Kein Zufallsprodukt
Von Volker Hermsdorf
Parlamentsdebatten sind üblicherweise kein Ereignis, das Menschen von Stühlen reißt. Das ist auch in Kuba nicht anders. Bemerkenswert an der am Freitag in Havanna beendeten letzten Plenarsitzung vor der Sommerpause war jedoch, dass Regierungsvertreter nicht wie in westlichen Ländern versuchten, die wirtschaftliche Lage schönzureden. Erfrischend anders als dort war auch, dass Regierung und Parlament gemeinsam nach Lösungen suchten, die die Folgen der multiplen Krise nicht auf den ärmeren Teil der Bevölkerung abwälzen. Und – ebenfalls anders als im Westen – ist Kuba nicht durch Verhängung von Sanktionen gegenüber ehemaligen Partnern selbst Verursacher seiner ökonomischen Probleme, sondern Opfer derartiger Maßnahmen und der seit über 60 Jahren gegen das Land verhängten US-Blockade.
Trotz der ernsten Lage zeigten die Debatten in der Nationalversammlung ein selbstbewusstes Parlament, das sich den harten Realitäten stellte und gleichzeitig versuchte, soziale Gerechtigkeit zu bewahren. Die rund einwöchigen Diskussionen standen vor allem im Zeichen der Bewältigung wirtschaftlicher Probleme, sozialer Reformen und einer Stärkung der institutionellen Ordnung Kubas. Dabei blieb der Schutz der verletzlichsten Bevölkerungsschichten – insbesondere der Rentner, Kinder und Jugendlichen – ein zentrales Anliegen. Wirtschaftsminister Joaquín Alonso Vázquez und Premierminister Manuel Marrero beschrieben ungeschminkt die teils desaströse wirtschaftliche Lage des Landes, analysierten Ursachen dafür und räumten auch eigene Fehler von Regierung und Verwaltung ein.
Immerhin gab es auch positive Meldungen. So wird für das zweite Halbjahr mit einer schrittweisen Erholung im biopharmazeutischen Sektor gerechnet. Und wie Marrero mitteilte, hat das staatliche Telekommunikationsunternehmen ETECSA – nach einer umstrittenen und im Juni 2025 umgesetzten erheblichen Erhöhung der Preise für mobiles Internet – seine Deviseneinnahmen signifikant steigern können. Seit Inkrafttreten der neuen Tarife beläuft sich das tägliche Plus auf durchschnittlich 540.000 US-Dollar – ein deutlicher Anstieg gegenüber den 10.000 US-Dollar, die vor der Umstellung täglich eingenommen wurden. Willkommenes Geld, das für Reparatur und Wartung maroder Netze, die Umstellung auf erneuerbare Energien und den Import lebensnotwendiger Güter dringend benötigt wird. Marrero kündigte für September zudem umfassende Änderungen in der Währungspolitik an. Ziel sei eine stärkere Kontrolle des Devisenflusses und eine Stabilisierung der makroökonomischen Lage. Zur Strategie gehören unter anderem die Einführung eines flexiblen Wechselkurses und eine gezielte Teil-Dollarisierung.
Zur Abmilderung sozialer Schieflagen beschloss das Parlament, die Renten für über 1,3 Millionen Ältere ab 1. September anzuheben. Für 438.572 Bezieher der Mindestrente werden die Bezüge verdoppelt, wofür der Staat umgerechnet rund 52 Millionen Euro aufwendet. Zum Abschluss der Debatten verabschiedeten die Abgeordneten darüber hinaus vier neue Gesetze, darunter ein neues Regelwerk für Kinder, Jugendliche und Heranwachsende. Es ersetzt den bisherigen Kodex von 1978 und stärkt die Rechte auf Bildung, Gesundheit und Schutz vor Gewalt. Das ebenfalls gebilligte erste kubanische Sportgesetz definiert Rechte und Pflichten im nationalen Sportsystem und enthält ein Diskriminierungsverbot. Als bahnbrechend gilt ein neues Gesetz zum Zivilstandsregister, das erstmals in Kuba die Möglichkeit schafft, das Geschlecht auf persönlichen Antrag – ohne vorherige Operation oder gerichtliche Anordnung – zu ändern. Kuba gehört damit zu einer kleinen Gruppe von Ländern, die die geschlechtliche Selbstbestimmung gesetzlich verankern. Einstimmig beschlossen die Parlamentarier außerdem, die bisherige Altersgrenze von 60 Jahren für die erstmalige Kandidatur zum Amt des Präsidenten der Republik aufzuheben. Damit reagiere man auf den demographischen Wandel und die Erkenntnis, dass die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit älterer Kandidaten nicht an einem festen Alterslimit gemessen werden dürfe, so Parlamentspräsident Esteban Lazo.
»Wenn man alle Phasen der 66 Jahre seit dem Sieg der Revolution betrachtet, findet man neben Erfolgen auch Probleme«, fasste Präsident Miguel Díaz-Canel die Debatten in seiner Abschlussrede zusammen. Es sei »nicht das erste und wird auch nicht das letzte Mal sein, dass sich die Kubanische Revolution ihrem ›schwierigsten Moment‹ gegenübersieht – auch wenn es uns immer so vorkommt, als könne nichts schlimmer sein als das, was wir gerade in diesem Moment erleben«, sagte er. Wenn diese Revolution trotz alledem aufrecht stehe, dann wegen ihres echten und authentischen Wesens. »Wir sind kein Zufallsprodukt der Geschichte«, erklärte Díaz-Canel im Hinblick auf den Nationalfeiertag am kommenden Sonnabend. »Wir sind die logische Konsequenz einer Geschichte des Widerstands und der Rebellion gegen Abhängigkeit und Ungerechtigkeit.«
Hintergrund: Durchhaltewillen
Am 26. Juli feiert Kuba seinen Nationalfeiertag, den »Día de la Rebeldía Nacional«. Zentraler Veranstaltungsort der diesjährigen Feiern ist der Platz der Revolution Máximo Gómez in Ciego de Ávila. In den frühen Morgenstunden werden dort rund 10.000 Menschen erwartet, um an den Angriff auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba und auf die Kaserne Carlos Manuel de Céspedes in Bayamo am 26. Juli 1953 zu erinnern.
Obwohl die von Fidel Castro angeführte Aktion damals militärisch scheiterte, gilt sie als Startsignal der kubanischen Revolution, die am 1. Januar 1959 mit dem Sturz des von den USA abhängigen Batista-Regimes ihren Sieg errang. Seitdem wird der 26. Juli in Kuba jährlich als »Tag der Nationalen Erhebung« mit einem zentralen Festakt sowie Veranstaltungen und Feiern im ganzen Land begangen, heute auch als Zeichen des Durchhaltewillens in schwierigen Zeiten.
In seiner Rede zum Abschluss der aktuellen Sitzungsperiode des Parlaments warnte Präsident Miguel Díaz-Canel am Freitag davor, dass die USA weiterhin versuchen, den kubanischen revolutionären Prozess und das, wofür er steht, zu zerstören. Doch »Kapitulation war nie eine Option«, erklärte er. Trotz Blockade, Wirtschaftskrise und imperialistischem Druck verteidige das kubanische Volk unbeirrt seine Revolution. »Kuba will nie wieder Sklave sein«, so der Staatschef.
Auch außerhalb Kubas wird der 26. Juli als Tag des Widerstands gefeiert. In Berlin laden »Cuba Sí« und andere Solidaritätsorganisationen am kommenden Sonnabend von 14 bis 22 Uhr in die Parkaue in Lichtenberg ein. Zahlreiche Informationsstände, ein Kulturprogramm und politische Diskussionen stehen dort im Zeichen der Solidarität mit dem Volk Kubas. Auch in anderen Städten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz finden Feiern und Veranstaltungen zum »Día de la Rebeldía Nacional« statt. (vh)
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