschaft, Kultur, Medien usw. Politiker etwa, die die Automobil- und Rüstungsindustrie finanziell fördern lassen, oder Journalisten, die die Klimakrise systematisch bagatellisieren, sind offenkundig stärker in Verantwortung als jene, die dem Klimakeynesianismus das Wort reden. Allerdings haben Ökomodernisten mittlerweile über Jahrzehnte dafür gesorgt, dass die Anstrengungen für eine reale Lösung der sozialökologischen Krise durch Pseudoaktivismus, der dem kapitalistischen Wachstum zuträglich ist, ersetzt worden sind. Insofern tragen sie durchaus Verantwortung.
Klassenfraktionen
Die im metropolitanen Westen zentralen Klassenbündnisse unter Führung herrschender Klassenfraktionen, die jeweils auch Teile subalterner Klassenfraktionen und sozialer Gruppen eingebunden haben, sind das ökomodernistisch-liberale und das antiökologisch-reaktionäre. Beide untergliedern sich wiederum in mindestens zwei Lager. Das ökomodernistische Hegemonieprojekt innerhalb des bürgerlichen Blocks z. B. hat einen »linken« Flügel, der eher ökokeynesianistisch und stärker auf die soziale Integration von Subalternen orientiert ist, und einen »rechten«, der geradeheraus grünliberal ist und in »grünen« Produktivkräften, Märkten und Waren sein Heil sucht. Das reaktionäre Spektrum reicht von den Konservativen, die Profite etwa aus erneuerbaren Energieträgern als Komplement zur fossilen Energieproduktion mitnehmen wollen, bis ins fossilistisch-faschistische Lager. Beiden sozialen Projekten ist gemein, dass sie die Grundpfeiler bürgerlicher Naturzerstörung nicht in Frage stellen und in letzter Instanz auch keine Lösung der sozialökologischen Krise verfolgen. Vielmehr geht es ihnen darum, die kapitalistische Entwicklung voranzutreiben.
Sie unterscheiden sich allerdings darin, wie dies geschehen soll und welche Rolle dabei die Gestaltung des Verhältnisses der bürgerlichen Gesellschaft zur Natur spielt. Das ökomodernistische Projekt erkennt sozialökologische Probleme an. Es orientiert aber im Kern zum einen darauf, die Erhaltung der ökologischen Produktionsbedingungen, die Adaption an die Folgen der sozialökologischen Krise und den Schutz vor weiteren ökologischen Problemen zu Feldern der Kapitalakkumulation zu machen. Zum anderen sollen fossilistische und andere naturschädigende Produktionsinfrastrukturen mittelfristig an relativer Bedeutung verlieren, aber nicht zwingend abgeschafft werden.
Das antiökologisch-reaktionäre Projekt optiert hingegen dafür, die Überausbeutung der Natur als Teil des »Business as usual« unverhohlen gutzuheißen und zu intensivieren. Soweit noch ein Verständnis für sozialökologische Probleme besteht, ist eine Kombination aus radikalisierter Naturbeherrschung wie Geoengineering und neomalthusianischer Bevölkerungspolitik das Mittel der Wahl. Die Bewältigung der Folgen sozialökologischer Destruktionen wird privatisiert – Stichwort Externalisierung der ökologischen Kosten –, solange sie nicht die Kreisläufe führender Kapitale beeinträchtigt, und durch autoritäre staatliche Politik ergänzt. Was das bedeutet, kann man bei und nach jedem Extremwetterereignis oder auch im utilitaristischen Umgang mit Menschen, die infolge ökologischer Verwüstungen auf der Flucht sind, überall auf der Welt bereits heute sehen.
Anmerkung
1 Die Form der naturspezifischen Überausbeutung unterscheidet sich von der Überausbeutung menschlicher Lohnarbeiter. Letztere besteht darin, dass entweder zu wenig Lohn bezahlt wird, um die eigene Arbeitskraft zu reproduzieren, oder der Arbeitsprozess derart gestaltet wird, dass die Reproduktion der Arbeitskraft nicht mehr möglich ist. Um klar abgrenzbare Begriffe von Ausbeutung und Überausbeutung zu haben, müssen diese Differenzen berücksichtigt werden.
Christian Stache: System Update oder System Change? Glanz und Elend des Ökosozialismus. Papyrossa-Verlag, Köln 2025, 334 Seiten, 24 Euro
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (23. Juli 2025 um 09:13 Uhr)Googelt man nach »Überausbeutung«, landet man sofort bei den üblichen Verdächtigen: Rosa-Luxemburg-Stiftung (Partei Die Linke) und Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Also dort wo Marx »weiterentwickelt« und »erneuert« wird. Gibt man in einem Medium, das sich diesem revisionistischen Trend nicht anschließt, wie zum Beispiel der Kommunistischen Arbeiterzeitung, in der Suchfunktion »Überausbeutung« ein, erhält man als Ergebnis: 0 Suchergebnisse für Überausbeutung. Nicht nur Marx, auch die Ausbeuter (-innen) kennen keine Überausbeutung: »Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.«
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (21. Juli 2025 um 13:30 Uhr)Die Analyse folgt einer konsequent materialistisch-marxistischen Ideologiekritik: Die Umweltkrise ist nicht durch individuelles Fehlverhalten oder technische Defizite bedingt, sondern Ausdruck eines gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisses. Das bürgerliche Denken – vom liberalen Konsumismus bis zur grün lackierten Modernisierung – wird dabei als ideologischer Überbau einer destruktiven Produktionsweise entlarvt. Eine Lösung könne, so Stache, nur in einer radikalen Überwindung des Kapitalismus – hin zu einem ökologischen Kommunismus – bestehen. Kritikpunkt (meta-ideologisch): Der Text weist eine klare Systemopposition auf, was seine analytische Schärfe erhöht, aber auch zur Tendenz führt, komplexe gesellschaftliche Prozesse monokausal auf das Kapitalverhältnis zurückzuführen. Pluralere Perspektiven (z. B. postkoloniale, feministische, indigene Naturverhältnisse) bleiben unterbelichtet. Auch die Fähigkeit zur Selbsttransformation innerhalb kapitalistischer Systeme (z. B. durch soziale Bewegungen, rechtliche Fortschritte) wird eher gering eingeschätzt. Dennoch ist der Text ein wichtiger Beitrag zur ideologiekritischen Ökologie-Debatte und stellt eine radikale Infragestellung bestehender Verhältnisse dar – mit klar antikapitalistischer Stoßrichtung.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (20. Juli 2025 um 20:34 Uhr)Ersetzt auf der Linken das Wörtchen »Überausbeutung der Natur« den inflationären Gebrauch von »Nachhaltigkeit« bei den Ökos? Zum Verständnis, was »Überausbeutung der Natur« sein soll, hat mir der Artikel nicht geholfen. Ein Artikel von Isaac Asimov im Spiegel 21 vom 16.05.1971 (inzwischen hier nachlesbar: https://www.spiegel.de/politik/die-gute-erde-stirbt-a-90fc0b9b-0002-0001-0000-000043231120) trägt mehr zum Verständnis des Sachverhalts bei (manche Leute hören das ungern, ich weiß): »Jedes zusätzliche Kilogramm Menschheit bedeutet mit absoluter Zwangsläufigkeit ein Kilogramm nicht-menschlichen tierischen Lebens weniger.« An dieser knallharten Aussage muss man sich abarbeiten. Mir ist kein Gegenargument eingefallen, ein politisches schon garnicht. Meine Empfehlung: »Die gute Erde stirbt« ganz lesen! Da sind allerhand Gedankengänge drin, die des Nachdenkens wert sind.
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Leserbrief von Paul Dessau (22. Juli 2025 um 10:24 Uhr)Was hier mit »Überausbeutung der Natur« gemeint ist, steht ausdrücklich da: Das Kapital und sein Staat sorgen nicht (!) dafür, »dass die Natur, so wie sie in den Produktionsprozess eingeht, auch wiederhergestellt werden könnte. Dass Kapitalisten über die Naturstoffe, -ströme und Lebewesen verfügen können, wie es ihnen beliebt, d. h. despotisch, zeigt sich vielerorts konkret: Im Schlachtprozess wird Tieren ihr Leben genommen. Durch die Nutzung der kultivierbaren Böden werden selbige zusehends ausgelaugt – Düngung verschiebt das Problem nur, löst es aber nicht. Und auch die Regenwälder, denen Landfläche abgetrotzt und Holz abgerungen wird, werden nicht wiederhergestellt. In diesem spezifischen Sinn wird die Natur nicht nur ausgebeutet, sondern über ihre Grenzen und Reproduktionsfähigkeit hinweg überausgebeutet.« Was schlicht heißt, dass die kapitalistische Produktionsweise auf lange Sicht ihre eigenen Grundlagen zerstört, die Erde und den Arbeiter. Das ist offensichtlich etwas anderes als die bloße Verdrängung bestimmter Tierarten durch eine dominante Art (den Menschen).
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