Rache des Kapitals
Von Gerrit Hoekman
Am 22. Juli 1950 kehrte König Leopold III. aus dem Exil in der Schweiz in seine Heimat Belgien zurück. In einer Volksabstimmung am 12. März 1950 hatten sich 58 Prozent der Wahlberechtigten für die Rückkehr ausgesprochen. Die knappe Mehrheit machte deutlich, wie zerstritten Belgien damals war. Die Flamen waren entschieden für Leopold, die Wallonen mehrheitlich gegen ihn. Vor allem Kommunisten, Sozialisten und Liberale wollten ihn nicht mehr ins Land lassen. Manche Historiker behaupten, Belgien habe damals am Rande eines Bürgerkriegs gestanden.
Leopold war durch seine Rolle während der deutschen Besetzung in Misskredit geraten. Nach dem Angriff der Wehrmacht am 10. Mai 1940 auf das neutrale Belgien hatte der König als Oberster Befehlshaber nach 18 Tagen militärischen Widerstands »die belgische Armee im Alleingang zur Kapitulation« gezwungen, so das flämische Wochenblatt Knack am 10. März 2025. Der Regent überschritt damit seine verfassungsmäßigen Befugnisse. Die gewählte Regierung von Premierminister Hubert Pierlot war ausdrücklich gegen die Kapitulation.
Pierlot forderte mit Unterstützung des Parlaments den König auf, ins Exil zu gehen. Aber der Monarch widersetzte sich der Aufforderung und blieb in Belgien, was er laut Verfassung nicht durfte. Er vermied sogar ein eindeutiges Bekenntnis zu den Westalliierten, weil er sich der Illusion hingab, einen Frieden zwischen ihnen und Nazideutschland vermitteln zu können. Frankreich und Großbritannien wiesen jedoch sein Angebot brüsk zurück und die Deutschen stellten ihn in seiner Residenz Schloss Laeken unter Hausarrest. Leopold bezeichnete sich fortan als »Kriegsgefangener«. Als die Westalliierten nach der Landung in der Normandie 1944 immer näher rückten, brachten die Nazis den König und seine Familie zunächst nach Schloss Hirschstein in Sachsen und später ins österreichische Strobl am Wolfgangsee.
Nach der Befreiung Brüssels durch die Westalliierten am 3. September 1944 setzte das aus dem Exil nach Belgien zurückgekehrte Parlament Leopolds Bruder Karl als Regenten ein. Leopold ließ sich mit seiner Frau in der Schweiz nieder, wollte aber keineswegs auf den Thron verzichten. Die belgischen Konservativen, allen voran die Christdemokraten, die im Parlament die absolute Mehrheit hatten, bestärkten ihn. Ungeachtet der aufgeheizten Stimmung im Land betrat Leopold am 22. Juli wieder belgischen Boden.
Widerstand gegen den König
Vor allem in der Wallonie regte sich umgehend Widerstand. »In den Industriestädten kam es zu gewalttätigen Protesten, die einem Aufstand nahekamen. Eine große Zahl von Menschen beteiligte sich am Streik, und täglich kam es zu Demonstrationen«, rief Solidair, die digitale Parteizeitung der marxistischen PVDA-PTB, am 17. Juli 2020 die Stimmung jener Zeit in Erinnerung.
Am Sonntag, dem 30. Juli, versammelten sich rund 600 Menschen in der Bergbaugemeinde Grâce-Berleur vor den Toren von Liége. Sie wollten Simon Pâque hören, den sozialistischen Abgeordneten im Parlament der Provinz Liége. Vom Balkon des Cafés La Boule Rouge informierte er die kleine Menge über die aktuelle Situation. Nach der Rede kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die das in der gesamten Provinz verhängte Versammlungsverbot durchsetzen wollte. Als die bewaffneten Polizisten eintrafen, appellierte Pâque an die Menge, ruhig zu bleiben und nach Hause zu gehen. Viele folgten seinem Rat.
Eine Gruppe verharrte jedoch auf dem Platz. Am Ende lagen drei ehemalige Mitglieder der belgischen Résistance erschossen am Boden. Ein vierter Mann erlag sechs Tage später im Krankenhaus seinen Verletzungen. An der Beerdigung der drei Widerstandskämpfer nahmen am 2. August mehr als 100.000 Menschen teil. Am Kopf des kilometerlangen Trauerzugs wehte die rote Fahne und die der Wallonie. In Grâce-Berleur erinnert ein Monument an die vier Toten Albert Houbrechts, Henri Vervaeren, Pierre Cerepana und Joseph Thomas.
Für den 1. August kündigten die Gegner Leopolds einen großen Marsch auf Brüssel an. Gewerkschaftsführer drohten, den königlichen Palast in Brand zu stecken. Die Regierung drängte Leopold, zugunsten seines ältesten Sohns Baudouin auf den Thron zu verzichten. Erst im letzten Moment willigte er ein. Am 11. August legte Kronprinz Baudouin vor dem belgischen Parlament in Brüssel den Amtseid ab. Leopold dankte allerdings erst am 16. Juli 1951 endgültig ab.
Im Kalten Krieg
Während Baudouins Vereidigung rief jemand laut »Vive la République!«. Angeblich soll es Julien Lahaut gewesen sein, der populäre Anführer der Kommunistischen Partei Belgiens (CPB-PCB). Bis heute bestehen große Zweifel, ob es seine Stimme ist, die auf Tonaufnahmen zu hören ist. Sieben Tage später wurde Lahaut vor seinem Hause in Seraing von zwei Männern ermordet. Sein Tod führte erneut zu landesweiten Streiks. Die Beisetzung wurde zu einer der größten Demonstrationen in der belgischen Geschichte, an der bis zu 300.000 Menschen teilgenommen haben sollen.
Lange war unklar, wer Lahauts Mörder waren. Es wurden empörte Royalisten hinter dem Attentat vermutet. Verurteilt wurde aber niemand und nach 20 Jahren wurde der Mord wegen Verjährung ad acta gelegt. »Entgegen der lange gehegten Ansicht fügt sich Lahauts Ermordung perfekt in den Kontext des Kalten Krieges und des antikommunistischen Klimas der damaligen Zeit ein«, bezog sich Solidair am 1. Juni 2015 auf eine damals aktuelle Archivrecherche.
1950 stand die Welt am Beginn des Kalten Kriegs. In ganz Europa genossen kommunistische Parteien enorme Popularität und großen Zulauf. Die CPB hatte zu dem Zeitpunkt 87.000 Mitglieder. In Seraing war sie die stärkste Partei. Die Menschen rechneten ihr den Mut im Widerstand gegen die Nazis hoch an. Auch die Sowjetunion war nach dem Weltkrieg sehr beliebt.
Auftragsmord?
Das konnte den Kapitalisten nicht gefallen. In Belgien wurde ein gewisser André Moyen von der Spionageabwehr als Agent angeworben. Er war ein glühender Anhänger von König Leopold und fanatischer Antikommunist. Mit Geld, das er aus der Wirtschaft und von der Regierung erhielt, baute er das Netzwerk Belgischer Antikommunistischer Block (BACB) auf, dem ehemalige konservative und königstreue Widerstandskämpfer angehörten. Sie unterhielten gute Kontakte zur Kriminalpolizei in Liége, Brüssel und Antwerpen, die ihnen offenbar dabei halfen, Kommunisten aufzuspüren.
In den Archiven finden sich Hinweise, dass Mayon den Mord an Julien Lahaut in Auftrag gab. Die Identität der vier Täter kam zu Lebzeiten nie ans Licht, obwohl die Polizei, vermutlich auch Premierminister Pholien und Innenminister De Vleeschauwer, sie angeblich kannten. »Lahauts Mörder hofften, mit ihrer Tat eine gewalttätige Reaktion der Kommunisten zu provozieren, die den Staat dazu zwingen würde, sie außerhalb des Gesetzes zu stellen«, schreibt Solidair im Juni 2015. Das Ziel war letztendlich, die CPB bedeutungslos zu machen.
Späte Rache
»Eine wichtige Entdeckung der Historiker ist, dass André Moyens Netzwerk von der Elite der belgischen Kapitalisten gesponsert wurde«, so Solidair. Zum Beispiel durch die Bank Société Générale, an deren Tropf damals ein Drittel der belgischen Wirtschaft hing, »Wir wissen heute, dass die BACB damals von der SG, ihrer kongolesischen Tochtergesellschaft Union Minière (heute Umicore) und der Holding Brufina, dem Finanzarm der Bank von Brüssel (heute ING), gesponsert wurde.« Die Geldgeber erhielten im Gegenzug Namenslisten der Kommunisten in ihren Unternehmen.
Lahaut hatte 1941 in Liége den sogenannten »Streik der 100.000« angeführt und nach 21 Tagen Arbeitskampf eine Lohnerhöhung von acht Prozent ausgehandelt. Es heißt, Hitler habe getobt, weil er den Stahl aus der Wallonie dringend für die deutsche Rüstung benötigte. Im Laufe des Sommers wurde Lahaut von den Nazis verhaftet, kam zunächst ins Konzentrationslager Neuengamme, später nach Mauthausen. 1944 wurde er zum Tode verurteilt, er überlebte aber die Naziherrschaft. Von Antikommunisten hingerichtet wurde er erst am 18. August 1950.
75 für 75
Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- imago/ZUMA Press08.06.2022
»Bienenkorb« abgerissen
- PapyRossa31.08.2015
Hommage an stille Helden
- wikimedia.org/Commons/Bundesarchiv17.01.2015
Der letzte Coup
Regio:
Mehr aus: Geschichte
-
Anno...30. Woche
vom 19.07.2025